Casting Director Iris Baumüller: Fälle wie Harvey Weinstein gibt es auch in Deutschland
Die Casting Director Iris Baumüller hat 30 Jahre Erfahrung in der Filmbranche. Mit der DW spricht sie über sexuelle Belästigung in der deutschen Film- und Theaterszene – und wie man sie in Zukunft bekämpfen kann.
Der Bundesverband Casting (BVC) hat in einem öffentlichen Statement mit dem Titel „Sexuelle Übergriffe und (Macht-)Missbrauch sind ein trauriger Bestandteil unseres täglichen Lebens!“ alle Betroffenen der Film- und Theaterbranche aufgefordert, in einen Dialog über das Thema zu treten. Iris Baumüller (Artikelbild) ist Mitglied im BVC und im International Casting Directors Network. Sie hat vor 18 Jahren ihr eigenes Castingbüro gegründet und arbeitet als freie Dozentin an der Internationalen Filmschule und der Filmacting School Cologne.
Deutsche Welle: Im Statement des BVC ist häufig von ‚Wir‘ die Rede. Ist das eine Soldaritätsbekundung, oder sind Castingdirektoren auch von sexueller Belästigung betroffen?
Iris Baumüller: Beides. Wir sind ja alle einen langen Weg gegangen, um Castingdirektoren zu werden. Wir alle haben vorher am Set oder am Theater gearbeitet und sind mit dem Thema in Berührung gekommen oder waren selbst betroffen. Aber auch in unserer jetzigen Position sind wir vor Belästigungen nicht gefeit, denn wir sind zu 80% Frauen. Deshalb sitzen wir alle im selben Boot.
Der Skandal um Harvey Weinstein und jetzt auch James Toback nimmt immer größere Ausmaße an. Ist es in Deutschland auch so schlimm?
Es ist so schlimm. Auch wenn hier in Deutschland nicht die Machtstrukturen vorhanden sind wie in den USA, wo es die großen Studiobosse gibt, ändert es nichts an der Tatsache, dass Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und körperlicher Missbrauch auch in Deutschland an der Tagesordnung sind. Sowohl im Film als auch im Theater, leider auch an den Schauspielschulen.
Sind Sie als Castingdirektorin da manchmal auch als Kummerkasten gefragt?
Ja, ganz sicher. Weil wir mit den Schauspielern so eng zusammenarbeiten, mit ihnen Rollen besprechen und Castings oft sehr intensiv sind. Da bekommt man einfach sehr viel mit, auch von den Problemen, die Schauspielerinnen im Leben haben.
Was zum Beispiel?
Es gibt zum Beispiel Inszenierungen, in denen zwei Schauspieler im Casting eine intensive Liebesszene spielen sollen, wo man vorher genau bespricht, wie weit wollt ihr gehen, möchtet ihr euch küssen, möchtet ihr euch anfassen. Und das, was da im Casting gilt, muss natürlich hinterher auch am Set gelten. Und da gibt es häufig Probleme. In den USA werden Liebes- und Sexszenen durchchoreografiert wie Stunts, das ist in Deutschland anders. Da heißt es oft: „Lasst mal laufen!“ Und das geht gar nicht. Denn die Schauspieler haben den Ehrenkodex, vor laufender Kamera nicht zu unterbrechen, egal, wie sie sich dabei fühlen. Wir müssen solche Szenen auch in Deutschland genau durchchoreografieren.
Aber generell gibt es am Set und auch im Theater sehr viele Grenzüberschreitungen, weil das ein sehr intimes Zusammenarbeiten ist. Und da sind nicht nur die Schauspieler Opfer: Ich habe zum Beispiel selbst am Set erlebt, wie ein Schauspieler einer Kostümassistentin zwischen die Beine gefasst hat. Es ist sehr wichtig, dass jeder vor seiner eigenen Tür kehrt und sein eigenes Verhalten hinterfragt.
Der BVC spricht in seinem Aufruf, miteinander zu reden, auch explizit Männer an. Bisher haben sich kaum männliche Opfer in der Öffentlichkeit geäußert. Sind sie so stark in der Unterzahl, oder was ist der Grund dafür?
Bei den Männern ist die Dunkelziffer vielleicht noch größer. Ich habe mehrfach mit jungen Schauspielern gesprochen, die mir erzählt haben, dass sie sexuell belästigt oder gar missbrauchtworden sind. Aber die haben es vielleicht noch schwerer, sich zu outen, weil sie Angst haben, dass ihnen sofort unterstellt wird, sie seien homosexuell. Dadurch könnten für sie schnell heterosexuelle oder sehr männliche Rollen wegfallen.
Ähnliches gilt für Schauspielerinnen, die sich unter dem Hashtag „MeToo“ bekennen: Natürlich hat das nicht nur Folgen auf privater Ebene, sondern auch auf der Besetzungsebene. Und wenn es nur heißt: „Sie hat sexuelle Übergriffe erlebt, können wir sie überhaupt für eine Rolle besetzen, bei der es vielleicht genau um so ein Thema geht, oder ist sie dafür zu nah dran?“ Das muss dann gar nicht böse gemeint sein, aber so ein Bekenntnis kann einfach sehr weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen.
Dann können Sie es nachvollziehen, dass derzeit viele Schauspielagenturen ihren Klientinnen und Klienten davon abraten, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ja. Viele Schauspielagentinnen und -agenten haben eine fast elterliche Beziehung zu ihren Schützlingen, sie sind sehr eng mit ihnen verbunden. Und sie raten ihnen, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, weil es eben eine riesige Welle auslöst, der- oder diejenige vermutlich auf Jahre hinaus damit konfrontiert werden wird und sich gar nicht mehr um seine oder ihre eigentliche Arbeit kümmern kann. Eine Therapie ist da sicherlich sinnvoller.
Im Fall James Toback haben sich mittlerweile knapp 250 Frauen gemeldet, bei Harvey Weinstein sind es etwa 50. Das Verhalten dieser Männer galt in Branchenkreisen als offenes Geheimnis. Gibt es solche Fälle auch in Deutschland?
Ja, die gibt es.
Was können Sie tun, damit sich etwas ändert?
Wir schließen uns mit anderen Verbänden wie dem BFFS (Bundesverband Schauspiel Bühne Fernsehen Sprache, Anmerkung der Redaktion), dem Produzentenverband und dem Regieverband zusammen, um Aufklärungsarbeit an den Schauspielschulen zu betreiben und den jungen Leuten klar zu machen: Glaubt bitte nicht, dass Besetzungen daraus entstehen, wenn ihr euch sexuell ausbeuten lasst. Glaubt niemandem, der euch sowas verspricht. Und selbst, wenn daraus eine Besetzung entsteht, dann ist das doch nicht automatisch ein Sprungbrett für die Zukunft.
Warum kommt der Aufruf des BVC erst jetzt und nicht schon viel früher?
Viele von uns haben sich schon vor Weinstein und abseits der Öffentlichkeit engagiert. Aber jetzt, wo sich so viele gemeldet haben, wo der Stein ins Rollen gebracht wurde, ist es der richtige Zeitpunkt, deutlich zu sagen: „Stopp! Wir sind da, wir gucken nicht mehr weg.“ Und alleine das bringt ja schon so viel. Dass die, die Missbrauch betreiben, wissen: Wir haben euch im Blick.
Das Interview führte Katharina Abel und wurde zuerst bei der Deutschen Welle unter http://www.dw.com/de/iris-baum%C3%BCller-f%C3%A4lle-wie-harvey-weinstein-gibt-es-auch-in-deutschland/a-41120682 veröffentlicht.
Sehr wichtiges Interview! Danke Iris Baumüller. Wie viel Kreativität wird verhindert durch die sexistischen Strukturen – nicht nur in unserer Branche. Wieviel Energie geht weg durch das Abwägen: „Sage ich jetzt etwas, oder störe ich den „flow“ lieber nicht und schlucke (auch verbale) Übergriffe.“
Der männlich-heterosexuelle Diskurs, der auch von vielen Frauen übernommen wird, reicht aber nicht aus, die Macht über die Körper zu beschreiben. Als schwuler Mann fand ich es quälend, aus den Vorgaben der „sexuellen Befreiung“ in den 70ern meinen Weg zu finden. Und ich hatte immer wieder Frauen an meiner Seite, die das mit ihrer „Befreiung“ ähnlich schwierig fanden. Und Männer auch. Der Respekt vor dem anderen Begehren ist wenig ausgeprägt und oft überlagert von patriarchalischen Traditionen, die strukturell weitervererbt werden. Der Feind ist innen und außen, männlich und weiblich, es ist kompliziert. Aber ich bin froh, dass das jetzt diskutiert wird.