Kino in Zeiten von Corona 28
Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 1. Oktober 2020 – Teil 1.
Kaum hatte ich vorige Woche meine Kolumne an die Redaktion gegeben, in der ich von zahlreichen Startterminverschiebungen weg aus dem Oktober berichtete, da trudelten erste Meldungen zur umgeworfenen Startstaffel von Walt Disney Studios ein. Am Donnerstag kam die offizielle Pressemeldung. „Blickpunkt Film“ brachte seine Meldung entsprechend auf den neuesten Stand. „Black Widow“ wurde um gut ein halbes Jahr in den Mai 2021 verschoben. „The King’s Man – The Beginning“, im Gegenzug, wanderte zwei Wochen, na allerhand, auf Mitte Februar 2021 vor.
Unverrückbar bleibt der neue James Bond auf dem 12. November 2020. Universal zeigt seine Unterstützung, indem sie mit einem exklusiven Podcast an ihr Publikum herantritt, der ab sofort auf allen gängigen Plattformen erreichbar ist, um so die Zeit bis zur Startwoche zu überbrücken. Über sechs Folgen (allerdings in Englisch), will man einen „exklusiven Einblick hinter die Kulissen der 25. Bond-Mission“ gewähren und „vom Casting Director bis hin zum Special Effects Supervisor“ werden alle dabei sein. Die erste Episode verspricht „Bond in Context“, die letzte nennt sich dann „Being 007“. Aber mit anderen Worten, nur noch sechs Wochen und wir sind schon mitten im November. Geht es nur mir so? Die jährlich zum Ende der Sommerferien terminierte Platzierung von Weihnachtsgebäck in den Supermärkten wirkt für mich noch surrealer als in den vorigen Jahren.
Nachdem Netflix mit „The Trial of the Chicago 7“ und Apple TV mit „On the Rocks“ (beide in den Empfehlungen dieser Woche), den Weg in die Kinos wählen, lässt sich auch Sky nicht lumpen und bringt die ersten beiden Folgen ihrer Eigenproduktion „Hausen“, eine deutsche Horror-Mystery-Serie mit Charly Hübner, später im Oktober als Event-Kino auf ausgewählte Leinwände.
Kino wird vermehrt wieder angenommen. S&L Research hat inzwischen seine vierte Studie mit Marktforschungsergebnissen veröffentlicht. „Blickpunkt Film“ fasst die Ergebnisse zusammen und nennt auch die Gründe, warum man sich für oder gegen den Kinobesuch ausspricht: Dass die richtigen Filme fehlen, ist ein Grund, nicht ins Kino zu gehen. Der Wunsch, einen bestimmten Film zu sehen, ist ein Grund, doch das Kino des Vertrauens zu besuchen.
Die aktuellen Zahlen der Arthouse-Charts (Programmkino.de nennt diese zuverlässig) benennen den Neueinsteiger „Persischstunden“ auf dem ersten Platz sowohl im Segment der Gesamtbesucherzahlen als auch im Kopienschnitt. Der Einstieg der deutschen Produktion „Futur Drei“ auf Platz 2 der letzteren Rangliste ist sehr erfreulich. Fünf bis sechs Neueinsteiger in einer Top 10 zeugt doch davon, dass das Publikum entdeckungsfreudig ist. Derweil ist „Tenet“ weiterhin top und das in der sechsten Woche. „Blickpunkt Film“ fasst die ComScore-Zahlen zusammen. Nur das mit dem Abstand im Kino, darüber möchte man immer noch verhandeln. Und so hat die AG Kino einen Offenen Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel und an alle Ministerpräsidenten der Länder formuliert. Programmkino.de veröffentlicht den vollständigen Brief.
Der Film der Woche ist einer mit einem sehr schwierigen Thema; dabei handelt sich für mich um einen der schönsten und wichtigsten Film dieses Jahres. „Niemals Selten Manchmal Immer“, das ist ein sperriger Titel. Jedes Wort ist eine Option, darum bitte jede davon mit Betonung einzeln aussprechen. Die Szene, in der diese vier Optionen zur Wahl stehen, prägen sich ein, und fortan wird man über den Titel nicht mehr stolpern. Worum geht es? Um Abtreibung. Autumn (Sidney Flanigan) ist 17 und ungewollt schwanger. Es geht um die Entscheidung, abzutreiben, und um die Umsetzung dieser Entscheidung – und das unter dem konstanten Druck der maskulin und konservativ geprägten Gesellschaft. In dessen Schutzlosigkeit geben zwei junge Frauen, Autumn und ihre Cousine Skylar (Talia Ryder), einander Halt.
Anfang der Woche, am 28. September, war der „Safe Abortion Day“, der internationale Tag für einen sicheren, entkriminalisierten und kostenfreien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Längst kein selbstverständliches Recht, und wenn man auf die politischen Bestrebungen in den USA dieser Tage blickt, muss man feststellen, dass auch dort dieses Recht eventuell nicht mehr lange gelten könnte, wenn sich konservative Kräfte noch weiter durchsetzen. Und auch in Deutschland wird um das Recht auf Abtreibung gekämpft. Gegen die Zwangsberatung und gegen die Kriminalisierung. Die Aktionsseite „Sexuelle Selbstbestimmung“ fasst die Forderungen zusammen. Von daher kommt dieser Film im rechten Augenblick ins Kino. Ursprünglich, also vor der Corona-Ära, sollte der 11. Juni der Starttag sein. Der Verleih, Universal, zollt der Bedeutung Rechnung und stellte ein Live-Panel unter dem Thema „Fokus Schwangerschaftsabbruch – Wo stehen wir?“ zusammen. Auf Youtube kann man das Panel auch nachträglich verfolgen.
Uraufführung war dieses Jahr in Sundance. Dort gewann der Film den „Spezialpreis der Jury“ in der Sektion der US-Spielfilme. Es folgte der Wettbewerb der Berlinale. Auch hier überzeugte das Drama die Jury, die ihm den „Silbernen Bären“ gab. Darüberhinaus erhielt der Film auch den „Gilde-Preis“ für den besten internationalen Film des Jahres.
Autumn lebt in einem kleinen Kaff in Pennsylvania. Hilfe darf sie hier nicht erwarten. Ihre Cousine Skylar ergreift die Initiative ohne große Worte darüber zu verlieren. Die beiden jungen Frauen brechen auf und fahren nach New York. Nur hier kann Autumn ohne Unterschrift der Eltern selbstbestimmt selbst bestimmen. In der Abtreibungsklinik muss allerdings ein Fragebogen ausgefüllt werden. Zum Beispiel Fragen nach sexueller Gewalt. Und die Antworten zur Auswahl sind: Niemals. Selten. Manchmal. Immer.
Autumns Schwangerschaft ist fortgeschrittener als zunächst angenommen. Eine Abtreibung ist aufwendiger, und sie muss zwei Tage in der Stadt bleiben. Das Geld reicht nicht, um sich ein Hotel zu nehmen. Die beiden Frauen streifen durch die Nacht. Es fallen nicht viele Worte, aber die Gefühle wie Angst und Scham, aber auch der Wille, sich zu behaupten, sind klar und deutlich zu vernehmen.
Es ist ein Film, der sparsam mit seinen Mitteln ist, nicht ein Bild ist zu viel, aber er ist präzise. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Eliza Hittman bringt ihre beiden Hauptdarstellerinnen (übrigens Newcomerinnen) Sidney Flanigan und Talia Ryder zu einer nuancierten Darbietung, die ganz leise flackert und sich einbrennt. Schnörkellos, empathisch begleitet die Handlung durch ein nicht einfaches Prozedere. Die Kamerafrau Hélène Louvart fängt dabei die kleinen Gesten und Blicke ein.
Ein schweres Schicksal behandelt der Regisseur André Erkau in seinem neuen Kinofilm „Gott, du kannst ein Arsch sein!“. Das muss man laut sagen. Hinausschreien! Wie kann es sein, dass Gott einem mit 16 Jahren das Leben nimmt? Steffi (Sinje Irslinger) freut sich auf die Klassenreise und auf das Erste Mal. Sie hat alles geplant, weil: Im Planen ist sie gut. Ihr ganzes zukünftige Leben nach der Schule hat sie durchgeplant. Polizistin möchte sie werden, die Ausbildung meint sie schon in der Tasche zu haben, und dann das: Diagnose Krebs. Schon gestreut, nichts zu machen.
Besonders auch in der Jugendliteratur ist das ein beliebtes Sujet. Verfilmungen, die richtig, richtig traurig machen, gibt es viele. André Erkau („Das Leben ist nichts für Feiglinge“) verfilmt das Drehbuch von Katja Kittendorf („Die albanische Jungfrau“) und Tommy Wosch (bisher Produzent und Moderator, vornehmlich fürs Radio, aber dann auch fürs Fernsehen). Die Vorlage stammt von Frank Pape, war ein Bestseller, als sich die Produktionsfirma Ufa 2016 für die Verfilmung interessierte. Pape ist nicht nur Autor, sondern Seelsorger und auch in der Hospitzarbeit ehrenamtlich aktiv. Steffi gab es wirklich, ihre letzten Wochen hat sie auf seinem Familienhof verbracht.
Die innere Gedankenwelt, durch Tagebucheinträge vermittelt, kann so natürlich nicht in Bilder umgesetzt werden. So ist „Gott, du kannst ein Arsch sein!“ ein Einblick auf die erste Woche nach der Diagnose. Ohne Schmerzen. Die Eltern wollen sofort die Chemo, aber Steffi will nach Paris, die Stadt der Liebe. Was folgt, sind die Abnabelung von den Eltern und das Hintersichlassen der Schulzeit. Ein Roadmovie, aufregend und abenteuerlich für diese Hauptfigur. Während ihre Eltern, immerhin mit Heike Makatsch und Til Schweiger besetzt, der Ausreißerin hinterherfahren und damit paradoxerweise den Prozess des Loslassens angehen. Die innere Stimme bleibt dabei auf der Strecke. Einige Stationen auf der Reise sind dann auch komplett neben der Spur. Während Jasmin Gerat als Bartenderin Steffi auf Augenhöhe auffängt, wird sie vom Tankwart Benno Fürmann nur überflüssig mit Unflätigkeiten bedacht. Mehr Figuren wie die der Bartenderin hätten der Geschichte viel mehr Mitgefühl und Ernst beschert.
Der dritte Titel, den ich für diese Startwoche vorstellen möchte, behandelt einen schwierigen Menschen und ist dabei provokant schwierig. Ja, dabei handelt es sich um Rainer Werner Fassbinder und um Oskar Roehler. Oskar Roehlers Filmografie ist beachtlich: „Die Unberührbare“, „Agnes und seine Brüder“, „Jud Süß – Film ohne Gewissen“, „Quellen des Lebens“ oder „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ und zuletzt „HERRliche Zeiten“. Jeder Film für sich ein Ausrufezeichen. Das kann man, muss man aber nicht mögen. Roehler also inszeniert Fassbinder, und sein Hauptdarsteller Oliver Masucci gibt das „Enfant terrible“.
Der Titel ist dabei eindeutig Programm. Die Produktion der Gewerke, also Ausstattung (Utta Hagen), Kamera (Carl-Friedrich Koschnick), Maske (Ulla Röling) und so weiter, ist dabei großes Kino. Roehler wählt das Theaterhafte, die Handlung spielt auf der Bühne des Schaffens. Da sind Fenster und Türen halt nur flach aufgemalt. Das Künstliche wird überhöht, das Innen von Innenräumen breitet sich aus und wird dann von einem Mann vollständig ausgefüllt.
Das Gesamtbild von Inszenierung und Schauspielkunst bleibt wohl Geschmackssache. Die, die Fassbinders Filme gesehen haben, als diese ins Kino gekommen sind, werden eventuell zwiespältig reagieren. Ein junges Publikum, das die Filme und Fassbinder als Filmemacher eventuell gar nicht kennt, wird nur die Skandal-Seite kennenlernen und sich (eventuell, eventuell) über die unfassbare Übergriffigkeit wundern. Der Mann schikanierte und manipulierte, da möchte man sich abwenden, und Roehler setzt da noch eins drauf.
Eine Biografie ist „Enfant terrible“ nicht. Aber eine Tour de Force des Theater- und Filmemachens mit Drogen, Sex und Exzessen bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Masucci spielt diesen Mann mit einer Körperlichkeit, die gar nicht erst versucht, Nuancen in der Persönlichkeit aufzudecken. Provokation rules. Leisetreten ist nicht. Dieses Land und seine Filmlandschaft muss aufgerüttelt werden.
In dem Sinne ist Roehlers Stimme elemetarer Teil der deutschen Filmlandschaft. „Enfant terrible“, der wie eine Dampfwalze auf den Kinoeinsatz zusteuert, schert sich nicht um seine Verkürzungen, um die nur streifenden Platzierungen der Figuren in Fassbinders Umfeld. Bestenfalls wird Fassbinder in XXL, die Lauflänge über der Zwei-Stunden-Marke fühlt sich zudem noch länger an, eine öffentliche Diskussion um die Figur Fassbinder, seine Zeit und sein Werk neu entflammen, für eine kurze Zeit.