Sozialversicherung – Grundproblem eines Berufsstands
Der Schauspieler Peter Schneider hat eine beeindruckende Filmografie. Doch wenn es um die soziale Absicherung geht, erlebt er das Gleiche wie viele seiner Kolleg*innen. In einem Brandbrief erklärt er verständlich, woran es hakt.
Ich möchte diese für viele existentiell bedrohliche Situation zum Anlass nehmen und Sie gerne auf ein seit Jahren existierendes Grundproblem unseres Berufsstandes hinweisen. Vielleicht können wir ja in einen Austausch kommen.
Kurz zu mir: Ich bin 1975 in Leipzig geboren, absolvierte nach dem Abitur 1995 ein Musikstudium und von 1998-2002 ein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig, welches ich mit Diplom abschloss. Seitdem bin ich vor allem als Schauspieler, aber auch als Musiker, Komponist und musikalischer Leiter an verschiedenen Theatern in Deutschland tätig. Unter anderem arbeitete ich an der Volksbühne Berlin, dem HAU Berlin, am Schauspiel Leipzig, Chemnitz, Zittau und Rudolstadt, dem TdjW Leipzig, den Staatstheatern Schwerin, Karlsruhe, den Theatern Heilbronn und Plauen-Zwickau und an den Bühnen der Städte Halle, Gera und Altenburg.
Seit einer intensiven Zusammenarbeit mit Edgar Reitz 2001 bis 2002 („Heimat 3″) arbeitete ich in über 80 Film- und Fernsehproduktionen mit. So spielte ich zum Beispiel die Hauptrollen in Philipp Kadelbachs Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ („Deutscher Fernsehpreis 2015“ als bester Fernsehfilm) oder aber auch in Hans Weingartners hochgelobtem Psychodrama „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Für diese wurde ich 2012 für den „Deutschen Filmpreis“ in der Kategorie „beste darstellerische Leistung männliche Hauptrolle“ und 2013 für den „Preis der deutschen Filmkritik“ nominiert. Ebenfalls 2013 erhielt Mareille Kleins Film „Gruppenfoto“, in dem ich die Hauptrolle spiele den „Max-Ophüls-Preis“. Ich bin Mitglied der Deutschen und der Europäischen Filmakademie.
Wie sie meiner Vita entnehmen können, bin ich beruflich sehr viel rumgekommen. Weil ich nie irgendwo fest engagiert war, habe ich so als „Solokämpfer“ in Hunderten verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet. Da mich solche Dinge interessieren, habe ich mich aufgrund meiner individuellen beruflichen Entfaltung intensiv mit dem Sozialversicherungsrecht und meinem sozialversicherungsrechtlichen Status beschäftigt. Ich möchte Ihnen gerne erklären, wo seit Jahren ein Problem für uns sogenannte „freiberufliche Schauspieler*innen“ liegt, das nun in dieser Krise für viel mehr von uns als sonst existentielle Probleme mit sich bringt. Anmerken möchte ich, dass wir quantitativ im deutschen Künstlerkanon, aber auch im Schauspielbereich vom Status her eine Minderheit sind (geschätzt 10.000 Leute), weshalb wir aber auch keine große Lobby haben und es wenig Erfahrungen mit uns gibt.
Das möchte ich ändern. Und anhand meiner Situation erklären, worum es mir geht. Die Ausgangssituation ist komplex und kompliziert.
Status quo Abgrenzung zur Selbstständigkeit: Aufgrund eines in meinen Augen veralteten Berufsbildes freiberuflicher Schauspieler*innen, werden wir sozialversicherungsrechtlich als nichtselbstständig beziehungsweise als weisungsgebunden eingestuft. Man argumentiert da folgendermaßen:
# Wir agieren vor der Kamera und auf den Bühnen nach Weisung der Regie.
# Wir besitzen keine Terminhoheit, wenn ein Probentag oder ein Drehtag angesetzt ist, haben wir zu erscheinen.
# Wir müssen mit einem vorgegebenen Inhalt (Drehbuch beziehungsweise Stück) umgehen, haben inhaltlich kein Mitspracherecht.
# Wir müssen vorgegebene Kostüme anziehen, vorgegebene Perücken aufsetzen.
# Wir haben kein unternehmerisches Risiko.
# Wir haften nicht mit unserem Vermögen (Privat- beziehungsweise Betriebsvermögen).
Deshalb interpretiert man bei den Schiedsstellen unsere Arbeit (die der freiberuflichen Schauspieler*innen) immer als nichtselbstständig. So weit so gut. Daraus ist für uns Freiberufler*innen eine absurde Praxis in den Anstellungsverhältnissen bei Film, Theater und Fernsehen entstanden, wobei der Bundesverband Schauspiel (BFFS) seit Jahren versucht, die daraus resultierenden Probleme abzuschwächen. Das möchte ich Ihnen gerne anhand eines Beispiels bei Film und Fernsehen erklären und beginne chronologisch:
Status quo sozialversicherungsrechtliche Situation freiberuflicher Schauspieler*innen ohne Errungenschaften des BFFS nach Abschaffung der Arbeitslosenhilfe:
Ich bekomme eine Rolle in einem Fernsehfilm. Ich arbeite schon immer frei und habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG1). Die gesamte Drehzeit liegt bei fünf Wochen. Drehzeitraum Mai/Juni. Die Gage wird verhandelt, und zehn Drehtage (das ist eine etwas größere Rolle) im Drehzeitraum an verschiedenen Terminen werden anberaumt. Die Drehtage sind nicht fest vereinbart. Änderungen nach Absprache vorbehalten. Aufgrund obiger Abgrenzung muss ich angestellt werden.
Nun passiert folgendes: Ich werde letztlich nur für die Tage angestellt, an denen ich drehe. Hieraus ergibt sich, dass ich auch nur an diesen Tagen in die Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeistlosenversicherung einzahle. Und es passiert noch mehr: Der relativ hohe Tagessatz (pro Drehtag) wird als virtuelles Gesamtgehalt auf den Monat hochgerechnet. Beispielsweise habe ich einen Tagessatz von 1.500 Euro und drehe einen Tag von den zehn anberaumten Drehtagen im Monat Mai. Der Rest der Tage liegt im Juni.
Vereinfacht wird das so abgerechnet: Der Monat Mai hat 2020 21 Arbeitstage (5-Tage-Woche). Virtuelles monatliches Gehalt bei einem Anstellungstag (Tagessatz 1.500 Euro mal 21 Arbeitstage): 31.500 Euro.
Nun greifen auf diese Summen die Beitragsbemessungsgrenzen: Für Renten- und Arbeitslosenversicherung (Ost) 2020: 77.400 Euro Jahresgehalt, auf den Monat gerechnet 6.450 Euro. Davon Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil Rente (zusammen 18,6 Prozent) gesamt für den Monat: 1.199,70 Euro.
Da ich in diesem Fall nur einen Tag angestellt bin, wird jetzt diese Summe durch die 21 Arbeitstage geteilt, und als reale Summe werden in diesem Fall rund 57 Euro in die Rentenversicherung (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) eingezahlt. Adäquat läuft das mit der Arbeitslosenversicherung und der Kranken- und Pflegeversicherung (hier gilt eine andere Bemessungsgrenze). Das Gleiche passiert, wenn ich mehrere Tage angestellt bin. Pro Tag werden rund 57 Euro eingezahlt.
Nun ist es so: Ein*e freiberufliche*r Schauspieler*in, der*die überdurchschnittlich gut im Geschäft ist, hat vielleicht 40 Drehtage im Jahr. Jemand in dieser Liga hat sicherlich einen höheren Tagessatz, aber bleiben wir bei den 1.500 Euro pro Tag. Das Jahresgehalt liegt damit für diesen Fall (40 Drehtage) bei 60.000 Euro. Nicht schlecht. Aber wie hoch ist das (virtuelle) Jahresgehalt, für das in diesem Fall in die Rente eingezahlt wird?
Das läßt sich einfach ausrechnen: 57 Euro mal die 40 Tage sind 2.284 Euro (18,6 Prozent des virtuellen Gehalts), die eingezahlt werden. Das entspricht einem virtuellen Jahresgehalt von rund 12.283 Euro. Kranken- und Pflegeversicherung sind entsprechend der anderen Bemessungsgrenze ähnlich.
Das ist ein Clou: Jemand, der 60.000 Euro Jahresgehalt hat, zahlt also nur für 12.283 Euro ein. Das wäre übrigens auch bei einem Tagessatz von 3.000 Euro und 120.000 Euro Jahresgehalt so: 12.283 Euro. Auch hier gilt: Kranken- und Pflegeversicherung sind entsprechend der anderen Bemessungsgrenze ähnlich niedrig.
Den Arbeitgeber freut so etwas natürlich: Er spart Unsummen an Arbeitgeberanteilen. Also ist es kein Wunder, dass Leute wie die hochgeschätzte Kollegin Eleonore Weisgerber nach einem sehr aktiven und erfolgreichem Berufsleben im Rentenalter nun nur etwas über 900 Euro Rente bekommt (sie versucht da übrigens auch eine Veränderung auf die Wege zu bringen).
Von einer fehlenden sozialen Absicherung bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen. Krankengeld bekommt man nicht. Und für ALG1 erarbeitet man sich bei den verlangten 360 versicherten Tagen in zwei Jahren natürlich nie einen Anspruch.
Und was passiert mit der Kranken- und Pflegeversicherung, in den Zeiten, in denen man nicht angestellt ist (also für die etwa 320 Tage im Jahr)? Ganz einfach: man bezahlt sie weiter aus eigener Tasche, so man es kann. Weil man sonst keine hat.
Status quo sozialversicherungsrechtliche Situation freiberuflicher Schauspieler*innen mit Errungenschaften des BFFS nach Abschaffung der Arbeitslosenhilfe:
Diesen unfassbaren Zustand hat der BFFS erkannt. Er versucht seit Jahren, Lösungen zu finden und hat da auch mit diversen Sonderregelungen etwas erreicht. Das möchte ich auch chronologisch kurz anreißen:
# Ab 2009 gibt es sogenannte Zusatztage, an denen wir angestellt werden für Textlernen, Maskenprobe, Leseproben und so weiter. Ein sehr kompliziertes Regelwerk, dass man hier nachlesen kann [PDF]. Unser Fallbeispiel von oben fällt unter Kategorie 3. (das sind übrigens auch meine meisten Anstellungsverhältnisse, manchmal auch Katgorie 2).
# Wie man dem Papier entnehmen kann, bekommt mein Beispiel von oben neben den 10 bezahlten Drehtagen noch 6 Zusatzleistungstage. Diese 6 Tage werden nicht bezahlt, aber man wird versichert, der Versicherungszeitraum gestreckt.
# Sagen wir, unser Beispiel dreht vier verschiedene Filme mit jeweils 10 Drehtagen, bekommt also noch 24 Zusatzleistungstage dazu. Für unsere Rentenrechnung bedeutet das: es werden nun bei 60.000 Euro Jahresgehalt rund 3.655 Euro bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) eingezahlt, was einem virtuellen Jahresgehalt (als Bemessung) von 19.654 Euro entspricht. Soweit, so schlecht.
Auch für die Kranken- und Pflegeversicherung gilt in den Zeiten, in denen man nicht angestellt ist (also für etwa 300 Tage im Jahr): Man bezahlt sie weiter aus eigener Tasche, so man es kann, weil man sonst keine hat. Auch einen Anspruch auf ALG1 kann man sich wieder nicht erarbeiten.
Zu der Regelung mit den Zusatztagen gibt es seit kurzem ein höchstrichterliches Urteil, dass uns in einigen Fällen als unständig beschäftigt einstuft und die Regelung außer Kraft gesetzt hat. Im Grunde hebelt das Grundsatzurteil die Praxis aus, Rentenbeiträge durch Erreichen der Bemessungsgrenze zu sparen. Entstanden ist nun ein hochkompliziertes Verfahren für alle, da wir nun auch noch unständig beschäftigt sein können. Als Tagelöhner sozusagen. Auf Basis dieser Unständigkeit werden viel mehr Beiträge an die BfA abgeführt, was man sich am Ende des Jahres bei Überzahlung (Erreichen der echten Bemessungsgrenze insgesamt) wieder zurückholen kann. Wenn man mehrere Drehtage innerhalb einer Produktion hat, die nah beieinander liegen, wird versucht, über die Bildung von Beschäftigungsinseln die Unständigkeit zu umgehen. Das ist rechtens und auch gut so. Es hat aber zur Folge, dass als unständig Beschäftigte (also Tagesrollen, Tage sehr einzeln verteilt) erstmal viel weniger an Geld raushaben – inklusive der Agenturgebühr gibt’s erstmal 31 Prozent netto vom Brutto (also bei 1.000 Euro brutto 310 Euro raus). Sicher, es wird durch den Lohnsteuerjahresausgleich in Summe mehr, aber das Geld steht erstmal nicht zur Verfügung.
Das einzig Gute daran ist meines Erachtens, dass insgesamt wohl mehr in die BfA eingezahlt wird. Zielführend für einen gesunden sozialversicherungsrechtlichen Status ist auch das leider nicht.
Auch bei dem Thema ALG1 versucht der BFFS, Wege zu finden. Er hat in mehreren Stufen folgendes erreicht: es gibt für uns eine Sonderregelung für den Anspruch auf ALG1 („verkürzte Anwartschaft“):
# Man muss 180 versicherte Tage in zweieinhalb Jahren haben.
# 50 Prozent dieser Beschäftigungen müssen weniger als 14 Wochen gedauert haben.
# Das sozialversicherungspflichtige Jahresgehalt im Jahr vor der Arbeitslosigkeit darf nicht höher als 57.330 Euro sein.
Diese drei Punkte müssen zutreffen, ansonsten gilt die normale Anwartschaftszeit von 360 versicherten Tagen in zwei Jahren.
So weit so gut. Was bedeutet das für unser Beispiel oben? Nichts. Selbst wenn es klappen sollte, kontinuierlich zweieinhalb Jahre in obigem Maße zu drehen, hat das Beispiel zu wenige Versicherungstage (nur 162) und es liegt über der Verdienstgrenze. Das Beispiel fällt also aus der Sonderregelung raus, zahlt seine Kranken- und Pflegeversicherung für 300 Tage pro Jahr weiter aus eigener Tasche und lebt in unsicheren Zeiten.
Gibt es freiberufliche Schauspieler*innen, die von dieser Regelung profitieren? Meiner Einschätzung nach wenige:
# Dreht man weniger (und bleibt unter der Verdienstgrenze), kommt man nicht auf die nötigen versicherten Tage.
# Dreht man viel, kommt man auf die nötigen Versicherungstage. Ist man aber so gut im Geschäft, sind die Tagesgagen so hoch, dass man die Verdienstgrenze reißt.
# Dreht man „Low budget“ (um die Verdienstgrenze nicht zu reißen), eine Miniserie etwa, die drei Monate gedreht wird, dann wird man für drei Monate angestellt und bekommt es selten hin, weitere Beschäftigungsverhältnisse zu haben, um die 50-Prozent-Grenze nicht zu reißen.
# Arbeitet man als Gast am Theater arbeitet, wird man für den Probenzeitraum, etwa sechs Wochen angestellt, dann meist tageweise je Vorstellung. Auch hier entsteht selten ein Anspruch.
Dazu ein vorerst letztes Beispiel: Ich bekomme einen Gastvertrag und probe sechs Wochen im Mai 2020: 21 Versicherungstage. Dann werden im Repertoire am Stadttheater Vorstellungen gespielt. Ich werde für die Vorstellungen tageweise angestellt. Ich mache zwei ähnliche Produktionen und bleibe unter der Verdienstgrenze. Ich müsste nach der Premiere von beiden noch 30 Vorstellungen im Restjahr spielen, um auf die Versicherungstage zu kommen. 2,5 Jahre müsste das so laufen, dann hätte ich einen Anspruch auf ALG1. Dennoch: Für die Zeit der Nichtanstellungen des Jahres zahle ich natürlich meine Krankenversicherung weiter selbst. Es ist ein Teufelskreis!
Nun Schluss mit diesem Status Quo. Wo liegen Lösungen? Für mich persönlich: In der Selbstständigkeit und der damit verbundenen Möglichkeit, in die Künstlersozialkasse zu kommen! Allgemein (so man alle Schauspieler*innen im Auge hat): In einem Wahlrecht, welches aus den jeweiligen Bedingungen heraus eine Wahl zwischen selbstständig agieren und unselbstständig sein zu müssen überhaupt erst zulässt! Bei Regisseur*innen gibt es so etwas schon.
Kurz gesagt: unser oben beschriebenes Berufsbild, das uns zur Selbstständigkeit abgrenzt und uns unselbstständig macht, hat nichts mehr mit den Realitäten von freiberuflichen Schauspieler*innen zu tun (die, nochmal angemerkt, nur einen kleinen Teil aller Schauspieler*Innen ausmachen). Ich habe im Zuge der Corona-Krise und den dadurch angedachten Hilfspaketen (bei denen wir wieder durchs Raster fallen) einen Brandbrief verfasst. Ich entschuldige die darin enthaltene Emotionalität. Es war im Ursprung ein Facebook-Kommentar. Aber er enthält auch die Lösungsansätze, die ich meine.
Mein Brandbrief: „Wir müssen endlich unser Berufsbild von freiberuflichen Schauspieler*innen modernisieren und an die Realitäten anpassen, um die Möglichkeit zu haben, auf Rechnung zu arbeiten, in die Künstlersozialkasse zu kommen und die freiwillige Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen zu können.
Leider fehlt uns dazu die Lobby, die so etwas auf den Weg bringen kann. Ich habe es unten mal zusammengefasst und versuche seit Jahren, die zuständigen Leute zu überzeugen. Man hält da an etwas fest, dass einem selbstbestimmten Berufsbild von freiberuflichen Schauspieler*innen nicht mehr entspricht. Und wir haben durch die kurzfristigen beziehungsweise unständigen Beschäftigungsverhältnisse, über die wir abgerechnet werden müssen, nach wie vor keinen wirklichen sozialversicherungsrechtlichen Status, keine wirkliche Altersvorsorge und fallen durch alle Raster. Und das eigentlich schon seit längerer Zeit. Das wird nun im Zuge der Corona-Krise viel deutlicher und existenzieller. So das angedachte Hilfspaket der Bundesregierung wie vom Kabinett geplant den Bundestag passiert, wird es auch da wieder nichts werden für uns. Wir kommen in den Unterstützungsmöglichkeiten nicht vor, da wir keine Soloselbstständigen sind. Auch das Kurzarbeitergeld kommt außerhalb unserer kurzfristigen Verträge nicht in Frage. Und einen Anspruch auf ALG 1 (auch mit der durch den BFFS erkämpften Sonderregelung) haben wir uns durch die lückenhaften Anstellungsverhältnisse in den seltensten Fällen erarbeitet. Es bleibt nur die nun vereinfachte Grundsicherung, die aber trotzdem noch die Gehälter der Lebenspartner*innen anrechnet.
Der einzige Weg für durchgehende Versicherungszeiten bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung wäre für uns nach wie vor die Künstlersozialkasse. Und dazu muss unser kleiner freiberuflicher Teil der Schauspieler*innenschaft auf selbstständiger Basis arbeiten dürfen. Und auch ein Anspruch auf ALG 1 ließe sich dann über die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige durch lückenlose Einzahlungen erarbeiten.
Abgrenzung Selbstständigkeit: Bin ich weisungsgebunden? Nein. Termine, sei es für Vorstellungen, sei es für Drehtage werden miteinander abgesprochen. Wenn ich sage, ich kann zu einem bestimmten Termin nicht, dann kann da auch nicht gedreht, geprobt oder gespielt werden. Dann versucht man im Vorfeld, Lösungen zu finden, oder man kann den Job halt nicht machen. Wenn ich etwas nicht spielen möchte oder kann, so wie es die Regie will, wird das auch nicht passieren. Das geht sowieso nur zusammen. Niemand außer mir selbst kann einen Körper (mich) zu irgendetwas zwingen. Das ist systemimmanent nicht möglich.
Trage ich ein Haftungsrisiko, wenn ich aus einer Produktion wegen unüberbrückbarer Differenzen aussteige? Ja.
Trage ich ein unternehmerisches Risiko für mich? Ja (wie man zurzeit extremst sieht).
Versichere ich mich selber außerhalb von Drehtagen beziehungsweise Anstellungstagen? Ja.
Habe ich verschiedene Auftraggeber? Ja.
Argument Drehbuch und vorgegebener Inhalt: Ich interpretiere die vorgegebene Partitur individuell. Auch Musiker, die nach vorgegebenen Noten spielen, zudem vorne noch einen Dirigierenden stehen haben, gelten, wenn sie als Subs in verschiedenen Orchestern spielen, als selbstständig und werden auch so abgerechnet.
Wir schaffen, kreieren unsere Figuren frei. Ähnlich einem bildenden Künstler, der in erster Linie aus sich heraus schöpft, schöpfen wir zuerst aus uns die Darstellung oder das Spiel. Ohne diesen Akt wäre jedes Drehbuch nur schwarze Buchstaben auf weißem Papier, die als solche auch natürlich auch einen hohen Wert haben. Aber erst das orginäre Spiel schafft etwas, womit sich in einem gemeinschaftlichen Prozess ein*e Regisseur*in, ein*e Spielpartner*in, ein*e Kamerafrau*mann, ein*e Editor*in und zuletzt dann eben die Zuschauer*innen auseinander und sich in Bezug setzen können. Das ist ein kreativer Akt, der aus einer reinen Fiktion etwas frei und eigenverantwortlich schafft (freischaffend), und zwar Kunst und damit einen Beitrag zum kulturellen Leben der Gesellschaft. Wir schaffen und kreieren unsere Figuren frei!
Habe ich die Hoheit über das Kostüm? Auch hier gilt: Das geht nur zusammen. Wenn man merkt, dass es nicht funktioniert, lässt man es. Keine*r von uns lässt sich irgendetwas anziehen oder aufsetzen oder ins Gesicht schminken, hinter dem man nicht steht und auf das man sich nicht gemeinsam geeinigt hat.
Habe ich die Hoheit über meine Termine? Ja. Sie werden bei Auftragserteilung natürlich mit verhandelt. Wie jeder selbstständige Handwerker hält man sich an diese Termine.
Kann ich Aufträge ablehnen? Ja.
Besitze ich eine inhaltliche Hoheit über meine Aufträge? Ja, das ist meine freie Entscheidung. Auch hier gilt: Wie ein*e selbstständige*r Handwerker*in, der*die einen Auftrag annimmt oder nicht, kann auch ich dies tun.
Bekomme ich Krankengeld bei Krankheit? Nein.
Treten wir unsere Verwertungsrechte ab? Ja.
Stellt uns die GVL an bei der Ausschüttung von weiteren Verwertungen eben dieser? Nein.
Werden wir bei Auszahlungen von den noch wenig existierenden Wiederholungshonoraren angestellt? Nein.
Was bin ich außerhalb der wenigen angestellten Tage im Jahr? Ein Schauspieler. Und bleibe das die meiste Zeit. Wie ein Musiker, pflege und übe ich natürlich mein Instrument: Meinen Körper! Meinen Geist! Ich lese Bücher, kaufe Bücher, schaue Filme, kaufe Filme, recherchiere, ich beobachte Menschen, gehe joggen, netzwerke, aktualisiere meine Datenbanken, meine Homepages, lasse professionelle Fotos von mir machen, die ich bezahle, kümmere mich um meinen Steuerkram, um meine Fahrtkostenabrechnungen, um mein Büro, schreibe an Newslettern über mich, lerne Text, zahle meine Rechnungen, bezahle meinen Presseagenten, schreibe weiter, fahre zu Kostümproben, Maskenproben, Leseproben, Arbeitsproben, Stuntproben, Castings, gebe Interviews, promote meine Filme, erstelle und schneide meine Showreels, investiere in Equipment, um E-Castings machen zu können, mache Fortbildungen, die ich selber zahle, habe mir einen Raum gemietet, in dem ich üben, flüstern und schreien kann, treffe mich mit anderen Menschen in anderen Städten, um über neue Projekte zu reden und so weiter, und so fort …
Kurz, ich bleibe Schauspieler und zahle in dieser Zeit natürlich meine Kranken-, Pflege-, Haftpflicht-, Rechtsschutz- und Unfallversicherungen selbst, zahle für die verschiedenen Datenbanken, Homepages, die mich sichtbar machen, zahle weiter in meine Altersvorsorge ein, zahle Verbandsbeiträge, Filmakademiebeiträge, Agenturprovisionen. Kurz, ich versuche in dieser Zeit mein kleines Unternehmen rundum am Laufen und gesund zu halten: mich selbst! Und das auch ganz selbstständig und ohne Weisungen.
Und eigentlich will ich immer nur spielen. Und frei bleiben.
Zum Abschluss: Ich möchte betonen, dass sind nur Gedanken. Eine Meinung, die vielleicht einen weiteren Gedankenaustausch fördern könnte. Vielleicht ist da auch vieles falsch oder naiv. Wie immer weiß ich auch nicht, wie es geht. Im Zweifelsfall halte ich mich dann am Zweifel fest. Vielleicht können wir wenigstens weiter gemeinsam zweifeln. Das wäre doch enorm viel. Bleiben Sie gesund!“
Soweit mein Brandbrief. Vielleicht gibt es auch andere Wege, die es besser werden lassen für uns. Lassen Sie uns weiter in Kontakt bleiben. Ich stelle mich für einen weiteren Austausch sehr gerne zur Verfügung. Die Welt nach dieser Krise wird eine andere sein. Es liegt in unserer Hand, was für eine.
Lieber Peter Schneider,
vielen Dank für diesen Beitrag. Treffender kann man das nicht zusammen fassen. Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast unsere komplexe Situation mit deiner profunden Kenntniss so überzeugend darzustellen. Man sollte diesen Text an allen Schauspielschulen ans Schwarze Brett hängen, damit die Studenten wissen worauf sie vorbereitet sein müssen, wenn sie sich anschicken eine ganze Berufsbiografie hindurch die Menschen unseres Landes mit einer Nahrung zu bereichern, ohne die jede Gesellschaft verdorrt: mit lebendiger Kultur.
Herzliche Grüße
Stephan Schad,
Kollege