Stimmungsbarometer und Frühwarnsystem

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Wenn am Set was schieflief, will keiner etwas gewusst haben. Oder weiß noch ganz andere Sachen zu erzählen. Da wär’s doch ganz gut, wenn die Produktion schon vorher wüsste, wo etwas klemmt. | Foto © Adobe Stock

Regeln, Workshops und Ansprechstellen sollen für ein sicheres Arbeitsklima sorgen. Ob dann auch wirklich alles gut läuft beim Dreh, ist eine andere Frage. Eine App soll den täglichen Überblick verschaffen. „Call It!“ fragt Cast und Crew anonym nach Problemen und Stimmung am Set und gibt Produktionen die Chance, rasch zu reagieren, sagt Kate Wilson, die die App mit Jules Hussey und Delyth Thomas entwickelt hat. 

Frau Wilson, „Call It!“ soll für gute Arbeitsbedingungen beim Film sorgen: Die App fragt, wie es auf der Arbeit war – geantwortet wird nach einem simplen Ampelsystem, wie man es aus dem Supermarkt kennt. Reicht das? Schließlich geht es laut Ihrer Website um eine ganze Menge: „Gesundheit und Sicherheit, Arbeitsbedingungen, inakzeptable Verhaltensweisen und Schutzmaßnahmen sowie Fälle von Mobbing, Belästigung und Diskriminierung“.
Die App stellt drei verschiedene Fragen: Zuerst die allgemeine Frage „Wie wurden Sie heute am Arbeitsplatz behandelt?“ Hier können Sie tatsächlich mit dem Ampelsystem angeben, ob es gut, okay oder schlecht war. 
Die zweite fragt, ob Sie Bedenken haben in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit, Arbeitsschutz oder Arbeitsbedingungen – oder (und das ist wichtig) ob Sie bestätigen, dass Sie keine dieser Bedenken haben.
Die dritte Frage ist, ob Sie Mobbing oder Belästigung erlebt haben. Wenn Sie mit „Ja“ antworten, erhalten Sie eine Liste von Diskriminierungsarten (wie sexuelle Belästigung, Rassismus oder Ableismus) und können ankreuzen, ob eine dieser Arten auf Ihre Erfahrung zutrifft.  

Das sind alles Themen, über die lange geschwiegen wurde. Warum sollte ich nun einer App vertrauen?
Bei den Antworten handelt es sich ausschließlich um quantitative Informationen, die völlig anonym sind. Wenn Sie mehr über Ihre Erfahrungen berichten möchten, zum Beispiel darüber, wer Ihnen etwas angetan oder gesagt hat, finden Sie hier den richtigen Weg – einschließlich zweier Personen, mit denen Sie ein vertrauliches Gespräch beginnen können, und Links zu den relevanten Richtlinien und Verfahren Ihrer Produktion.
Bei „Call It!“ versuchen wir, Informationen, die anonym weitergegeben werden können, von solchen zu trennen, die in einem formelleren Verfahren weitergegeben werden müssten, um Sie zu schützen und sicherzustellen, dass die Menschen fair behandelt werden.

Sie haben „Call It!“ zu Dritt entwickelt. Jules Hussey und Kate Wilson sind Produzentinnen, Delyth Thomas ist Regisseurin. Das sind eigentlich zwei Berufsgruppen, die da besonders in die Kritik kommen könnten. Was war Ihre Motivation?
Jeder Mensch, der in unserer Branche arbeitet, ist anfällig für schlechte Behandlung und Diskriminierung.  Wir haben alle drei in unserer beruflichen Laufbahn an verschiedenen Stellen selbst Diskriminierung erfahren. Wir geben auch zu, dass wir alle möglicherweise (unwissentlich!) jemanden gemobbt oder das Gefühl gegeben haben, schlecht behandelt zu werden.
Es ist wichtig zu akzeptieren, dass es bei Mobbing um die Wirkung geht, nicht um die Absicht. Manchmal sind wir uns nicht bewusst, dass wir uns so ausdrücken oder handeln, dass wir andere verletzen – wir sind alle verschieden und haben unterschiedliche Empfindlichkeiten, Schwellenwerte und Vorurteile. Ich akzeptiere also, dass ich vielleicht jemanden gemobbt oder das Mobbing eines Kollegen durch einen anderen übersehen habe, indem ich es als unbedeutend oder unwichtig abgetan habe, obwohl es ernsthafte Auswirkungen auf ihn hatte. 
Die „Call-It!“-App versucht, das Gespräch über Mobbing in einem psychologisch völlig sicheren Raum, einem anonymen Raum zu beginnen. Wir hoffen zwar, dass wir in unserer Branche Vertrauen aufbauen und anfangen können, offener über diese Dinge zu sprechen, aber die Menschen sollten sich nie gezwungen fühlen, ihre Erfahrungen mitzuteilen, bevor sie dazu bereit sind. Wir wissen nämlich, dass die Meldung von Mobbing die psychische Gesundheit, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und den Ruf einer Person gefährden kann. Deshalb möchte ich, dass für Betroffene ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden an erster Stelle steht, während sie den Vorfall für ihren Arbeitgeber aufzeichnen.   

In Großbritannien startete die App vor drei Jahren. Wie waren die ersten Reaktionen aus der Branche?
Nach unserer anfänglichen Konsultationsphase, den Pilotprogrammen und der Erprobung des Konzepts arbeiten wir nun seit etwa 18 Monaten aktiv in der britischen Industrie.  Manchmal hat es sich wie ein langsamer Prozess angefühlt, aber das mag daran liegen, dass wir alle Film- und Fernsehschaffende sind – und wir wollen, dass es schnell geht! 
Wir haben jetzt offizielle Unterstützungen aus der gesamten Branche, einschließlich der Gewerkschaften und Berufsverbände, und wir bauen unseren Kundenstamm sehr schnell auf. 

„Call It!“ ist für die Filmschaffenden kostenlos, aber die Produktionsfirmen müssen eine monatliche Gebühr entrichten, die von der Nutzung abhängt. Sie beginnt bei umgerechnet  58 Euro und kann bis zu 700 Euro kosten. Wie stark wird das genutzt?
Inzwischen wurden wir bei über 100 Projekten eingesetzt, wir verbreiten uns sehr schnell in der britischen Film- und Fernsehbranche und kommen gerade auch mit anderen Branchen ins Gespräch.
Die Kosten sind für die Produktion sehr niedrig, aber wir gewähren auch gerne Rabatte für kleinere Projekte. Unser Unternehmen ist nicht gewinnorientiert – unsere Mission ist, die Arbeitsplatzkultur in Film und Fernsehen zu verbessern, nicht Geldverdienen.   

Können Sie irgendwelche Auswirkungen oder Effekte erkennen?
Ja! Einige Crew-Mitglieder haben die App bei mehr als einer Produktion verwendet und beginnen, sie besser zu verstehen, die Produzent*innen werden immer sicherer im Umgang mit den Daten und werden proaktiv. Unser Hauptaugenmerk liegt zurzeit darauf, die Produzent*innen eben dazu zu ermutigen: die von den Daten gelieferten Einblicke zu schätzen; und den enormen Wert der Daten über die Arbeitsplatzkultur hinaus für Risikomanagement und Regelungen zu erkennen. 

Seit Februar gibt es „Call It!“ in 12 Sprachen. Das ist eine Menge auf einmal und klingt nach einem großen Plan.
Wir waren sehr daran interessiert, die App in europäische Sprachen zu übersetzen, um Koproduktionen zu erleichtern. Es wird einige Zeit dauern, Partner zu finden und mit Film- und Fernsehmachern in jedem Land in Kontakt zu treten. Ich habe es nicht eilig, denn ich möchte es richtig machen und sicherstellen, dass wir in jeder Sprache die gleiche Qualität an Service und Unterstützung bieten. Im Idealfall habe ich in jedem Land einen wichtigen strategischen Partner, der mir dabei hilft, die Ressourcen und den rechtlichen Rahmen so zu gestalten, dass die App ihre Aufgabe richtig erfüllen kann.  

Über problematische Arbeitsbedingungen wurde schon lange geklagt. Inzwischen werden sie immer mehr zum Thema. Woher kommt das? Sind das die Erfahrungen im Zuge von MeToo? Oder die Streamer mit ihren sensiblen Terms of Conduct? Oder will die junge Generation bloß nicht mehr richtig arbeiten, wie manche behaupten?
Es ist wohl eine Kombination von Dingen, die zur gleichen Zeit geschehen. Viele Gruppen, die sich diskriminiert fühlen, schließen sich jetzt zusammen und verleihen ihren Stimmen Nachdruck. Wir wissen, dass vielfältige Stimmen unerlässlich sind, wenn wir die bestmöglichen Filme machen und die robustesten Unternehmen führen wollen.
Junge Menschen sind sich ihrer Rechte bewusster und erwarten, dass sie am Arbeitsplatz fair behandelt werden – und alle Macht für sie! Es ist erwiesen, dass es im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmen liegt, den Menschen einen sicheren und fairen Arbeitsplatz zu bieten, der möglichst frei von Diskriminierung ist. Wenn wir also großartige Filme machen und erfolgreiche Unternehmen führen wollen, müssen wir diese Arbeit meistern und uns als Branche weiterentwickeln.  

Es soll ja Filmemacher geben, die vergleichen Dreharbeiten mit Krieg. Da müsse es eben klare Ansagen geben und der Ton könne auch schon mal rau werden …
Ganz ehrlich: In einer Welt, in der die Titelseiten mit Bildern aus der Ukraine und dem Gaza-Konflikt bedeckt ist, werde ich diese Frage nicht beantworten. Wir arbeiten hart und erwarten viel von Cast und Crew, wenn wir Filme machen – aber wir sind nicht im Krieg. 

Dem Arbeitsklima schadet nicht nur Machtmissbrauch von oben, sondern auch Mobbing und Diskriminierung untereinander. Was ist eigentlich das größere Problem?
Ich glaube, dass Mobbing und Belästigung in alle Richtungen wirken: nach oben, unten, links, rechts, hinten, seitwärts. Machtdynamik kann viele andere Elemente als den Job oder die Rolle beinhalten, und wir leben in einer alles andere als fairen Gesellschaft.  Unsere App richtet sich an alle – auch an Führungskräfte, die möglicherweise selbst von Mobbing betroffen sind. 

Auch in Deutschland gibt es inzwischen Vertrauensstellen und Terms of Conduct oder den Beruf des Intimacy Coordinator. Diversität, Inklusion und vieles mehr wird auf Panels diskutiert. Bei all diesen Themen scheinen die angelsächsischen Länder schon weiter. Wie sehen Sie von Großbritannien aus Europa?
Wir alle versuchen, einen unglaublich komplexen Arbeitsbereich besser zu verstehen.  Es mag den Anschein haben, dass das Vereinigte Königreich in mancher Hinsicht weiter ist, aber das bedeutet nicht, dass wir es richtig machen – es geht hier auch ein bisschen nach der Methode „trial and error“. Wir haben schnell auf die MeToo-Bewegung reagiert, aber wir hatten noch keine Gelegenheit, die Wirksamkeit einiger der Reaktionen zu messen oder nicht.  Wir müssen alle weiterarbeiten und uns vorwärts bewegen. Unsere App ist ein winziger Teil einer komplexen Welt der Arbeitsplatzkultur, aber wir glauben, dass sie sehr wirkungsvoll sein kann.