Radikales Kino

„Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“: In seinem Spätwerk arbeitet sich Edgar Reitz nochmal an der Frage nach der Wahrheit ab. Die ist nicht absolut, findet er mit 92. „Es gibt eine Wahrheit, die gibt es nur in der Wissenschaft, und dann gibt es eine andere, nämlich eine künstlerische Wahrheit.“ | Foto © Weltkino/Ella Knorz
Leibniz ist der richtige Philosoph für unsere Zeit, findet Edgar Reitz. Zehn Jahre lang hat er an seinem Alterswerk gearbeitet: „Ich wollte nicht über Leibniz erzählen, sondern aus ihm heraus“.
Filme macht man für seinen Anteil an der Welt, meint Edgar Reitz. „Ich träume nachts von meinen Figuren, ich wache mit Bildern auf. Die Frage, ob mein Film sich am Markt bewährt, ist mir in solchen Momenten völlig egal. Ich will Filme machen, die berühren, die herausfordern.“
Zum Beispiel mit Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Vordenker der Aufklärung ist für ihn der richtige Philosoph für unsere Zeit. „Ich habe über zehn Jahre an dem Thema gearbeitet. Anfangs wollte ich ein großes Biopic machen, ein Zeitbild einer nach 30 Jahren Krieg verwüsteten Welt. Aber ich merkte, dass ich damit in Hollywood-Dimensionen komme“. erzählt Reitz im Interview mit Chris Schinke in der „Taz“.
Also schuf er stattdessen mit 92 beinahe ein Kammerspiel fürs große Kino, „mit wenigen brillanten Schauspielern fast bescheiden inszeniert“, gleichwohl ein „opulentes Alterswerk“, findet Thomas E. Schmidt in der „Zeit“ [Bezahlschranke], und noch mehr noch: „Im deutschen Film unter seinen heutigen Produktionsbedingungen ist das ein Glücksfall. Noch einmal: radikales Kino.“
In „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ gehe es auch um den Unterschied zwischen Kunst und Philosophie, erklärt Reitz im Interview mit Bert Rebhandl in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ [Bezahlschranke]. „Es gibt eine Wahrheit, die gibt es nur in der Wissenschaft, und dann gibt es eine andere, nämlich eine künstlerische Wahrheit. Ob eine Person in ihrer ganzen inneren Wahrhaftigkeit und Tiefe in einem Gemälde dargestellt werden kann, ist eine enorm wichtige Frage.“
Praxisnäher spricht er im „Taz“-Interview über die künstlerische Wahrhaftigkeit. „Ich wollte nicht über Leibniz erzählen, sondern aus ihm heraus“. Das war auch eine Frage von Form und Stil – etwa die Kulisse: Originalmotive fand Reitz zu „museal, steril. Ich wollte eine Umgebung, die authentisch ist. Also beschlossen wir, das Set im Studio zu bauen. Aber dann sah ich mich vor einem neuen Problem: Im Studio ist alles so, wie man es sich ausgedacht hat. Alles ist Wille. Und das genügt mir nicht. Ich brauche Widerstände, Zufälle. […] Wir haben gesagt: Diese Räume hat Leibniz vielleicht einmal bewohnt, aber seit zwanzig Jahren nutzt sie die Gärtnerei als Lager. Dann haben wir sie mit Dingen überzogen, die nichts mit unsrer Filmhandlung zu tun haben. Geräte, Gerümpel, Spuren von Vergangenheit. Noch während der Dreharbeiten haben Requisiteure immer wieder Neues hineingeschmuggelt. So bekam der Studiobau ein wenig Eigenleben. Und mit den Schauspielern zusammen konnte ich unbekannte Räume erkunden. Wie man sich hinsetzt, woran man sich stößt, das beeinflusst das Spiel und macht es lebendig.“
