Wie vielfältig ist der Deutsche Film? Eine Umfrage zur Diversität

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Der Apachen-Häuptling ist Franzose, die amerikanischen Ureinwohner sind Statisten aus Kroatien. „Winnetou“-Fans mögen da nostalgisch werden, doch auf heutige Zuschauer dürfte das „Whitewashing“ komisch wirken. Praktiziert wird es dennoch. Und dies ist nur ein Aspekt im vielfältigen Thema „Diversität“. | Foto © Kinowelt

Deutschland ist anders als noch vor 20 Jahren. Doch in Kino und Fernsehen ist der Wandel noch nicht angekommen. Statt Diversität toben weiter die Klischees aus alten Zeiten – vor und hinter der Kameralinie. Die Studie „Vielfalt im Film“ will nun erstmals Zahlen dazu ermitteln.

Wenn Sendern die Zuschauer ausgehen, aber Streamingdienste Zulauf haben … liegt’s dann vielleicht auch an den Inhalten? Es sind die Streamer, die inzwischen mit Themen und Erzählformen das Publikum begeistern. Vor allem Netflix wird immer wieder gelobt, mehr „Diversität“ in Serien und Filme zu bringen. Das Wort ist schwierig und wird oft genug falsch verstanden. Im deutschen Sprachgebrauch erinnert es an „divers“, was die Unterschiede betont. Im Englischen, wo die „Diversity“ ihren Anfang nahm, meint sie in erster Linie die Vielfalt. 

Auf einen Satz zusammengefasst: Diversität soll das tatsächliche Bild einer Gesellschaft widerspiegeln, in all ihren Facetten. Nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch auf Leinwand, Bildschirm oder Bühne, wo die Geschichten aus und über diese Gesellschaft erzählt werden.

Doch dass Deutschland eine vielfältige Gesellschaft ist, spiegelt sich in seinen Filmen und Fernsehprogrammen nicht wirklich wider. So die These eines Panels bei der Media Convention Berlin im vorigen Jahr. Der „Tatort“ hat in Münster zwar (noch) eine russlanddeutsche Ermittlerin, in Hamburg einen türkischdeutschen, im „Polizeiruf 110“ aus München gab Edgar Selge acht Jahre lang den Helden: homosexuell und nur mit einem Arm. Doch schon bald muss man länger überlegen, um Beispiele zu finden. „In  Produktionen in den USA und Großbritannien ist bei weitem nicht alles perfekt, aber da wäre die Liste wesentlich länger“, sagt Joshua Kwesi Aikins von der Menschenrechtsorganisation Citizens For Europe.  

Dazu kommt: Wie werden diese Gruppen dargestellt? Da sind deutsche Filme und Serien verblüffend einfallslos: Der Russe ist ein muskelbepackter Menschenhändler, die Asiatin eine Zwangsprostituierte … Der Schauspieler Tyron Ricketts etwa, Sohn einer Österreicherin und eines Jamaikaners, hat in mehr als 60 Filmen gespielt. Er war amerikanischer Cop, Hoteldirektor auf Mauritius, Geflüchteter. „In 95 Prozent der Fälle war ich ,der Andere’“, erzählte Ricketts auf der Media Convention, aber selten spielte er einen Menschen wie er selbst, „einen normalen Typen von hier, Klaus oder Patrick …“ Das Filmfestival Max Ophüls Preis widmete der fehlenden Diversität im vorigen Jahr einen ganzen Thementag mit einem bezeichnenden Titel: „Dauerkolonie Deutscher Film“.

Ähnlich ergeht es der Gruppe „Frauen“, also die Mehrheit der Menschen im Land und auf der Welt: völlig unterrepräsentiert vor und hinter der Kameralinie, auf dem Bildschirm oft auf Stereotypen und Spielalter eingegrenzt. Die Studien zur Ungleichheit im deutschen Film und Fernsehen verwenden den Begriff „Diversität“ allerdings nicht im eigentlichen Sinne, sondern begrenzen ihn auf die Ungleichbehandlung der Geschlechter – und führen so in die Irre: Diversität meint viel mehr.

In Hollywood geht es Frauen auch nicht besser, dort schauen sie aber genauer hin. Von den Top-100-Filmen des Jahres 2015 hatte nur knapp jeder dritte eine weibliche Hauptrolle, hat Stacy Smith, Sozialwissenschaftlerin an der University of Southern California, ausgezählt. „Was wir auf der Leinwand sehen, und was im richtigen Leben, passt nicht zusammen“, sagt Smith und hat noch mehr Zahlen: In 48 der Filme war keine schwarze Frau zu sehen, in 70 keine Asiatin, in 84 keine behinderte, in 93 keine homo-, bi- oder transsexuelle. 

Das ist nämlich ebenso wichtig, erklärt Aikins: „Oft ist es ja nicht nur ein Faktor, der für Benachteiligung sorgt. Oft kommen mehrere zusammen. Eine Schwarze Frau erlebt anderes als eine Weiße, eine Asiatin wieder anderes – und falls sie lesbisch ist und/oder über 40 und/oder in der DDR großgeworden wieder anderes. Diese Erfahrungen addieren sich auch nicht einfach, sondern die Aspekte verstärken sich.“

Diskriminierung sei leider real, erklärt Aikins: „Indem Menschen von anderen Menschen in eine Schublade gesteckt und aufgrund dieser Zuschreibungen schlechter behandelt werden, abgewertet oder gar für weniger intelligent gehalten werden.“ Das könne absichtlich oder unbewusst geschehen, im persönlichen Umgang oder „unpersönlich“, durch Verfahren oder Regeln, die im Endeffekt bestimmte Menschen benachteiligen oder bevorzugen. 

Zahlreiche „Erlebnisberichte“ bestätigen das, doch noch gibt es keine Zahlen. Die sollen nun abgefragt werden. Die „Umfrage zu Vielfalt und Diskriminierung vor und hinter der Kamera“ wird ab heute belastbare und umfassende Daten zur deutschsprachigen Film- und Fernsehbranche ermitteln. „Es gibt bislang in Deutschland kein differenziertes Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsmonitoring und keine unabhängige Beschwerdeinstanz, die auch Sanktionen aussprechen kann“, erklärt Aikins. „Alltagsdiskriminierung und strukturelle Diskriminierung bleiben meist folgenlos. Gerade deshalb müssen solche Erfahrungen benannt werden.“ Denn die Diskriminierung hat materielle Konsequenzen. Dass Frauen für die gleiche Leistung weniger Geld verdienen, ist inzwischen bekannt. Doch wie sieht es mit anderen Ausschlüssen aus – etwa aufgrund der sozialen Herkunft? Welche Filmschaffenden treffen die Auswirkungen der Corona-Krise besonders hart? Aikins: „Wenn man die Muster erkennt und wie verschiedene ,Ausschlusskriterien’ zusammenkommen, sieht man, wo man ansetzen kann. Unter anderem bei der Förderung, aber auch durch Verpflichtungen von Produktionen  … Und wer von solcher Diskriminierung betroffen ist, erkennt, dass es nicht unbedingt an ihm*ihr liegt, sondern viele andere die gleiche Erfahrung machen. Und letztlich haben alle etwas davon, wenn der Arbeitsplatz ein sicherer Ort ist.“

Beleuchtet werden 440 Berufe. Ein breites Bündnis aus Vereinen und Unternehmen hat sich in der Initiativgruppe „Vielfalt im Film“ zusammengefunden, unterstützt oder gefördert von weiteren Verbänden und Institutionen. Initiiert wurde die Umfrage von Crew United, über deren Netzwerk mehr als 30.000 Filmschaffenden erreicht werden. Citizens For Europe verantwortet die wissenschaftliche, technische und datenschutzkonforme Durchführung.

Diese Trennung ist wichtig und „absolute Voraussetzung“, erklärt Aikins: „Die Befragung läuft nicht  über den Server von Crew United, sondern über den von Citizens for Europe. Wir setzen selbstverständlich  die hohen deutschen und europäischen Datenschutzkriterien um. Der Link zur Befragung ist nicht personalisiert, Absender und Eintrag sind anonym. Das soll Unsicherheiten von vornherein ausschließen.“

Doch antwortet überhaupt jemand auf solch persönliche Fragen? Da ist sich Aikins sicher: „Wenn die Rahmenbedingungen stimmen und die Fragen darauf ausgerichtet sind, ihre Erfahrungen sichtbar zu machen, anstatt sie undifferenziert in Schubladen zu zwängen, die unpassend sind.“  Zu diesem Ergebnis kam schon 2007 eine repräsentative Sondererhebung des „Eurobarometers“ der Europäischen Kommission: Fast 25.000 Menschen wurden europaweit befragt, 75 Prozent gaben an, sie befürworteten, Informationen über ihre zugeschriebene „ethnische Herkunft“ anzugeben, wenn dies hilft, Diskriminierung zu bekämpfen. 

Der Befragung geht es nicht um Schubladen, erklärt Aikins: „Da kann sich eine*r selbst als Deutsche*r fühlen, wird von anderen aber als fremd betrachtet. Deshalb fragen wir nicht nur nach der Selbstidentifikation, sondern auch, wie andere sie sehen und aufgrund welcher Zuschreibungen sie diskriminiert werden.“ Auch vorgeblich neutrale Institutionen, Verfahren und Prozesse behandeln Menschen auf ungleiche Weise, sagt Aikins. Wer glaubt, das betreffe nur vermeintliche „Randgruppen“ oder „exotische Lebensentwürfe“, irrt. Selbst heterosexuelle weiße Menschen ohne Migrationshintergrund und Behinderung entsprechen oft nicht der Norm: „Sexismus etwa, also Vorurteile und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, gehen oft einher mit Altersdiskriminierung, von der allein ja auch schon viele betroffen sind.“ 

Schon in den Fragebögen zeigt sich der andere Ansatz. Die Fragen und Kategorien wurden im Austausch mit Vertreter*innen zu befragender Gruppen entwickelt, und mit Forscher*innen, die die spezifische Geschichte in Deutschland berücksichtigen. „Auch Wissenschaftler gehen nicht völlig ohne eigene Perspektive und die Prägungen ihrer Sozialisation ans Werk“, erklärt Aikins. „Man kann nicht so tun, als könne man alles sehen und schwebe über allem. Niemand kann das. Darum reden wir mit allen nur möglichen Organisationen und sind im Team divers aufgestellt: Wir ersetzen die ,Objektivität’ durch eine Intra-Subjektivität.“ Soll heißen: Viele verschiedene Perspektiven, die die eigene Position reflektieren: Was sehe ich, was die anderen nicht sehen, und umgekehrt … Ständiger Austausch und Diskussion sind die Basis.

Damit sich keine*r unfreiwillig „outet“, werden die Einsichten und Berichte zusammengefasst, Namen gar nicht erst abgefragt, gegebenenfalls die Situation abstrahiert. „Offene Felder“ bieten Raum für eigene Begriffe und Themen – auch Lösungsvorschläge sind Teil der Befragung. Es gehe auch darum, bereits bestehende Ansätze zu bewerten. Vielfalt im Film erklärt in einem ausführlichen FAQ alle Details.

In Hollywood gibt es schon Ideen, wie es besser werden soll. Vor zwei Jahren nutzte die Schauspielerin Frances McDormand ihre Dankesrede bei den „Oscars“, um für einen „Inklusions-Zusatz“ zu werben, den Stacy Smith angeregt hatte: Über eine solche Vertragsklausel könnten gerade Schauspieler, die einen hohen Publikumswert haben, ganz einfach mehr Diversität durchsetzen. Der Schauspieler Michael B. Jordan übernahm das für seine Produktionsfirma Outlier Society Productions gleich darauf – das Ergebnis ist in der Netflix-Serie „Raising Dion“ zu sehen: Es geht um einen achtjährigen afroamerikanischen Jungen, bei dem sich Superkräfte offenbaren, seine Mutter ist alleinerziehend, die Familie sind Ärztin, Ingenieur, Tänzerin, der väterliche Freund der Familie ist weiß, Dions beste Freundin „hispanic“ … 

Solche Vielfalt versuchen zwar immer mehr Serien, doch „Raising Dion“ vermeidet die üblichen Klischees. Das eigentlich Neue zeigt die Serie aber nebenbei: Dions Freundin Esperanza hat die Glasknochenkrankheit und sitzt in einem schweren Rollstuhl. „Die Behinderung wird hier ganz beiläufig thematisiert ohne dass die Protagonistin darauf reduziert wird. Ich habe das mit solcher Würde  solchem Respekt und leichtfüßiger Selbstverständlichkeit bisher noch selten  dargestellt gesehen – in diesem Genre oder gar in einer deutschen Produktion noch nie“, sagt Aikins. 

Warner Media, zu der unter anderem Warner Brothers und HBO gehören, hatte im September 2018 den „Inklusions-Zusatz“ für die gesamte Firmengruppe eingeführt – als erstes Major-Studio in Hollywood. Im Februar startete der erste Film nach dieser Politik im Kino: Das Gerichtsdrama „Just Mercy“ um einen Anwalt, der unschuldig verurteilte Schwarze aus den Todeszellen holt. In der Hauptrolle: Michael B. Jordan.

Das hat auch Folgen für die deutsche Branche, erklärt Aikins: „Jeder Film mit Michael B. Jordan oder Warner Studios muss Inklusions-Zusätze umsetzen. Das bedeutet, das Thema wird für alle in Deutschland relevant, die an solchen Koproduktionen beteiligt sein wollen.“

Aber gehört es nicht zur Schauspielkunst, in andere Leben zu schlüpfen, die unterschiedlichsten Rollen zu verkörpern? Vielen Mimen brachte das immerhin ihren „Oscar“ ein. Doch da zog man schon vor mehr als 50 Jahren erste Grenzen. Damals war Laurence Olivier als „Bester Hauptdarsteller“ nominiert – für seine Rolle als „Othello“. Die „New York Times“ war entsetzt über das „mittlerweile empörende Abbild eines theatralischen Neger-Stereotyps“. Dem Blackfacing mochte man 1966 keinen „Oscar“ geben (zwei Jahre zuvor hatte Sidney Portier als erster Schwarzer Hauptdarsteller den Preis gewonnen). 

Doch noch immer gibt es „Whitewashing“ – quasi die „mildere“ Form, weil sie nicht allen gleich ins Auge sticht. Da sind weiße Männer ägyptische Götter und persische Prinzen, eine weiße Frau japanische Superheldin. Die Wikipedia-Liste von Darsteller*innen in fremden Identitäten setzt sich bis zu den heutigen Marvel-Verfilmungen fort.  

Nicht zu vergessen, dass es für Filmschaffende aus den marginalisierten Gruppen wichtig ist, überhaupt arbeiten zu können, während anderen „Oscars“ dafür bekommen, dass sie ihre Rolle übernehmen, ergänzt Aikins – „ganz extrem im trans*-Schauspielbereich.“ Vorige Woche trat die Schauspielerin Halle Barry von der Rolle einer trans*-Person zurück, nachdem es einen Shitstorm gegeben hatte: Dies sei eine Art „Blackfacing“ im Genderbereich – eine solche Rolle solle auch von einer trans* Person gespielt werden. Ähnliches hatte vor zwei Jahren Scarlett Johansson erfahren.

Für Aikins hängen Person und Rolle zusammen: „Alle Stoffe profitieren davon, von einem vielfältigen Team umgesetzt zu werden. Es geht nicht um Vorurteile, sondern um die Kompetenz, etwas zu erzählen. Also was erzählt wird und wie. Ich möchte behaupten, dass ein weißer, alter Mann und eine junge, Schwarze Frau dieselbe Geschichte aus völlig anderen Blickwinkeln erzählen würden.“

Was ja erst recht im Sinne der Diversität wäre – wenn es sie schon so umfassend gäbe. Noch ist es aber so, dass manche Themen gar nicht erzählt oder Aspekte nicht gezeigt werden. Wer etwa wusste denn bis 2016, als „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“ ins Kino kam, dass afroamerikanische Mathematikerinnen am Apollo-Programm der NASA beteiligt waren?

„Epidemie der Unsichtbarkeit“ ist eine Bezeichnung für dieses Phänomen. 

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