Berlinale 2024: Wo bleibt die Kultur?

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Ein kleiner Skandal ab und zu gehört ja zu jedem großen Festival. Die Berlinale erlebte sie dieses Jahr als Miniserie. Das sollen Cannes und Venedig erstmal nachmachen. | Foto © cinearte

 

Mit dem Wettbewerb war kaum jemand zufrieden, mit den Preisen schon. Wichtiger als die Filme wurde aber der „Eklat“ zur Preisverleihung. Statt Gala gab’s eine Kundgebung in Abendgarderobe – mit anschließender Debatte um Kunst und Politik.

Das letzte Jahr war ganz schön aufregend für die Berlinale. Nach zwei Corona-Jahren sollte das Festival eigentlich neu starten. Stattdessen gab’s plötzlich weniger Geld, weniger Kinos, schlechte Personalpolitik und in letzter Minute noch die Frage, ob man Leute vom Festival ausladen soll oder ihnen lieber die Filme vorführt, die dort laufen. Das sollte eigentlich reichen. Doch ganz zum Schluss ereilte das Filmfestival doch noch ein Eklat. Aber der Reihe nach. 

Für Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian war es die letzte Berlinale. Die Filmbranche hatte von der Doppelspitze „Großes erwartet, doch ihre Amtszeit stand unter keinem guten Stern. Auch das aktuelle Filmfest hätte besser laufen können“, meinen Susanne Burg und Maja Ellmenreich bei Deutschlandfunk Kultur. Die Probleme während der Amtszeit fassen sie als „Pechsträhne ohne Ende“ zusammen, für die irgendwie keiner was kann. Beim Festival selbst kommen sie zum bekannten Schluss: „Den Abstand zu Venedig und Cannes konnte Berlin in den vergangenen vier Jahren nicht aufholen.“

Und weil der Vergleich auch in diesem Jahr wieder oft angestellt wird: Frühling an der Côte d’Azur und Sommer am Lido – den Abstand kann ein Winter in Berlin nur schwer aufholen. Das erkennt auch Daniel Kothenschulte in der „Frankfurter Rundschau“ und schlägt deshalb den Herbst vor, meint aber November. Denn „schlagartig brächte das Berlin wieder auf Hollywoods Agenda, das in die heiße Phase des ,Oscar’-Rennens geht.“

Den Wettbewerb fand er nämlich auch nicht so toll, die Preise für die „wenigen Höhepunkte“ aber „völlig verdient“ und „unstrittig“. Zum zweiten Mal in Folge hat ein Dokumentarfilm den „Goldenen Bären“ gewonnen. „Dahomey“ ist ein Filmessay über die Rückgabe geraubter afrikanischer Kunstwerke, die Regisseurin Mati Drop und gehe auch künstlerisch neue Wege: „Es ist ein Film, der in seiner klaren, offenen und ästhetisch beziehungsreichen Ansprache bislang gefehlt hat. Der einzige Fehler ist seine Kürze von nur 67 Minuten […]. Die senegalesisch-stämmige Französin Mati Diop ist die erste Schwarze Preisträgerin des ,Goldenen Bären’, und auch Jurypräsidentin Lupita Nyong’o hatte bei ihrer Vorstellung zur Eröffnung Wert auf die Feststellung gelegt, als erste Schwarze dieses Amt zu bekleiden. Mit Kennergriff erkannte die Jury in einem unterdurchschnittlichen Wettbewerb große Einzelleistungen“. Für diese hagelt es allerdings Superlative: „verwegenst“, „formal originellst“, „anspruchsvollst“ …

Auch Rüdiger Suchsland findet auf „Telepolis“ den Hauptpreis „verdient, weil dieser Filmessay, der auch fiktionale und magische Elemente hat, damit die vielen Mittel des Kinos einmal wirklich ausreizt. Weil er politisch bemerkenswert und intelligent ist, und zudem eine uneindeutige, komplexe Meditation über das Verhältnis zwischen Afrika und Europa darstellt.“ Also „keine Verlegenheitslösung“, aber irgendwie wohl doch, weil im Wettbewerb „eigentlich keiner der Spielfilme einen ,Goldenen Bären’ verdient hatte“. Darum würde er lieber über den nötigen Neustart sprechen, doch die Berlinale hatte zum Abschluss noch einen Skandal: Die „Preisverleihung am Samstag wurde von einigen Preisträgern und Juroren missbraucht für eine eklige Show aus Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit. […] Preisträger formulierten auf der Bühne antiisraelische und antisemitische Parolen und trugen das umstrittene Palästinensertuch, das Publikum schwieg dazu oder applaudierte gar.“

Zurückhaltender beschreibt es die „Taz“ via Deutsche Presse-Agentur: „Einige Beteiligte erhoben auf der Bühne einseitig Vorwürfe gegen Israel, ohne den Terrorangriff der islamistischen Hamas vom Oktober 2023 zu erwähnen oder die Freilassung der israelischen Geiseln zu fordern.“

Erschrocken ist nicht nur Susan Vahabzadeh in der „Süddeutschen Zeitung“ [Bezahlschranke] über das „undifferenzierte Israel-Bashing, das sich durch die Abschlussveranstaltung zog.“

Erste Politiker fordern Konsequenzen, berichtet Maximilian Beer in der „Berliner Zeitung“, darunter auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner: „Ich erwarte von der neuen Leitung der Berlinale, sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen“, schrieb er auf X. Bei der Gala habe Wegner übrigens auch geklatscht, berichtet Susanne Lenz ebenfalls in der „Berliner Zeitung“.

Im „Tagesspiegel“ vermisst Christian Tretbar Mitgefühl und Widerspruch. „Die Abschluss-Gala hat einmal mehr verdeutlicht, dass […] die Kultur ein massives Israel-Problem hat. Sie ist unfähig, zu differenzieren. […] Stattdessen wohlig-warmer Applaus für eine einseitige Pro-Palästina-Show auf der großen Berlinale-Bühne in Berlin. […] Die Kultur muss sich ernsthaft fragen, wie sie ihre Rolle sieht – als Teil einer aktivistischen Bewegung oder als seriöser Ort des Dialogs.“

Eigentlich sollte die Kontroverse nicht verwundern, meint dagegen Susanne von Kessel-Doelle bei „Meedia“: „Auf der Berlinale, dem wichtigsten deutschen Filmfestival, kumulieren sich seit jeher alle kontroversen Themen der Gegenwart, nicht nur im Film, sondern auch in der Diskussion über den Film und darüber hinaus. […] Einmal wurde die Berlinale sogar vorzeitig geschlossen, als 1970 während des Vietnamkriegs der deutsche Film ,o.k.’ gezeigt wurde, der die Vergewaltigung eines vietnamesischen Mädchens durch einen US-Soldaten thematisierte. Regisseur und Produzent Michael Verhoeven sagte dazu im Februar 2006: ,Filme wie ‚o.k.‘ haben damals viele zur Weißglut getrieben. Die Weltbilder wurden wesentlich rigider vertreten als heute […]. Heute ist man wesentlich gleichmütiger, man lässt die Ereignisse an sich vorbeiziehen‘. 

„In der Tat hat das Festival die Zeichen der Zeit erkannt und genutzt“, schreibt René Hamann in der „Taz“, „auch, weil sie die in allen Aspekten repolitisierte Kunst im Wesentlichen selbst hat sprechen lassen“: „In diesem Jahr konnte das Festival bei dieser Dichte an beklagenswerten Großereignissen in der Welt gewissermaßen aus dem Vollen schöpfen. […] Und doch zeigte der Abend, wohin das Pendel der Empörung ausgeschlagen hat: Das Thema Ukraine ist da, schiebt sich aber trotz Jahrestag und heimischer Militarisierungswünsche weiter an den Rand der Wahrnehmung; der Klimawandel wandelt an ähnlich fern gerückter Stelle; die Schlagworte ,Eurozentrismus’ und ,Imperialismus’ dominieren außerhalb der ,westlichen’ Hemisphäre den kulturpolitischen Diskurs; Postkolonialismus ist schon lange keine Angelegenheit mehr, die nur an US-amerikanischen Universitäten verhandelt wird“.

Die Ukraine erwähnt auch Hannah Pilarczyk im „Spiegel“ [Bezahlschranke]: „Am zweiten Jahrestag der Vollinvasion durch Russland, der auf den Tag der Preisverleihung fiel, war diese Ignoranz ebenfalls erschreckend.“ Die einseitigen Kundgebungen auf der Bühne waren schwer erträglich, die Entrüstung darüber sei nun genauso einseitig: „Alle Statements des Abends pauschal als Hetze zu verunglimpfen, ist nicht die Korrektur von Einseitigkeit, sondern ihr exakter Spiegel. […] Bärengewinnerin Diop hat ihre Solidaritätsadresse an Palästina auch nicht, wie es die ,Süddeutsche Zeitung’ schrieb, in den Saal gebrüllt (auf Youtube lässt sich das gut nachvollziehen). Und es war auch nicht der deutsche Kulturbetrieb, der am Samstag so lauten Applaus für die Israelkritik gespendet hat, wie der israelische Botschafter Ron Prosor behauptete. Das Publikum war durch die vielen anwesenden Filmteams sehr international – was eben für eine andere, in Teilen befremdliche und kritikwürdige Reaktion gesorgt hat. […] Dennoch: Eine Preisverleihung mit spontanen Dankesreden birgt ein Risiko, das der Kultur dringend weiter zugestanden gehört.“ 

Eine Orientierungshilfe für die Debatte bietet Julia Lorenz in der „Zeit“ [Bezahlschranke]: „Einen Genozid seitens Israel auf der Berlinale-Bühne […] als Tatsache darzustellen, ist unangemessen und falsch. Jede Debatte darüber abwürgen zu wollen, ob der israelische Militäreinsatz im Gazastreifen in seiner Form und seinem Ausmaß verhältnismäßig ist, hilft jedoch auch nicht.“

Der jüdische Regisseur Barrie Kosky sorgt sich um die Meinungsfreiheit: „Wenn in einer Demokratie Ideen verboten werden, fühle ich mich sehr unwohl. Egal, wie furchtbar sie sind. Das ist genau das, was Demokratie für mich bedeutet: dass ich mich manchmal unwohl fühle“, sagt er im Interview mit Susanne Lenz in der „Berliner Zeitung“. „Keiner von uns weiß doch ganz genau, wie er über den Konflikt sprechen soll. Aber wichtig ist, dass man darüber spricht. Meine Angst bezieht sich auf die Polarisierung der Debatte. Entweder man ist komplett auf der Seite Israels und auf der Seite der demokratisch gewählten israelischen Regierung, egal, was Israel macht. […] Oder man ist komplett auf der Seite der Palästinenser, egal, ob sie die Hamas unterstützen. Aber ich und viele andere Juden sagen: Man kann gegen das Massaker der Hamas sein und gleichzeitig kritisieren, was die israelische Regierung unter Netanjahu macht. Nur viele Menschen machen diese Unterscheidung nicht. Und das macht mir Angst.“

Darum ging es dem israelischen Regisseur Yuval Abraham. Er ist Mitglied eines Kollektivs von vier israelischen und palästinensischen Filmemachern, das für den Dokumentarfilm „No Other Land“ ausgezeichnet wurde. Der Film behandelt die Situation im Westjordanland. In seiner Dankesrede bezeichnete Abraham die Ungleichbehandlung von israelischen Staatsbürgern und Palästinensern in den besetzten Gebieten als „Apartheid“. Seitdem erhalte er Todesdrohungen, schrieb er am Dienstagabend auf X. schrieb er, dass ein rechter israelischer Mob zum Haus seiner Familie in Israel gekommen sei und enge Familienmitglieder bedroht habe: „All das ist passiert, nachdem israelische Medien und deutsche Politiker meine Preisrede bei der Berlinale absurderweise als ‚antisemitisch‘ bezeichnet haben.“ 

In der „Berliner Zeitung“ berichtet Susanne Lenz: „Yuval Abraham spricht von einem ,ungeheuerlichen Missbrauch’ des Antisemitismusbegriffs durch Deutsche. Sie wollten damit nicht nur palästinensische Kritik an Israel zum Schweigen bringen, sondern auch Israelis wie ihn selbst, die einen Waffenstillstand befürworten […]. Der Missbrauch des Begriffs Antisemitismus beraube ihn seiner Bedeutung. […] Und vor allem bringe dies seinen palästinensischen Kollegen Basel Adra in größte Gefahr, er lebe in Masafer Yatta im Westjordanland unter israelischer Besatzung und von gewalttätigen Siedlern umgeben. […] Er endet seinen Post mit den Worten: ,Ihr könnt harte Kritik üben an dem, was Basel und ich bei der Preisverleihung gesagt haben – ohne uns zu dämonisieren. Wenn ihr das aber macht, mit eurer Holocaust-Schuld im Rücken – dann will ich eure Schuld nicht.’“ 

Bei Abrahams Rede hatte sogar die Kulturstaatsministerin geklatscht. Anderntags distanzierte sie sich und „ließ verlauten, ihr Applaus habe nur dem israelischen Regisseur gegolten“, schreibt Philip Tassev in der „Jungen Welt“ über den „Rückzug des Tages“.

Lassen sich solche Vorfälle überhaupt verhindern? Für den BR fragt Susanne Brandl den Leiter des Münchner Dokfests. Daniel Sponsel hat einige Ideen – warnt aber vor Selbstzensur. „Kontroverse Statements zu verbieten, wäre für eine offene Debatte allerdings nicht förderlich. Denn über freien Meinungsaustausch würden sich Kulturveranstaltungen schließlich definieren, so Sponsel. Aber man könne der vielseitigen politischen Instrumentalisierung vorbeugen, indem man das Thema einordnet, beispielsweise in einer Gesprächsreihe.“

Mit Protesten und Boykott haben auch die Kurzfilmtage Oberhausen neulich Erfahrungen gemacht. Deren Leiter Lars Henrik Gass kommentiert in der „Berliner Zeitung“ [Bezahlschranke] die Vorgänge auf der Berlinale: „Je größer das Festival, desto aggressiver die Forderungen, die an es gestellt werden, auf Teilhabe, aber auch auf politische Haltung bezogen. Dahinter lauert der Vorwurf des Missbrauchs, eine Zusammenstellung sei nicht ,divers’ genug oder eine Entscheidung nicht ,transparent’. Eine Machtposition, in der einer entscheidet, gilt per se als verdächtig. Um Filme, also Artefakte, geht es kaum noch. […] Die Kampagne gegen die Berlinale, weil Mandatsträger der AfD eingeladen worden waren, übertrug die Struktur des ,Graswurzel’-Ressentiments, das wir aus den antiisraelischen Kampagnen kennen, auf das Engagement gegen rechts, blieb aber genauso antiaufklärerisch und antiparlamentarisch. Nur die Verfassung bewahrt uns noch vor der Hölle. […] Dialog ist immer konstruktiv. Er findet aber nicht statt. Die einen schreien oder nehmen gar nicht erst teil; die anderen verfallen in eine Schonhaltung, schweigen oder gehen auf Distanz. Kultur und Geisteswissenschaften waren einmal die Bereiche der Gesellschaft, in denen man genauer denken und wahrnehmen konnte und wollte. Das ist vorbei. Die Kulturferne des Kulturbetriebs, der Mangel an Empathie, die ich dort in weiten Teilen erlebe, finde ich erschreckend. Ich kenne Leute an Universitäten, die vor leeren Sälen sitzen, weil keiner mehr zuhören will. Wenn wir keine Ambiguitätskompetenz mehr wollen, müssen wir uns um die Demokratie Sorgen machen.“

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