Kino in Zeiten von Corona 23

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Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 27. August 2020.

Der Aufmacher der Woche sollte eigentlich Christopher Nolans „Tenet“ sein. Warner Bros. zieht es durch. Kino gehört ins Kino. Ich wünschte, sie würden die Rolle der Presse dabei nicht nur als Marketinginstrument sehen. Ich hatte es befürchtet, und so kam es auch: Der Verleih hat ordentlich gesiebt, und nur, vermutlich, die aus ihrer Sicht nützlichen, wichtigen und unumgänglichen Medien zu einer „kleinen Runde“ eingeladen. Sprich: es gab keine normale Pressevorführung. Darunter verstehe ich, dass Kolleg*innen, die über Film berichten, auch eingeladen werden, den Film in einem Kino zu sichten. Status- und auflagenunabhängig. Punkt. Es ist ja nicht so, dass die Agentur nicht weiß, wen sie im Verteiler haben. Die Agentur ist sogar die, die am häufigsten Verteilerüberprüfungen macht. Wie auch immer. „Cinearte“ und „Out-Takes“ scheinen nicht wichtig genug zu sein. Punkt. Muss man gar nicht drüber nachdenken. Ja, wahrscheinlich ist „Tenet“ ein sogenannter Selbstläufer. Geht eh jeder rein. Braucht keine Presse. Ich möchte nur vermerken, warum hier keine Besprechung in irgendeiner Form von dem wohl verleihtechnisch wichtigsten Film dieser Tage zu lesen ist. 

Ja, ich könnte eine Inhaltsangabe formulieren. Die Welt muss gerettet werden. Dafür wird die Zeit manipuliert, also der Zeitablauf. Christopher Nolan führte Regie. Er steht für Kino im Kino. Für große Leinwand. Hoyte Van Hoytema führte die Kamera (und wer gerne Podcasts aus der Branche hört: Das Team Deakins hat ihn ganz aktuell vors Mikrofon geholt). Zum Cast gehören John David Washington (den kennt man aus „BlacKkKlansman“) und ferner Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Elizabeth Debicki und so weiter. Ein Film, den man wohl nicht so sehr mit analytischem Verstand als mit Hingabe und Gefühl erfahren soll.

Die Zahlen, davon darf ausgegangen werden, werden bombastisch sein. Regen nach der Dürre. Für bombastisch halten auch die ausgewählten Kollegen und Kolleginnen den Film. Also auf ins Kino. Und die andere Seite? Also Warner Bros. vs. Disney? „Mulan“ steht auch in Deutschland ab dem 4. September auf Disney+ zur Verfügung. Zusätzlich zum Abo, ohne geht’s nicht, darf man noch mal 21,99 € blechen. Da sollte man nicht meckern, in den USA ist es etwas teurer. Passend zu der Meldung kam auch von der Agentur eine jetzt endgültige Anweisung zur auferlegten Sperrfrist, denn die Pressevorführung war im März, wenige Tage vor dem Lockdown. Vor dem 3. September 2020 solle es keine Besprechungen geben. 

Sollte man warten, bis „Tenet“ auf den Heimkinomarkt kommt? Da andere hochkarätige Blockbuster etc. derzeit spärlich eintrudeln, stehen die Chancen doch gut, dass man den neuen Nolan auch noch in der zweiten, dritten, vierten Woche in den großen Sälen sehen kann. Vier Wochen, das wären 28 Tage. „Blickpunkt Film“ berichtete Ende voriger Woche von der Stellungnahme des HDF Kino zum reduzierten Kinofenster, wie es jetzt in Amerika ansteht. Hierzulande verschließt man sich dem Ansatz nicht, will diese Entwicklung aber aktiv mitgestalten. Wichtig sei, um einen Punkt herauszuheben, dass man eine Branchenvereinbarung trifft, die für alle in Deutschland gestarteten Kinofilme bindend wäre. Vier Wochen, dazu passt eine Meldung, die gerade erst eingetrudelt ist, „Master Cheng in Pohjanjoki“ ist auch in der vierten Woche in Folge auf dem ersten Platz der Arthouse-Kinocharts.

Ich begrüße es, wenn alte Filme neu ins Kino kommen. Nur weil ein Film ein paar Jahre im VHS- oder DVD-Regal verbrachte, gehört er trotzdem ins Kino. Das Kino ist etwas über 100 Jahre alt. Da gibt es viel zu entdecken, auf Leinwand. Schade finde ich es dann, wenn daraus nur ein „Eventstart“ wird. Da wird ein Film an einem oder zwei Tagen gespielt und das wars. Warum eigentlich? Ganz aktuell: „Die Blechtrommel“. Volker Schlöndorffs Günter Grass-Verfilmung wurde 1980 mit dem „Oscar“ für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Premiere feierte die „Blechtrommel“ 1979 in Cannes und gewann dort die goldene Palme. Erzählt wird die Geschichte von Oskar, der beschließt, nicht groß zu werden, weil er das Leben der Erwachsenen in den End-20ern und 30er Jahren nicht akzeptieren will. Er begehrt schrill auf gegen Nazis und Mitläufer. Dieses ausgewiesene Meisterwerk wurde nun in Zusammenarbeit mit Arri Berlin und unter der Mitwirklung von Volker Schlöndorff und Eberhard Junkersdorf für 4K restauriert und neu geschnitten. In der Pressemitteilung wird Schlöndorff zitiert: „Heute wirkt er fast noch stärker auf der Leinwand als damals“ und „so wie die großen Gesichter der Stummfilmzeit uns heute noch mehr überwältigen als die Zuschauer damals in den Kinos. Bei der Restauration fragte ich mich oft, wir haben wir das nur gemacht.“ Vor gar nicht langer Zeit hat, also im Mai hat die ARD den „Director’s Cut“ ausgestrahlt. Aber ja, Kino ist Kino. Warum kann man die restaurierte Fassung nicht mit einem kleinen Kinostart bedenken? So heißt es nun, am 31. August 2020 ist bundesweites Event-Kino. „Einmalig“. Danach darf man bis Oktober warten, wenn der Film ins Heimkino kommt. Sofern man nicht eine teure hochwertige Anlage zu Hause hat, sollte es auch die DVD aus der Bibliothek ihres Vertrauen mit dem alten Schnitt tun. Schade.

Und was gibt es nun diese Woche im Kino-Kino? Großes Kino. Ich empfehle den „See der wilden Gänse“. Der Verleih Eksystent hatte zum Anfang des Lockdowns den Film „Isadoras Kinder“ vorgezogen und auf den Streaming-Plattformen angeboten. Aber für den Verleih bleibt „Kino ein unverwechselbarer Ort“. „Der See der wilden Gänse“ sei ein „visuelles Feuerwerk“, ein „Film, der auf der großen Leinwand gesehen werden muss“. In diesem Fall: auf jeden Fall. Im strömenden Regen stehen ein Mann und eine Frau. Ihr roter Pulli leuchtet, im Licht und mit ihrem Regenschirm wirkt die Szene wie ein Silhouettenspiel. Eine andere Szene, es gibt viele, für die man schwärmen kann: In der Nacht sehen wir viele, viele Figuren, die auseinander und durcheinander laufen, das heißt, wir sehen eigentlich nur ihre mit Lichtstreifen leuchtenen Turnschuhe, die wie übergroße Glühwürmchen durchs Bild wirbeln. Visuell hat der Film so viel zu bieten. Da muss ich allerdings gestehen, ich habe den Film nicht wirklich gesehen. Er lief letztes Jahr in Cannes, er lief in München, er lief in Toronto, auf der Viennale, auf dem Kamerafestival Manaki Brothers gewann er voriges Jahr Silber. Er lief auch dieses Jahr noch in Rotterdam. Aber mir blieb nur eine Sichtung per Stream, noch dazu dank dem Weltvertrieb mit einem übergroßen Schriftzug als Wasserzeichen über das obere Drittel des Bildes. So ist Filme sichten eher Frust als Freude, und trotzdem muss ich schwärmen. Ich weiß aber nicht, was ich alles aus dem Film, der seine Bilder in den Bildern geschickt so zu setzen weiß, dass man die Handlung, ein Neo-Noir Film und Thriller, eine Geschichte von Gangstern und Frauen trotz all der Gewalt und Trostlosigkeit fast wie einen französischen Film wahrnimmt. Gut, Frankreich ist Ko-Produzent, aber das meine ich nicht. Ja, was hätte ich aus dem Film mitnehmen können, hätte ich ihn im Kino sehen dürfen. Darum will ich gar nicht deuten, was ich nur anmaßend deuten könnte. Diao Yinan heißt der Regisseur und wurde vor wenigen Jahren auf der Berlinale für sein „Feuerwerk am hellichten Tag“ mit einem Bären prämiert. Ein Kleinkrimineller ist hier auf der Flucht, in Wuhan, weil er, als bei einem Clash zwischen Gangs alles drunter und drüber ging, einen Polizisten getötet hat. Eine Prämie ist auf seinen Kopf ausgesetzt. Wenn er dieses Geld seiner Frau zukommen lassen könnte, nun, dabei soll ihm ein Prostituierte helfen. Das ist die Kurzfassung. Die Referenzen, die Diao Yinan mit einbaut, sind nur die I-Tüpfelchen, denn das Publikum soll von den Bildern überwältigt werden. Die Kamera führte an Diao Yinans Seite wieder einmal Jingsong Dong.

Wenn es denn um Zeitmanipulationen geht, dann geht das auch ein anders und anders muss nicht schlechter sein als bei Nolan. Zum Beispiel bei „The Fare“. Teils Drama, teils Romanze, teils Film Noir und irgendwie aus der Zeit gefallen. Harris, gespielt von Gino Anthony Pesi, ist Taxifahrer. Irgendwo im Nirgendwo. Draußen ist es dunkel und so richtig hell wird es nie. Nur der Funkkontakt mit der Zentrale und Stimmen aus dem Autoradio zeugen von einem Leben außerhalb dieses Taxis. Bis Penny einsteigt. Die zwei unterhalten sich auf der Fahrt. Bis. Bis Penny plötzlich weg ist. Wie weg? Na, weg eben. Kann sich Harris auch nicht erklären und der Zentrale schon gar nicht. Und dann geht alles von vorne los. Und noch einmal und noch einmal. Harris und Penny verbindet etwas und etwas trennt sie immer wieder. D.C. Hamilton (“The Midnight Man“) macht pures Independent Kino. Ein Kammerstück, gedreht in einem alten Taxi, mit Rückprojektion. Kurz und knapp innerhalb einer Woche und die Crew darf auch mal für eine kurze Sequenz auf den Rücksitz. Penny wird von Brinna Kelly gespielt und sie hat auch das Drehbuch geschrieben, eine Variation einer alten, sehr alten Geschichte, die jetzt aber nicht verraten wird.

Und noch eine Zeitmanipulation. „Palm Springs“ eröffnet demnächst das Fantasy Filmfest. Also nicht diese Woche, aber hier möchte ich trotzdem schon mal drauf hinweisen, weil es thematisch passt und für ein bißchen Vorfreude. Der Film könnte zum Klassiker werden. „Palm Springs“ ist eine klassische Rom Com, also eine romantische Komödie. Das Langspielfilmdebüt von Max Barbakow wurde in Sundance in der Spielfilm-Wettbewerbssektion für US-Produktionen vorgestellt und für eine Rekordsumme eingekauft. Es liegt allerdings an Corona, dass der Film in den USA dann letztendlich auf der Hulu-Plattform sein Publikum finden musste. Aber vielleicht hält sich das Interesse über die Corona-Zeit hinaus und auf lange Jahre. Sagen wir wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. So ein Film ist „Palm Springs“. Nur wesentlich anarchischer, wobei er auch ein paar Haken mehr schlägt. Es sind kleine, sehr eigene Puzzlestücke eingebaut, die der endlosen Zeitschleife eine mitunter auch lehrreiche Dramaturgie geben. Zum einen, weil das Publikum bereits mitten in einer endlosen Wiederholung eintritt, wenn man Nyles, gespielt von Andy Samberg, kennengelernt. Der ist gänzlich gelangweilt von der Hochzeit, die er mit seiner Freundin besucht. Warum wohl. Und so verbringt er einen Abend mit Sarah, gespielt von Cristin Milioti, die Schwester der Braut, die, ganz dumm gelaufen, plötzlich auch in der Zeitschleife feststeckt, und darauf eher sauer reagiert. Zum einen toben sich die beiden ordentlich aus und es ist eine Freude, ihnen dabei zuzuschauen, das Casting funktioniert perfekt. Die beiden Hauptfiguren haben Chemie. Zum anderen schwanken sie immer wieder zwischen Akzeptanz und Auflehnung gegen ihre Situation. Mitunter sind sie sich gar nicht grün, wie eine Erlösung aussehen könnte. Da geht es dann an Essentielles. Mehr wird nicht verraten.

Arthouse kommt diese Woche aus dem Iran. Das heißt, „Yalda“ ist eine deutsch, französische, schweizerische, luxemburgische Koproduktion mit dem Iran und Libanon. In Deutschland ist die Produktionsfirma Niko Film beteiligt, es wurde ein kleines Fernsehspiel vom ZDF. Yalda ist das Fest zur Wintersonnenwende. Im iranischen Fernsehen wird eine Nacht der Vergebung gefeiert. Wohlmöglich. Eine zum Tode Verurteilte darf in einer Fernsehshow um Vergebung und Begnadigung bitten. Mona (Behnaz Jafari), die Angehörige des Opfers, den Maryam (Sadaf Asgari) umgebracht haben soll, muss ihr verzeihen, das Publikum kann im Studio und per Telefon abstimmen. Daraus macht Massoud Bakhshi (“Eine respektable Familie“) eine bitterböse, medienkritische Satire. Schließlich geht es nicht um Schuld und Vergebung, sondern um Quote, Einschaltquote. Man könnte nun denken, darüber hinaus wird auch eine Gesellschaft angeprangert, die Blutgeld kennt und die verarmte Frauen in Zwangsehen mit reichen Männer gibt, aber diese Mißstände sind nur willkommene Elemente der Dramaturgie. Warum der Film uns weiß machen will, es gäbe so eine „beliebte iranische Fernsehshow“, bleibt das Geheimnis des Regisseurs.

Jetzt noch eine Empfehlung aus der Dokumentarfilmecke: „Fragen Sie Dr. Ruth“. Der Sender WYNY (New York City) wollte die Idee einer Mitarbeiterin einer Anrufsendung, in der man alles über Sex erfragen konnte, zwar umsetzen, versteckte diese aber im Nachtprogramm. „Sexually Speaking“ wurde trotzdem ein Erfolg, und der Sender wurde bald mit dieser Show identifiziert. Es folgte bald eine Fernsehshow, genannt „Ask Dr. Ruth“. Ruth war der zweite Vornahme von Karola Siegel, verheiratete Westheimer. Das konnte ja keiner aussprechen in den Staaten, also beließ man es bei dem Doktortitel und ihrem Vornamen. Sie war nicht nur irgendjemand, der vors Mikrofon ging, sondern vom Fach. Sie war beruflich Sextherapeutin und wurde quasi über Nacht zu einer öffentlichen Person. Aber mal davon ab. Ihre Vita gibt einiges her und die inzwischen über 90jährige ist aktiv und quirlig wie eh und je. An einer Stelle wird auch gemutmaßt, ihre Nimmermüdigkeit ist ein Erhaltungstrieb, nachdem ihre Familie in der Shoah umkam. Mit zehn Jahren schickten ihre Eltern sie, im Januar 1939, mit einem Kindertransport in die Schweiz und schenkten ihr damit ein zweites Mal ihr Leben. Aber das muss man sich mal vorstellen, als deutsch-jüdisches Flüchtlingskind durfte sie in der Schweiz keine höhere Schule besuchen, sondern sollte Hausmädchen werden. Sie lernte trotzdem, sie wollte doch Ärztin werden, ein Freund half ihr. Nach dem Krieg ging sie nach Palästina und wurde bei der Untergrundorganisation Hagana Scharfschützin. Karola klinge zu deutsch, hieß es, darum wählte sie den Namen Ruth. Auch in der Hoffnung, dass jemand aus der Familie sie doch noch wiederfindet. Ryan White ist unter anderem als Regisseur der HBO-Produktion „The Case Against 8“ bekannt geworden. Für Hulu drehte er also ein Porträt über eine amerikanische Ikone mit starkem deutschen Akzent, die vorgibt, politisch keine Stellung zu beziehen, damit sie unabhängig von politischen Präferenzen Menschen helfen kann. Sie mag auch das Wort Feminismus nicht, zum Entsetzen ihrer Enkelin. Meint aber auch hier nur eine Form des radikalen Protestes, der ihre sensible Arbeit behindern könnte. Denn im Wesen ist sie sehr wohl eine Feministin und auch ihr Wirken zum Beispiel während der Aids-Krise in den 80ern spricht eine deutliche Sprache. Noch bevor sie „berühmt“ wurde, arbeitete sie schon für „Planned Parenthood“. White folgt ihr mit der Kamera und kann kaum mit ihr mithalten. Sicherlich, die Dokumenation geht nicht allzusehr in die Tiefe und das Tempo ist derart, dass man eher unterhalten wird, als dass man selbst Gedanken fassen und verinnerlichen könnte. Die Persönlichkeit der Ruth Karola Westheimer ist hoch spannend, es tun sich noch genug Lücken auf, um selbst ein bißchen nachzuforschen. Premiere feierte der Film 2019 auf dem Sundance Festival. In Deutschland holte das Filmfest Hamburg das Porträt in ihr Programm von 2019.

Das ist doch in der Woche mit einem Zugpferd wie „Tenet“ eine ganze Menge. Auf ins Kino. Im September geht es dann mit „cinearte“ weiter. Die Zeiten bleiben spannend.

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