Von wegen Inklusion: Barrieren vor dem Filmtraum

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Regisseurin Eléna Weiss bei den Dreharbeiten mit Florentine Schlecht und Leonard Grobien. Die Versicherung hatte den Hauptdarsteller unbesehen abgelehnt. Letztlich verbiete diese Praxis, „dass gewisse Menschen mit Behinderung arbeiten und ihrem Traum nachgehen können“, sagt Grobien. | Foto © Eléna Weiss

Divers und inklusiv wollten Studierende der Hamburg Media School ihren Abschlussfilm drehen. „Was wir wollen“ feiert morgen im Wettbewerb beim Max-Ophüls-Festival Premiere. Doch auf dem Weg dorthin sahen sich die Filmemacher*innen vor ungeahnten Hürden: Die Versicherungspraxis diskriminiere Menschen mit Behinderung. Und das sagen nicht nur sie. Ein Panel zur Berlinale soll nach Lösungen suchen.

Eine schöne Geschichte hatte sich die Drehbuchstudentin Sophie Dittmer im Dezember 2021 ausgedacht. Mit Eléna Weiss (Regie), Matthias Pöltinger (Kamera) und Paula Maria Martin-Karg (Produktion) formte sie ein Team für den Abschlussfilm an der Hamburg Media School. „Was wir wollen“ sollte eine Coming-of-Age-Dramedy werden. Über zwei junge Verliebte, die gemeinsam ihr „erstes Mal“ planen. Und beide im Rollstuhl sitzen. Leonard Grobien und Florentine Schlecht spielen das Paar. „Von Anfang an war uns allen klar, dass wir die Rollen mit Menschen mit Behinderung besetzen wollten“, sagt Sophie. Und so teilten sie es auch der Hochschule mit. Und damit begannen, ganz ohne Ironie, neue Erfahrungen.

Schon die Besetzung stellte sie vor erste Hürden, denn in den Datenbanken wird man da noch kaum fündig. „Es gibt einfach insgesamt sehr wenige sichtbare beziehungsweise ausgebildete Schauspieler*innen mit Behinderung gibt, weil der Zugang zur Branche einfach extrem schwierig ist“, sagt Eléna. Die Suche über Social Media, Sportvereine und Modelagenturen brauchte „insgesamt sehr viel Zeit und Energie.“ Über einen Social-Media-Aufruf fanden sie schließlich die Hauptdarstellerin, bei der männlichen Hauptrolle kam auch etwas Glück ins Spiel: Um diese Zeit lud das Branchenportal Casting-Network in Köln mit „Cast me in“ zur ersten inklusiven Castingverstaltung im Filmland. „Ein ziemlicher Zufall und unser großes Glück. Es gibt einzelne Institutionen wie die Agentur Rollenfang und eben Casting Network von Tina Thiele, die da bereits große Schritte in die richtige Richtung gegangen sind.“

Die nächsten Hürden: Ende Juni, fünf Wochen vor Drehbeginn, erklärte der Versicherungsmakler, es sei unmöglich, die beiden Hauptdarsteller*innen über die Personenausfallversicherung zu versichern. Die Aussage grenzte er bald darauf ein, berichtet Paula, „unsere Hauptdarstellerin könne versichert werden, da sie ,nur’ querschnittsgelähmt sei und deswegen weniger Ausfallrisiko zu erwarten sei. Sie musste dann eine Selbstauskunft geben, die beinhaltete, wie oft sie wöchentlich welche Art von Sport betreibt und so weiter …“

Doch bei Leonard Grobien sah das Ganze anders aus. Der Schauspieler lebt mit Osteogenesis imperfecta (oft als „Glasknochenkrankheit“ bezeichnet). Damit seien Ausfallrisiken verknüpft, behauptet die Versicherungsmathematik: „Er dürfe zwar ans Set, nicht aber als Protagonist besetzt werden“, erklärt Eléna. „Im Endeffekt hieße das: Im Krankheitsfall wären die Kosten für die Verschiebung des Drehs nicht von der Versicherung gedeckt worden.“ Der Lösungsvorschlag lautete, Schauspieler*innen ohne Einschränkungen oder „maximal“ mit Querschnittslähmung zu besetzen, dann allerdings mit B-Besetzung in der Hinterhand, sagt Eléna. „Das wollten wir allerdings auf keinen Fall und schlossen vor allem Ersteres kategorisch aus.“

Am Ende sammelten die Filmemacher*innen auf eigene Faust Bürgschaften von Privatpersonen über 45.000 Euro zusammen, die als Ersatzversicherung im Falle eines Ausfalls von Grobien in Kraft getreten wäre. So durften sie mit ihrer Wunschbesetzung drehen. Morgen ist Premiere im Wettbewerb beim Max-Ophüls-Preis. „Was wir wollen“ läuft am 24. Januar 2023 um 22 Uhr im Programm „Mittellanger Film Programm 2“ im „Cine Star“ in Saarbrücken.

Doch nach dem Happy End geht’s weiter. Denn „Was wir wollen“ ist kein Einzelfall. Umfragen zur „Vielfalt im Film“ wie zu  „Sichtbarkeit und Vielfalt“ zeigten ebenfalls, dass Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen noch weitgehend unsichtbar sind – vor wie hinter der Kamera. Das Problem hatte vor zwei Jahren auch die Schauspielerin Nora Tschirner skizziert, als sie im „SZ-Magazin“ [Bezahlschranke] über ihre Depression sprach – und Versicherungsbetrug gestand: „Vor Dreharbeiten muss man als Hauptdarsteller zum Versicherungsarzt, und die Versicherung entscheidet, ob sie dich versichert oder nicht. Man entbindet Ärzte und Versicherungen dafür von ihrer Schweigepflicht – was krass ist, weil der Arbeitgeber eigentlich kein Recht hat, von Krankheiten vorab zu erfahren. Und wenn ich angebe, dass ich in den vergangenen fünf Jahren psychische Erkrankungen gehabt habe, kommt die nächste Frage: Ist deswegen irgendwann ein Drehtag ausgefallen? Egal ob die Antwort ja oder nein lautet, die Produktion wird sich daraufhin gut überlegen, ob sie es sich leisten will, dich zu besetzen.“

Die Versicherungsfrage sei ein „großes strukturelles Problem“, bestätigt auch der Journalist Jonas Karpa, Redakteur bei „Leidmedien“ auf Nachfrage. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Letztlich verbiete diese Praxis, „dass gewisse Menschen mit Behinderung arbeiten und ihrem Traum nachgehen können“, findet Leonard Grobien. Der Hauptdarsteller ist selbst auch Autor und Regisseur. „Als Autor habe er es nicht schwerer als alle anderen, hatte er vor zwei Jahren im Interview mit Casting-Network erklärt, „aber mir wird es schwerer gemacht, weil mir weniger zugetraut wird und ich unnötigerweise unterschätzt werde. Und da frage ich mich natürlich: warum?“ 

Vor allem kritisiert er an der Versicherungspraxis, „dass ich nie direkten Kontakt mit ihnen hatte und sie den medizinischen Einzelfall um mich herum und die Intensität des Gendefekts gar nicht kannten und sich auch nicht genauer anschauen wollten.“

Betroffen sind nicht nur Menschen mit Behinderung. Auch bei Alter und Krankheit bei sträuben sich Versicherungen, sagt Grobiens Agent Wolfgang Janßen von Rollenfang in Berlin. „Viele Produktionen gehen das Risiko ein und drehen trotzdem, wenn ihnen an der Besetzung liegt.“ Dass eine öffentliche Hochschule dieses Risiko nicht übernehmen wollte, findet er darum umso bedenklicher.

Ganz so öffentlich ist die Hamburg Media School freilich nicht, sondern (laut Eigendarstellung) „ein Leuchtturmprojekt“ öffentlich-privater Partnerschaft, zur Hälfte finanziert von einer Stiftung. Bei deren Gründung 2006 gehörten ihr „über 20 renommierte Medienunternehmen“ an. Die Liste der Förderer ist heute noch länger – etliche von ihnen haben in jüngster Zeit öffentlich ihren Einsatz für mehr Diversität verkündet, etliche haben auch die „Charta der Vielfalt“ unterschrieben.

Für die Hamburger Studierenden gehört die aktuelle Versicherungspraxis zur „strukturellen Diskriminierung behinderter Menschen und in diesem Fall Filmschaffender mit Behinderung in Deutschland.“ So sieht es auch Johanna Polley, die beim „Netzwerk Inklusion“ bei Pro Quote Film und von ähnlichen Erfahrungen weiß. Immer noch werde Filmschaffenden mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung eine Personenausfallversicherung verwehrt.

Bei dieser Einschätzung wissen sie auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hinter sich. Dort habe man „mehrfach von Ratsuchenden davon Kenntnis erlangt, dass in der Filmbranche weithin gebräuchliche Versicherungsformulare für Ausfallversicherungen spezifische Fragen nach einer Schwangerschaft, Vorerkrankungen und Behinderungen enthalten“, teilte die Behörde im März Pro Quote Film mit: „Bei den formularmäßig abgefragten und für die Arbeitgebenden zugänglichen Informationen handelt es sich daher um unzulässige Fragen, die in Bewerbungssituationen grundsätzlich verboten sind. Sie stellen somit ein Indiz für die Diskriminierung dar, und der Arbeitgeber müsste vor Gericht das Gegenteil darlegen und beweisen.“

Gemeinsam wollen Filmteam und Netzwerk Inklusion bei Pro Quote Film zusammen mit der Initiative „Cast me in“ und Crew United an Lösungen arbeiten. Dazu laden sie am 16. Februar um 14 Uhr zur Diskussionsrunde „Struktureller Ableismus? Wenn Filmschaffende mit Behinderung nicht versichert werden!“. In der Kulturbrauerei in Berlin (Knaackstraße 97) sollen Vertreter*innen aus Produktion, Versicherung und Betroffene zusammenkommen – die Besetzung wird noch bekanntgegeben. Das Panel wird mit Gebärdensprache begleitet, der Zugang ist barrierefrei. Anmeldungen mit dem Betreff „Anmeldung Panel 16.02.“ werden an (Aktiviere Javascript, um die Email-Adresse zu sehen) erbeten.

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