Welches Geschlecht hat die Filmkunst? 

,

Sind Frauen tatsächlich die schlechteren Kameramänner? Mit einem Artikel entfesselte der Festivalleiter des Camerimage einen Proteststurm. Die meisten Kameraverbände der Welt sehen das nämlich anders. | Foto © cinearte

Seit mehr als 30 Jahren würdigt das Camerimage die Kunst der Bildgestaltung. Doch die ist zu 97 Prozent männlich. Viele wollen das ändern, nur das Festival tut sich schwer. Kurz vor der Eröffnung kam es deshalb zum Eklat. 

Am Samstag eröffnet das Camerimage. Das Festival im polnischen Torun hat sich ganz der Filmkunst der Kinematografie verschrieben, ist seit mehr als 30 Jahren der Treffpunkt für für DoP wie Studierende aus aller Welt, und der „Goldene Frosch“ im Wettbewerb gehört zu den höchsten Ehrungen der Zunft. In diesem Jahr allerdings ist die Stimmung schlecht. Anlass ist ein Gastbeitrag im Fachmagazin „Cinematography World“ [auf Englisch] von Marek Zydowicz, dem Gründer und Leiter des Festivals: 

„Die Filmindustrie durchläuft rasante Veränderungen, die sich auf das Filmbild, seinen Inhalt und die Ästhetik auswirken. Eine der wichtigsten Veränderungen ist die wachsende Anerkennung weiblicher Kameraleute und Regisseure. Diese Entwicklung ist entscheidend, da sie die offensichtliche Ungerechtigkeit korrigiert, die in der gesellschaftlichen Entwicklung vorhanden ist. Es wirft jedoch auch eine Frage auf: Kann das Streben nach Veränderung das Gute ausschließen? Können wir Werke und Künstler mit herausragenden künstlerischen Leistungen opfern, nur um Platz für mittelmäßige Filmproduktionen zu schaffen?“, fragte er gleich zum Einstieg und kam zum Schluss: „Während Festivals wie Cannes, Berlin und Venedig für ihre Auswahl kritisiert werden, weil sie solchen Trends erliegen oder fördern, bleibt Camerimage den künstlerischen Werten als das wichtigste Kriterium für die Qualität und Förderung von Filmkunst verpflichtet.“

Damit reagierte er auf eine Petition [auf Englisch] von Women in Cinematography (WIC) im August, der sich zahlreiche Verbände, Organisationen und Firmen aus der ganzen Welt angeschlossen hatten. Die Initiative hatte sich Anfang des Jahres gegründet, weil sie einen „historischen Ausschluss aller bis auf wenige Frauen“ beim Camerimage feststellte: In 30 Jahren seien nur 3 Prozent der Filme im Wettbewerb von Kamerafrauen gewesen. In der Petition hatten die WIC  Veränderungen beim Festival gefordert: Chancengleichheit; eine faire Geschlechterbalance bei Veranstaltungen, Jurys und Filmen; mehr Unterstützung für aufstrebende Talente aus „unterschätzten Gruppen, einschließlich Frauen“; mehr Transparenz bei der Filmauswahl. Mit vier Veranstaltungen steht WIC im diesjährigen Festivalprogramm. Es hätten noch viel mehr sein können, meint die Initiative – das Festival hatte ursprünglich nur eine im Sinn. Durch die Petition sei der Austausch aber vorangekommen. 

Bis der Artikel des Festivalleiters erschien. Als erste reagierten Illuminatrix (das britische Kollektiv der Kamerafrauen) und die British Society of Cinematographers (BSC) [auf Englisch]. In einem Offenen Brief drückte der Verband „seine Missbilligung“ sehr direkt aus: „Die Verbindung von weiblicher Kinematographie mit Mittelmäßigkeit ist zutiefst sexistisch und ein trauriges Beispiel für einen persönlichen frauenfeindlichen Standpunkt.“

Die American Society of Cinematographers (ASC) [auf Englisch] in Hollywood unterstützte den Brief, ebenso die meisten anderen Verbände von Brasilien bis Neuseeland. Still blieb bislang nur der deutsche Berufsverband Kinematografie, der neben ASC und BSC zu den ersten Unterstützern des Festivals gehört.

Den Ton der Briten fand wiederum Zydowicz „völlig fehl am Platz und ziemlich beleidigend“, das Ganze ein „Missverständnis“ und „missinterpretiert“, antwortete er auf der Festival-Website [auf Englisch]: „Meine Aussage bezog sich ausschließlich auf unsere Auswahlkriterien beim Festival und da kommt es auf den künstlerischen Wert an. Es gibt nichts in meiner Aussage, weder meiner Meinung noch der Meinung unseres gesamten Teams, das hauptsächlich aus Frauen besteht, das solche negative Aufnahme verdienen könnte.“

Women in Cinematography sehen das auf „Cinematography World“ [auf Englisch] anders: „Selbst eine Zusammenfassung der jüngsten Geschichte zeigt, wie weibliche Kameraleute vom Festival an den Rand gedrängt wurden. ,Mudbound’, für den Rachel Morrison 2018 als erste Frau für einen Kamera-,Oscar’ nominiert wurde, wurde nicht in den Wettbewerb aufgenommen und stattdessen in eine Sondervorführung verbannt. Im Jahr 2021 wurde Ari Wegner für einen ,Oscar’ für ,The Power of the Dog’ nominiert, aber dieser Film wurde auch vom Hauptwettbewerb ausgeschlossen und als Sondervorführung gezeigt. Die Kameraarbeit von Ellen Kuras wurde noch nie im Wettbewerb nominiert. ,Porträt einer jungen Frau in Flammen’, für den Claire Mathon ,César’ für Kinematografie gewann, wurde vom Festival ausgeschlossen. Kann das Camerimage behaupten, es gehe ihm in erster Linie um künstlerische Verdienste, wenn es diese brillanten und gelobten Leistungen übersieht?“

Übrigens: Auch bei den „Golden Globes“ [auf Englisch] hatte Michele Manelis schon vor einem Jahr den „Aufstieg der Kamerafrauen“ bemerkt. Der „Collider“ [auf Englisch] kennt „10 atemberaubende Filme, die von Frauen fotografiert wurden“, und „Indiewire“ [auf Englisch] sogar 30 „schöne Filme“ mit dem  „weiblichen Blick“. 

Das Festival jedoch hat einen Ehrengast verloren: Der britische Regisseur Steve McQueen hat seine Teilnahme abgesagt, berichtet Ellise Shafer in „Variety“ [auf Englisch]. Sein jüngster Film „Blitz“ eröffnet das Festival, DoP Yorick Le Saux steht damit im Wettbewerb, und McQueen selbst sollte den Ehrenpreis für Regie erhalten. Er „komme nicht über das hinweg, was ich für zutiefst beleidigende Worte halte. Ich habe enormen Respekt vor Kameraleuten aller Geschlechter, einschließlich Frauen, und glaube, dass wir mehr tun und fordern müssen, um allen einen Platz am Tisch zu verschaffen“, sagte McQueen.

Der Schock hatte Wirkung. Nach der Absage zeigte sich Zydowicz tief betroffen und lud zu einem breiteren Dialog über die Änderungen ein. Organisationen, darunter auch Women in Cinematography haben die Entschuldigung angenommen und ermutigen zur Teilnahme am Festival und der künftigen Reform. Es wird jedenfalls viel zu besprechen geben, dieses Jahr in Torun.

###

Noch ein kleiner Cliffhanger: Unterdessen sorgt das Festival für weitere Kontroversen, berichtet Chris O’Falt bei „Indiewire“ [auf Englisch]. Als Weltpremiere ist der Western „Rust“ angekündigt, bei dessen Dreharbeiten die Kamerafrau Halyna Hutchins vor drei Jahren zu Tode kam. Mit der Aufführung und anschließendem Gespräch wollen das Festival und der Regisseur Joel Souza die Kamerafrau ehren. „Es ist üblich, dass das Festival kürzlich verstorbene Kameraleute feiert, oft mit einer Vorführung und Podiumsdiskussion. Und obwohl es klar ist, dass das Festival dies mit den Veranstaltungen rund um die ,Rust’-Premiere beabsichtigt hatte, wird die Vorführung des Films selbst wahrscheinlich eine umstrittene Entscheidung bleiben.“