#allesdichtmachen, Folge 3: Von Drahtziehern und Medienkritik
Die Debatte um die Aktion #allesdichtmachen geht weiter und wird immer vielfältiger. „Der Tagesspiegel“ präsentiert eine eigene Verschwörungstheorie. Jan Josef Liefers steht zu seiner Medienkritik, und Medienkritik übt auch die Wissenschaft. Und aus dem „Maschinenraum der Kulturarbeit“ erklärt ein Kollege, warum die Aktion nur geschadet hat. Wir führen durch die neuen Beiträge.
Verschwörungstheorie ist zurzeit ein schwieriger Begriff, den wir darum nicht leichtfertig verwenden. Doch „Der Tagesspiegel“ hat tatsächlich eine und sieht ein „antidemokratisches Netzwerk hinter #allesdichtmachen.“ Schon vorige Woche hatte die Zeitung nach den Hintergründen der Aktion recherchiert und, wie etliche andere auch, den Regisseur Dietrich Brüggemann als kreativen Kopf hinter der Aktion vermutet. Mit dem Recherchenetzwerk Antischwurbler hat die Zeitung weitergesucht und korrigierte sich gestern: Allmählich entstehe nämlich ein „viel komplexeres Bild der Entstehungsgeschichte“ – „#allesdichtmachen kam nicht aus heiterem Himmel“.
Als „ominösen Drahtzieher aus dem Querdenker-Milieu“ machen die Journalist*innen den Arzt Paul Brandenburg aus, Begründer der Initiative „1bis19“, die als Protest gegen die Corona-Maßnahmen entstand: „Brüggemann ist keineswegs nur Unterstützer von ,1bis19‘. Er und Brandenburg teilen sich auch ein Berliner Postfach. […] Im Wissen um die Verbindungen Brüggemanns zu Brandenburg kommt auch die Frage der Autorenschaft von #allesdichtmachen wieder auf, das der Regisseur weiterhin als ein Gemeinschaftsprojekt der Beteiligten bezeichnet. In den Medien, unter anderem dem ,Tagesspiegel‘, wurde in den vergangenen Tagen vermutet, dass Brüggemann der Hauptautor der Videos sein könnte. Ein genauerer Blick auf die Texte lässt allerdings Zweifel an dieser Theorie aufkommen.“
Die Skripte bedienten zahlreiche Themen, die auch auf „Querdenken“-Bühnen und in „alternativen Medien“ vorzufinden seien. „Die satirische Inszenierung der Corona-Maßnahmen findet sich etwa auch im Konzept der Aktion ,Schwarze Wahrheiten‘ wieder.“ Im März hatte Brandenburg auf dem Youtube-Kanal „Kaiser TV“ (ab Minute 14:00) von bekannten Namen „aus dem Medien- und Kunstbereich“ erzählt, die seiner Meinung seien: „Wir stehen kurz davor, dass sich sehr viele outen werden. Und ich freue mich auf diesen Tag.“
Für den „Tagesspiegel“ wird somit „immer klarer, dass #allesdichtmachen nicht bloß die spontane Äußerung einer Gruppe von ernstlich besorgten Filmschaffenden ist, als die sie Dietrich Brüggemann in den Medien darstellt. Sondern Teil einer größeren Kampagne, die eine antidemokratische Agenda verfolgt.“
„Wer genug hat von dem Ärger um #allesdichtmachen, den muss man an dieser Stelle enttäuschen: Die Sache ist leider noch nicht erledigt“, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ von den Recherchen beim „Tagesspiegel“. Ganz so weit wie die der Kolleg*innen will sie aber nicht gehen: „,Der Tagesspiegel‘ sieht in Brandenburg nicht nur eine Figur im Hintergrund von #allesdichtmachen, sondern wirft ihm gleichzeitig Nähe zu neurechten und antidemokratischen Positionen vor. Auf Anfrage der ,SZ‘ bestreitet Brandenburg am Sonntag beides auf seiner Webseite. An #allesdichtmachten sei er ,leider gar nicht‘ beteiligt gewesen, auch wenn er ,durch persönliche Bekanntschaft früher als die Öffentlichkeit von der Aktion‘ erfuhr. Außerdem habe er keine Nähe zu ,undemokratischen und potenziell aggressiven Ideologien und Gruppen‘, doch ,unbeschadet dessen‘, fährt Brandenburg fort, teile er ,nicht die Einschätzung, dass die Mitglieder oder Unterstützer der ,Querdenken‘-Gruppen mehrheitlich und grundsätzlich als undemokratisch, extremistisch, aggressiv oder aus vergleichbaren Gründen aus unserem gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen sind‘. Nach seiner Darstellung gehört Brandenburg keiner Querdenker-Gruppierung an, aber er ,teile die Sorge‘ dieser Menschen.“
Die zitierten Äußerungen haben wir auf Website von Paul Brandenburg (Eigenbeschreibung: „Träger verschiedener Titel und Auszeichnungen durch staatliche, aber auch seriöse Instanzen“), nicht gefunden. Aber ein klares Bekenntnis, dass sie zusammenfasst: „Glaubt nur noch an die Notwendigkeit von Demokratie und die Unzulässigkeit von Todesstrafen.“
„Aus’m Maschinenraum der Kulturarbeit“ berichtet der Musiker Yogi Jokusch, seit 30 Jahren im Beruf, seit 16 Jahren in der Gewerkschaft, auf „Menschen machen Medien“: „Genauso lange war ich Freischaffender, hab etwa 250 CD-Produktionen gemacht, drei davon mit Ulrich Tukur. Gerade bin ich pleite, ohne jede Aussicht auf Bundeshilfen oder die Chance auf Hartz 4, weil Immobilienkredite nicht übernommen werden und Streams, Online-Musik-Unterricht und Privatkredite doch ein wenig zu viel eingebracht haben. Kurz: Alles dufte und jetzt alles kaputt. Seit Mai 2020 engagiere ich mich in einem Projekt des Hamburger Verdi-Bezirks, das darauf zielt, die Gewerkschaft bei meinen soloselbständigen Künstler-Kolleg*innen bekannt zu machen und sie im besten Fall zu organisieren. […] Ich hab auch bei den Top Acts, der ,Elite‘, den Prominenten ganz regelmäßig angeklingelt. No reaction. Na klar, dachte ich mir. Gewerkschaft? Nicht sexy genug. Also habe ich gehofft, dass jemand aus der Elite irgendwann von alleine anfangen würde, für eine Organisation von Künstlern zu werben. Dass einer mit gutem Beispiel vorangeht. Vielleicht Jan Josef Liefers? Der hat ja eine Band und eine Crew, die jetzt auch ziemlich am Ende ist. Über ein Jahr lang blieb einzig Till Brönner das Highlight. Der hatte ja beklagt: Wir haben keine Lobby. Unsere Gewerkschaftssekretärin hat ihm geschrieben, eine Antwort kam nicht. […] Stattdessen kamen der Winter und die unsäglichen Bundeshilfen, die immer noch nicht ganz ausgezahlt sind, obwohl draußen die Kirschen blühen. […] Für #allesdichtmachen haben bekannte Schauspieler*innen dann Zeit gefunden. Die Aktion war für mich und für viele andere aus der ,Komparsarie‘ ein Schock. Die Videobotschaften haben meiner Ansicht nach nichts, aber auch gar nichts Positives gebracht. Ich halte sie für eitel, elitär und unbedacht. Die Auswirkungen waren direkt spürbar: Einen Tag nach der Aktion konnten wir einen gesprächsbereiten, jovial lächelnden Minister Spahn bewundern, der natürlich deutlich vermittelte, dass der Diskurs immer funktioniere in Deutschland; und eine aufgebrachte Frau Grütters, die Ihr Kultur-Ressort lobte, das (trotz dieser Unartigkeit) einen doppelten Jahresetat hat, als einziges Ressort überhaupt. Wieder war die Regierung in die Lage versetzt worden, ihre Hymne von den schnellen, unbürokratischen, umfassenden und sozialen Hilfen für die Kultur zu singen.“
Spaltet Corona das Land? Über #allesdichtmachen wurde auch in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ diskutiert, berichtet „Der Tagesspiegel“: „Schnell kam es zum Abgleich der Standpunkte“: Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki fand die Video-Aktion sehr pointiert, auch sein Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister der „Modellstadt Tübingen“, dankte. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher fragte nach der Botschaft, die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim wünschte sich Diskussionen, die nach vorne streiten würden. „Genervt zeigte sie sich davon, dass über #allesdichtmachen immer noch geredet werde. Medial würden die belohnt, ,die am lautesten schreien‘. Bitte nicht so viel Aufmerksamkeit für extreme Aktionen, war ihre Forderung. ,Wir dürfen nicht zulassen, dass Minderheiten unsere Diskussionen bestimmen.‘“
Und der Schauspieler Jan Josef Liefers blieb sich treu. „Moderatorin Maybrit Illner orchestrierte die pluralistische Runde mit Bedacht. Ihre Fragen und Nachfragen suchten die jeweilige Position auszuleuchten, herauszufinden, ob hinter dem starken Statement auch das starke Argument zu finden sei. Diese Talkshow hatte zum Ziel, im Für und Wider das Meinungs- und Verhaltensspektrum zu den Corona-Maßnahmen darzustellen. Es galt nicht, Sieger und Besiegte festzumachen, die Mehr- oder Weniger-Rechthaber zu fixieren. Die 60 Minuten haben gezeigt, dass wenn auch de Geduldsfaden reißt, der Gesprächsfaden nicht gleich mit abreißen muss.“
Das Echo auf #allesdichtmachen war für Liefers „wie ein Knalltrauma“. Der Schaupieler hatte in seinem Video „die Medien“ kritisiert, die „dafür sorgen, dass der Alarm genau da bleibt, wo er hingehört, nämlich: ganz, ganz oben.“ Der „Berliner Zeitung“ erklärt er eine Autofahrt lang, warum er bei der Aktion mitgemacht hat und warum er weiter zu seiner Schelte steht: „Als das losging mit Corona, konnte es mir gar nicht schnell genug gehen mit den Maßnahmen. Ich habe gedacht, Deutschland ist viel zu zaudernd. Macht bloß schnell die Schulen dicht! Dann habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen, wurde ein Riesenfan vom Drosten-Podcast, sah alle Nachrichten, las Zeitungen, merkte aber im Laufe der Monate, dass dieses mediale Trommelfeuer immer homogener und dichter wirkte. […] Das wurde uns ja schon im Osten immer gesagt: Wer die DDR kritisiert, der spielt dem Klassenfeind in die Hände. Heute heißt es: Wer Corona-Maßnahmen kritisiert, spielt den Rechten in die Hände. […] Mit solchen Vergleichen begibt man sich immer auf dünnes Eis. Natürlich sind wir nicht in der DDR. Wenn man damals so ein Video verbreitet hätte, hätte man mich wahrscheinlich eingesackt und in den Knast gesperrt. Das passiert heute nicht. Aber der Satz, man könne heute alles sagen, ist auch ein wenig blauäugig. […] Wenn ich für irgendetwas stehe, ist es die offene Gesellschaft. Und ich verteidige die Pressefreiheit auch dann, wenn sie sich gegen mich richtet. Wäre doch gut, wenn die Presse umgekehrt die Kunstfreiheit genauso verteidigen würde, selbst wenn die sich mal gegen sie wendet. […] Wir haben ja nicht zum Umsturz aufgerufen oder den Reichstag gestürmt. Und wann in den letzten zehn Jahren gab es denn mal einen Protest, der so viel Widerhall fand? Die Wahrheit ist doch: Die Entertainmentbranche ernährt doppelt so viele Mitarbeiter wie die Autoindustrie. Kultur ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Wir haben mehr Umsatz als die Lufthansa, auch wenn man gerade das Gefühl hat, Kunst rangiert so zwischen Spaßbad und Puffbesuch.“
„Die-Medien-und-die-Politik“ gibt es nicht, und das sollten auch alle langsam wissen, meint die Kommentatorin bei „Menschen machen Medien“: „Schon lange und jetzt erst recht zeigt sich in Debatten, dass es einfacher ist, zu pauschalisieren, als sachlich zu diskutieren.“ Aber was sei denn, ganz konkret, das Problem? „Wir alle ringen um die Themen, die wachsende Themenvielfalt, nehmen wahr, beruflich und auch privat, dass Corona-Politik die Gesellschaft zunehmend spaltet. Wir berichten darüber, sprechen mit Wissenschaftlern, die bei identischen Zahlen zu komplett verschiedenen Ansichten kommen. Berichten über die Opposition, über Verfassungsbedenken, über Gastwirte, Künstler*innen, deren Nöte, deren Proteste, reden mit Kita-Erzieher*innen, Kinderärzt*innen, die zunehmend verzweifeln. Aber das wird offenbar nicht wahrgenommen. Hängen bleibt: Die sagen, was ,die‘ Regierung sagt, es geht immer nur um Corona und das alles so muss wie es muss. Das ist nachweislich Quatsch. Kann man schnell nachprüfen. Aber dazu hat offenbar kaum noch jemand Lust oder Kraft. Und das macht mich endgültig ratlos.“
Medienschelte kann aber auch die Wissenschaft. Dem „Spektrum“ zeigt das Medienecho auf die Aktion vor allem dies: „Wir haben nur noch Boulevard“: „Dass wir in einer Aufmerksamkeitsökonomie leben, hat sich herumgesprochen. In Rechtfertigungen, warum wir guten Journalismus brauchen, heißt es dann sinngemäß: In den Sozialen Medien wird halt unterschiedslos jeder Quatsch hochgekocht, wenn er nur empörend genug ist. Wir brauchen Journalist*innen nicht zuletzt als Kuratoren: Um das in die öffentliche Diskussion zu bringen, was tatsächlich wichtig ist. Aber #allesdichtmachen im Kontrast zur Niedriginzidenz-Strategie zeigt leider: Eine ähnlich oberflächliche Dynamik, nur redaktionell gesteuert, bekommen Qualitätsmedien ganz gut alleine hin.“
Die Wissenschafts-Site hat nämlich nachgezählt, wie beide Aktionen in den Medien aufgegriffen wurden – also die künstlerische Protestaktion der Schauspieler*innen und der im Aufruf zahlreicher Wissenschaftler*innen im Januar „für eine Strategie der konsequent niedriggehaltenen Infektionszahlen, nicht nur als Gesundheitsschutz, sondern auch um das wirtschaftsschädigende Auf-und-Ab halbherziger Maßnahmen zu verhindern.“
Spoiler: Kunst 51, Wissenschaft 5. „Es ergibt sich: ein trauriges Bild. Zeitungen, die sich bei anderen Themen zugutehalten, nicht an den Oberflächlichkeiten hängenzubleiben und stattdessen Substanz zu bieten – eben im Kontrast zu den Boulevardmedien – geben hier volle Kante Clickbait. Sie schieben damit eine der damals wichtigsten Diskussionen – wie wollen wir als Gesellschaft die Covid-Pandemie bekämpfen? – zur Seite, ohne näher darauf einzugehen. […] So karg und steril die Berichte über die Niedriginzidenz-Strategie, so fetzig die Beiträge zu #allesdichtmachen. Bei diesem Thema überschlagen sich ,Süddeutsche‘, ,Spiegel‘ und ,FAZ‘ wie die sensationsgeilsten Boulevardblätter. Ein Thema mit vergleichsweise wenig Substanz, aber einer gehörigen Ladung A- und B-Promis, überzogener Kritik und Empörung, das zudem in das Cancel-Culture-oder-Meinungsfreiheit-Schema passt, wird mit allen Regeln der Kunst gemolken […], kommen hier so gut wie alle Formate zum Einsatz: Bericht, Glosse, Kommentar, Gastkommentar, Video, Podcast, Videokommentar, Kolumne, Sekundärberichterstattung über Reaktionen und über Reaktionen auf Reaktionen, Leserbefragung. Was hätte man alles zur Niedriginzidenzstrategie machen können. Machbarkeitsanalysen wären nur der Anfang gewesen. […] Und die Debatte wäre in eine extrem wichtige Zeit gefallen. Das war ja gerade die Zeit vor dem Weihnachtslockdown, als die Frage war, wie es weitergehen würde; das war kurz bevor die MPK-Konferenz als Einigungsgremium zerfiel; das war vor dem neuen Infektionsschutzgesetz. Und ja, natürlich hätte eine öffentliche Debatte einiges an Folgen gehabt – wie denn auch nicht.“
Doch das hätte auch mehr Arbeit bedeutet. „Und wenn der ganze Pandemieverlauf in ein paar Jahren einmal aufgearbeitet werden wird, dann […] zumindest in einer Fußnote wird es auch darum gehen, wie dem Selbstverständnis nach seriöse Zeitungen sich bei der Niedriginzidenz-Strategie um ihre mühsamen Hausaufgaben drückten, um stattdessen bei der leichten Kost der #allesdichtmachen-Empörung so richtig Party zu machen. Und wie sie damit eben auch ihren Teil dazu beigetragen haben, dass wir als Gesellschaft derzeit bei einer der größten aktuellen Krisen in einiger Hinsicht gar keine gute Figur machen.“
Beim „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ („RND“) hatte der Leiter des Gesellschaftsresorts die Aktion vorige Woche kommentiert – und warum sie „eine Verhöhnung der Corona-Toten ist.“
Mehr als 400 E-Mails habe er zu seinem „klar als Meinungsbeitrag gekennzeichneten Text“ erhalten, berichtete das „RND“ am Freitag. „Zwei Drittel von ihnen sind übel beleidigend und weit von dem entfernt, was man gemeinhin Diskurs oder Debatte nennt. Kontrovers haben wir innerhalb der Redaktion darüber diskutiert, ob wir die verstörenden Originaltöne veröffentlichen sollen – oder ob wir darauf verzichten, um denjenigen, die sich gern hinter Fakenamen wie ,Johnny Depp‘ verstecken, keine Bühne zu geben. Wir begrüßen es außerordentlich, wenn sich Leserinnen und Leser kritisch mit unserer Arbeit auseinandersetzen, andere Meinungen vertreten und mit Argumenten in den Dialog treten. Wir sind jedoch nicht bereit, das Überschreiten verbaler Grenzen zu akzeptieren – zumal dann nicht, wenn sie justiziabel sind. Was Journalistinnen und Journalisten tagtäglich an Hass und Gewalt entgegenschlägt, überschreitet immer mehr das Maß des Erträglichen. Es wäre falsch, darüber hinwegzusehen.“
Der NDR und „Der Tagesspiegel“ berichten: „Grimm sei als ,verficktes Nazi-Schwein‘, als ,systemkonforme Hure‘ und als ,Versagerpussy‘, die ,das Schlimmste verdient‘, beschimpft worden. Verbunden sei dies mit dem Ausspruch ,Verrecken Sie bitte, ,Spasti‘ gewesen. Das ,Redaktionsnetzwerk Deutschland‘ habe in dem Fall inzwischen Strafanzeige erstattet und werde dies grundsätzlich auch in Zukunft tun.“
Es sei nun „genug Häme über unseren Kolleg*innen ausgeschüttet worden“, meint Lisa Jopt, Mitgründerin des Ensemble-Netzwerks der Theaterschaffenden. „Ich denke, die wenigsten würden mit ihnen jetzt tauschen wollen. Und jeder hat das Recht auf künstlerisches Scheitern.“ „Der Tagesspiegel“ will wissen: Was erzählt uns die Woge der Aufregung? „Da kommt vieles zusammen. Alle sind frustriert, die Durchhaltedisziplin geht uns aus. Die Asymmetrie zwischen sozialen und kulturellen Beschneidungen, die Tatsache, dass es noch nicht mal eine Maskenpflicht in wirtschaftlichen Betrieben gibt, das ist für fast niemanden mehr nachvollziehbar. Außerdem wurden uns die Katharsis-Räume genommen. Empört aus dem Theater zu gehen, oder im Foyer angeregt zu diskutieren – geht nicht mehr. In Kneipen vor Freude oder vor Kummer saufen – geht nicht mehr. Alles Reinigungsmöglichkeiten für die Seele. Und so werden die Kommentarspalten im Internet zu digitalen Brechtüten. Aber es erzählt uns auch, dass wir Sehnsucht nach schnellen und konsequenten Lösungen haben.“
Im Ensemble-Netzwerk sei die Aktion aber kein Thema gewesen: „Wir haben das nicht mit unserer Basis diskutiert – und sie hat uns als Vorstand auch nichts übermittelt. Die Basis ist an guten Betriebsvereinbarungen, Geschlechtergerechtigkeit, Antirassismus, fairen Gagen, neuen Tarifverträgen und modernen Führungsstilen interessiert.“
Im Fernsehen erklärt Harald Lesch die Welt und die Wissenschaft. Und die liege mit ihren Prognosen „meist genau richtig“, sagt der Professor für Astrophysik im Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. „Das Virus ist eine molekulare Maschine, der ist es völlig egal, wen sie befällt. Das ist uns völlig abhandengekommen: Etwas anzuerkennen, womit wir nicht verhandeln können. Für den Klimawandel gilt das übrigens genauso –wir glauben immer noch, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Dabei laufen die Dinge genau so, wie die pessimistischsten Modelle es vorhersagen. […] Es wird zu viel gemeckert und zu wenig auch mal ausgehalten. Kein Mensch hat dieses Virus hier gewollt. Und wir müssen uns irgendwie der Tatsache stellen, dass es sich dabei um eine Art Naturkatastrophe handelt, wie sie uns in dem Ausmaß noch nie begegnet ist. Es ist erstaunlich, dass wir glauben, so einer außergewöhnlichen Situation mit den Rezepten der Normalität begegnen zu können.“
Wie man einen Shitstorm entfacht, konnte der Comedy-Autor Sebastian Hotz schon vorher erklären. Schließlich folgen „El Hotzo“ auf Instagram mehr als 681.000 Menschen, auf Twitter fast 138.000, erklärt die „Berliner Zeitung“. Der sagte Hotz vor zwei Wochen im Interview: „‚Cancel Culture‘ wird oftmals mit berechtigter Kritik verwechselt. Wenn ich mich als öffentliche Person über Minderheiten lustig mache, dann muss ich mit Gegenwind rechnen. Ich würde politisch inkorrekte Witze nicht verbieten wollen. Aber man muss halt mit den Konsequenzen rechnen, wenn man andere Personen mit seinen Witzen verletzt.“
Im Übrigen blickt er auf Instagram zuversichtlich in die Zukunft (Vorsicht: Ironie): „Nach der Pandemie wird so entspannt, dann müssen wir uns endlich nicht mehr um die Leute sorgen, die Corona leugnen, sondern nur noch um die, die behaupten, dass es den Klimawandel, strukturellen Rassismus oder das Patriarchat nicht gibt, herrlich.“
Das Problem des Feedbacks auf diesen Schauspieler-Auftritt ist – so denke ich -, dass Ironie voraussetzt, dass die Inhalte, die ironisch dargestellt werden, dem Publikum weitgehend bekannt sind und von ihm akzeptiert werden. Bei einem Kabarettauftritt lacht das Publikum über das, was es sich eh schon gedacht hat, und freut sich erleichtert, dass der Künstler es mal auspricht. Aber hier sitzen im Publikum natürlich noch andere. Und unsere Gesellschaft zeigt ja bezüglich der Pandemie eine Spaltung – die es schon immer gegeben hat, sie war nur nicht so deutlich.
Ich sehe – grob betrachet – drei Gruppen: 1. Gruppe: die, die das in den sogenannten Leit-Medien Publizierte unhinterfragt annehmen. 2. Gruppe: die, die das Publizierte faktisch hinterfragen und eine 3. ich-weiß-nicht-so-recht-Gruppe.
Das Problem: zu den faktischen Hinterfragern der Gruppe 2 gesellen sich auch welche, die vor Vermutungen nicht halt machen (allgemein Verschwörungstheoretiker genannt). Es tummeln sich welche mit rechter Gesinnung. Und es tummeln sich dort Aggressive, die unflätig werden. Dumm gelaufen, denn somit hat nun die Gruppe 1 die Möglichkeit alle in einen Topf zu werfen und als Rechte, Verschwörungstheoretiker und Aluhutträger zu etikettieren. Damit – meint Gruppe 1 – haben sie dann alle vom Hals.
Da diese Schauspieler mit Ironie gearbeitet haben, haben sie den Prozess des Hinterfragens bereits vorrausgesetzt. Nun freut sich Gruppe 2, dass endlich mal Prominente den Mund aufmachen. Aber Gruppe 1 findet es notgedrungen empörend und schießt dagegen, denn schließlich stellt hier jemand das, was sie glauben, in Frage.
Nun zu sagen, das Ding wäre nach hinten losgegangen, weil sich Gruppe 1 beschwert, halte ich für falsch, da das logischer Weise zu erwarten war. Es ist also eigentlich alles gut, auch wenn hier jetzt ein bischen Chaos ist. Es wird diskutiert und in Talkshows ist mal was anderes los. 95% Daumen hoch für die Youtube-Videos sprechen auch für sich! Also alle Achtung vor dem Mut aller Mitmacher, vor Herrn Brüggemann und Jan Josef Liefers.
Schon Friedrich Freiherr von Logau, deutscher Schriftsteller Juni 1604, † 24.07.1655 hat es geahnt:
„In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.“
… und hier wurde der Mittelweg verlassen.
Und … es wird darüber diskutiert, ob man heute noch alles sagen darf! Und das ist leider, leider zu einer wichtigen Frage geworden.
Zu diesem Thema und zu #allesdichtmachen ein treffender Kommentar von Sahra Wagenknecht: https://www.youtube.com/watch?v=wqrXAYUtmbc