Kino in Zeiten von Corona 27
Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 24. September 2020 – Teil 1.
Gleich zwei Neuzugänge haben sich in den Arthouse-Charts platziert. Das Bio-Pic über die Schauspielerin Jean Seberg, „Jean Seberg – Against all Enemies“, ist sowohl nach Gesamtbesucherzahlen, als auch im Kopienschnitt auf Platz 1. Auf den zweiten Platz rückte Roy Aderssons lakonische Betrachtung „Über die Unendlichkeit“. Die Zahlen für „Tenet“ (immer noch Top), „After Truth“ und Co liefert „Blickpunkt Film“. Bester Neueinsteiger ist demnach die Komödie „Hello Again“, ein Film der Warner Bros., zu dem es übrigens auch keine umfassende Pressebetreuung gab.
Gute Nachrichten, wenn man denn so will, ist die Platzierung von „Wonder Woman 1984“ auf den 23. Dezember 2020, während „Soul“ von Walt Disney Studios fest auf dem 26. November 2020 stehen bleibt. Auch an dem neuen James Bond, „Keine Zeit zu sterben“, hat noch niemand gerüttelt, der 12. November 2020 bleibt. Andererseits: Sony Pictures hatte letzte Woche immerhin noch einen Film für dieses Jahr im Programm. Jetzt verabschiedet man sich aufs nächste. „Connected – Familie verbindet“ steht derzeit ohne Starttermin da. Universal wiederum hebt den Filmstart von „Candyman“ auf, ursprünglich sollte der am 15. Oktober starten. Der letzte Joseph Vilsmaier-Film, „Der Boandlkramer und die ewige Liebe“ mit Michael Herbig, wird von Leonine ebenfalls in den Dezember verschoben.
Das „Filmecho“ widmet der Ausdünnung des Oktobers sogar einen Beitrag. Dabei geht man davon aus, dass Kinos keine Infektionsherde sind. Zum Beispiel Programmkino.de weist auf die Maßnahmen in Hamm in Nordrhein-Westfalen hin und gibt den „Westfälischen Anzeiger“ als Quelle an. Vor Ort werden derzeit die höchste Steigerung an akuten Corona-Fällen gemeldet und entsprechend werden die Maßnahmen zum Schutz erhöht. Der Kinobesuch ist davon jedoch explizit ausgenommen.
Und wiederum andererseits sind es die Streamingportale, die jetzt Kurzstarts von zugkräftigen Titeln planen. Netflix wird am 1. Oktober 2020 Aaron Sorkins „The Trial of the Chicago 7“ für kurze Zeit in ausgewählte Kinos bringen, bevor er am 16. Oktober 2020 auf der eigenen Plattform startet. Apple TV bringt wiederum am 2. Oktober 2020 Sofia Coppolas „On the Rocks“ auf die großen Leinwände, bevor er am 23. Oktober 2020 nur noch On-Demand erhältlich sein wird.
Wer immer noch auf Filme aus Hollywood oder andere Großproduktionen wartet, verpasst die kleinen besonderen Filme. Diese Woche sind es zwei Dokumentarfilme, „Die Heimreise“ und „Space Dogs“, die ich besonders erwähnen möchte. Aber der Reihe nach.
Große Präsenz zeigt diese Woche der Film „Persischstunden“, eine russisch-deutsche-belarussische Koproduktion. Die Vorlage, genau genommen die Inspiration, ist eine Geschichte von Wolfgang Kohlhaase mit dem Titel „Die Erfindung der Sprache“, die der Drehbuchautor Ilya Zofin einst als Jugendlicher gelesen hatte. Vadim Perelman („Haus aus Sand und Nebel“), selbst jüdischer Abstammung und gebürtig in Kiew, wirft das Publikum mitten in den durchgeplanten Alltag in einem Vernichtungslager der Nazis mitten in der Kriegszeit. Die Banalität, mit der die Deutschen zwischen Küche, Amtsstube und Lagerbarracken agieren, ist nur eine Facette. Eigentlich ist „Persischstunden“ ein Kammerspiel. Den jungen Belgier Gilles, ihn spielt Nahuel Pérez Biscayart („120BPM“), rettet der Zufall vor der Erschießung im Wald. Gerade erst hatte er einen Laib Brot gegen ein Buch eingetauscht, dass er gar nicht lesen konnte, weil es in Farsi geschrieben wurde. Er behauptet also, er sei gar nicht jüdisch, sondern ein Perser. Der Zufall will es, dass der Offizier für die Lagerküche bereits für die Zeit nach dem Krieg plant. Er will in den Iran und dort ein Restaurant eröffnen. Ihm fehlen nur die Sprachkenntnisse. Diesen Offizier mit dem passenden Namen Koch spielt Lars Eidinger. Gilles soll ihm also Farsi beibringen, was er nicht beherrscht. Woher Wörter nehmen und wie soll er sich diese merken? Zwischen dem Offizier und seinem Gefangenen spielt sich eine Dynamik des Gebens und Nehmens ab, ein Taktieren des Vertrauens und des Misstrauens. Freundschaft schließen die beiden nicht. Stets bleibt klar, wer wohin gehört. Gilles muss eine Gedächtnisleistung erbringen, die schließlich die Erinnerung an all die Mithäftlinge umschließt, die vernichtet wurden. Trotz der Komik, die immer wieder aufblitzt, kann die Spannung der Bedrohung, aufzufiegen, keine Minute lang nachlassen.
„Die Dirigentin“ ist Antonia Brico (Christanne de Bruijn), die ihr Debüt mit dem Taktstock 1930 mit den Berliner Philharmonikern gab. Die niederländische Regisseurin Maria Peters bedient sich biografischer Elemente der Frau, keineswegs ein Aschenputtel, die alles daran setzte, gegen alle Widerstände als Frau ihre Begabung zu nutzen. Dieser Sektor ist immer noch eine Männerdomäne, auch heute gibt es keine Frau in den Top-Positionen. Bis auf einen Dokumentarfilm von 1974 hat Brico nie die Anerkennung erhalten, die ihr zustand. Der Film nimmt sich dabei allerdings einige Freiheiten.
„Futur Drei“ wurde dieses Jahr auf der Berlinale vorgestellt. Parvis (Benjamin Radjaipour) ist schwul und hat kein Problem damit. Was er allerdings mit seinem Leben anstellen will, weiß er noch nicht. Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen, steht nicht auf seiner Dringlichkeitsliste. Umso härter trifft es ihn, als er tatsächlich einmal mit der Konsequenz seines Handelns konfrontiert wird. In dem Flüchtlingsheim, in dem er Sozialstunden abreißen muss, lernt er Amon (Eidin Seyed Jalali) und dessen Schwester Banafshe (Banafshe Hourmazdi) kennen. Die beiden kommen auch aus dem Iran, und Amon kann sein Schwulsein nicht so offen ausleben. Faraz Shariat zeigt in seinem Spielfilmdebüt einen jungen Mann, der kaum mit Problemen konfrontiert, sich mehr und mehr seiner Privilegien bewußt wird. Nicht nur das: Er erkennt, dass das Leben seiner Eltern, die ihm diese Privilegien ermöglicht haben, voller Entbehrungen war. Je mehr er sich bewußt wird, wer er ist und wie sein Leben verläuft, desto mehr ist er sich auch bewußt, dass seine Freunde ihre Zukunft nicht frei wählen können.
Die Freundschaft der drei ist das Herzstück des Films. Shariat inszeniert die Beziehung der drei unter- und zueinander mit einer Zärtlichkeit, die jeder der Figuren Raum gibt. Die Nähe zueinander entwickelt sich trotz der Unterschiede, die Intensität verschiebt sich dabei, und eines spürt, wie fragil diese bleiben muss.
Faraz Shariat, geboren 1994 in Köln, hatte vor ein paar Jahren tatsächlich Sozialstunden als Dolmetscher in einer Flüchtlingsunterkunft ableisten müssen. Das Wissen um die ungleichen Voraussetzungen eines Lebenswegs, die mitunter von einem Hauch von Glück bestimmt sein können, wie in seinem Fall, gab zu der Geschichte den Anstoß. Auch wollte er seine Familiengeschichte in einen Kontext setzen. Die Filmeltern werden von seinen Eltern gespielt. Die Aufnahmen von Parvis als Kind sind altes VHS-Material aus seiner Kindheit. Gemeinsam mit Pauline Lorenz, die am Drehbuch mitwirkte, und Raquel Molt, hier für das Casting zuständig, gründete er das Kollektiv „Jünglinge“. „Futur Drei“, ursprünglich noch mit „Wir“ betitelt, wurde auf dem „First-Step-Award“ ausgezeichnet, und seine drei Hauptdarsteller gewannen den „Götz-George-Nachwuchspreis“.
Auch „In Berlin wächst kein Orangenbaum“ ist ein Regiedebüt. Ehre ist wichtig. Nabil (Kida Ramadan) folgt einem Kodex, der besagt, dass er seinen Bruder nicht verpfeift. Bei einem Raubüberfall misslang die Flucht, im Handgemenge mit einem Polizisten ging eine Waffe los. Nabils Bruder im Geiste, Ivo, kam davon. Wie Ramadan stammt Nabil aus Beirut und hat seine Wurzeln bereits als Kind in Deutschland wachsen lassen. Stipe Erceg ist Ivo. Erceg und Ramadan spielten bereits 2004 in „Yogotrip“ gemeinsam vor der Kamera. Nabil verantwortet die Tat alleine. Er ist eh kein Mann der Worte. Aber jetzt wird er frühzeitig entlassen, weil er unheilbar krank ist.
Das ist die Ausgangslage in dem Solo-Regiedebüt des Schauspielers Kida Ramadan, nach der Co-Regie von „Kanun“ 2018. Premiere feierte der Film in München in der Festival-Pop-up-Schiene. Für Kida Ramadan war das Projekt um Abrechnung im Milieu und das Herausschälen des Guten, was in jedem von uns steckt, eine Herzensangelegenheit, und zahlreiche SchauspielkollegInnen geben Gastauftritte. Frederick Lau spielt einen Mithäftling, Tom Schilling einen Pflichtverteidiger, Thorsten Merten einen Gefängniswärter. Die Figur Nabil ist von Grund auf positiv gezeichnet. Aber die Umstände sind wie sie nun mal sind. So ist es eine Überraschung für ihn, als er erfährt, dass er eine Tochter hat. Knapp 18, impulsiv, sauer auf die fehlende Vaterfigur. Emma Drogunova spielt sie mit einer Wucht, die den Phlegmatiker aus der Reserve locken will. Wirklich originel ist die Selbstfindung im Vater-Tochter-Gespann nicht, aber Herz steckt drin. De Kameraarbeit von Ngo The Chau überzeugt, doch „In Berlin wächst kein Orangenbaum“ ist vor allem ein Schauspielerfilm.
Das erste Bild ist Programm: „Gegen Nazis, Chefs & Spaltung – für kollektive Selbstverwaltung!“ In gewissem Sinn ist „Freie Räume – Eine Geschichte der Jugendzentrumsbewegung“ eine Fleißaufgabe. Es gibt Material ohne Ende. Selbstgedrehtes und Nachrichtenausschnitte, Presseclippings und Zeitzeugen. Was es in den 1970ern noch nicht gab, das waren die Sozialen Medien. Wenn irgendwann mal eine Dokumentation über die „Fridays-for-Future“-Bewegung aus historischer Distanz berichten wird, wird sich ein roter Faden insofern erkennen lassen, dass klar wird: Die Jugend erprobt sich immer wieder neu, nur die Brennpunkte verändern sich. Womit ich diese nicht gegeneinander ausspielen möchte. Regisseur Tobias Frindt kommt aus Mannheim und das dortige JUZ, kurz für Jugendzentrum, zeichnet sich verantwortlich. Er setzt in den 70ern an und konzentriert sich auf die Jugendzentrumbewegung. Jugendliche suchten und forderten für sich „freie Räume“. Die Städte waren schon längst autogerecht, die Innenstädte wurden zu Konsumzentren. Es brauchte Orte, an denen sich die Jugendlichen selbst verwalten konnten, an denen sie zusammenkommen konnten, ohne Konsumzwang, ohne Diktat. Viele Mitwirkende erzählen selbst.
Wobei ich kurz mal inne halten möchte, um auf eine Unsitte hinzuweisen, die ich öfters im Dokumentarfilm erlebe und die mir die Rezeption erschwert: Im Abspann (immerhin) werden die Namen der Interviewpartner*innen zwar genannt, aber bis dahin hat man, wenn man die Gesichter nicht kennt, und davon sollte ausgegangen werden, keinerlei Anhaltspunkte, sich zu merken, wer wer ist und wer was gesagt hat, so im Nachhinein. „Freie Räume“ vermittelt einen Prozess anschaulich bis ein ursprüngliches Zeil erreicht war und geht dann in die nächste Dekade über und reicht bis in unsere Zeit. Überflüssig sind Jugendzentren auch heute nicht.
Manchmal führt eine Dokumentation zu einer anderen. Eine Begegnung kann ein ganzes Leben verändern. Der Regisseur Tim Boehme arbeitete vor „Die Heimreise“ an einer Reportage über den Bauernhof „Hof Sophienlust“ in Schleswig-Holstein. Im Fokus stand das Konzept des betreuten Wohnen und Arbeiten. Dort lernte er Bernd Thiele kennen. Bernd hat eine Behinderung, für die es einen tragischen Auslöser gab: Er hat das pränatale Alkoholsyndrom. Seine Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken. Bernds Entwicklung wurde dadurch gestört. Unter anderem kann er weder Lesen noch Schreiben. Was er aber kann, ist, seine Gefühle mitzuteilen. Etwas, das nicht jede*r kann. Er hat auch Charme.
Wie dem auch sei, der Kontakt zwischen Tim, dem Regisseur, und Bernd brach nicht ab. Bernd beschäftigte seit geraumer Zeit die Frage, woher er kommt und wer er ist. Als Kind hatte man ihn von seiner Familie weggeholt, und er wuchs in Pflegeheimen und bei Pflegeeltern auf. Von seinen Eltern besitzt er nicht einmal ein Foto. Aber es gibt wohl eine Schwester. Bernd wollte sich auf die Suche machen, und Tim sollte ihm dabei mit der Kamera begleiten. Mit von der Partie ist Joann, ebenfalls mit Behinderung, aber mit kommunikativen und technischen Talenten ausgestattet, die einer Suche in der Fremde behilflich sind. Jetzt ist es nicht so, dass die Kamera im Schlepptau Türen geöffnet hätte. Das brauchte es gar nicht. Joann und Bernd sind „Kollegen“, wie sie es sagen, aber sie sind ein Gespann, dass den Film zum sympathischen Buddy-Film macht. Gemeinsam reist man nach Hamburg und dann nach Berlin. Hartes Pflaster, nicht mal enge Nachbarn kennen sich mitunter. Und doch schaffen die beiden es, dass man ihnen hilft. Das Publikum begibt sich dabei mit ihnen auf die Suche, die mal in Sackgassen und mal zum Ziel führt. Bei ihrer Reise öffnen sie einem für manches die Augen und sie bringen eines dabei zum Lächeln und zum Mitfühlen.
Zwei Hunde liegen unweit einer Bar, und scheinbar beobachten sie das Habitat der Menschen. Elsa Kremser und Levin Peter zeigen genau diesen ungewöhnlichen Blickwinkel, der eines in zumindest einer Szene zwingt, sich auf eine Welt und eine Betrachtung einzulassen, die zumindest in einem Moment unangenehm und im allgemeinen ungewohnt ist. Das Filmteam hat lange nach einem Rudel Hunde auf den Moskauer Straßen gecastet, bis sie die Tiere fanden, denen sie nun mit der Kamera folgen wollten, stets auf ihrer Höhe. Was zuerst eine sehr lange Gewöhnungsphase beanspruchte.
„Space Dogs“, eine österreichisch-deutsche Koproduktion (Koproduzentin ist Annekatrin Hendel), mit russischsprachiger Narration hat bereits seit der Vorführung in Locarno 2019 eine lange Festivalreise hinter sich, die Pressemeldung spricht von über 40 Teilnahmen. Elsa Kremser und Levin Peter gewannen bereits auf der Viennale den Preis für den besten österreichischen Film und den „Erste-Bank-Mehrwert-Filmpreis“. Zuletzt war der Film Teil der Diagonale, der Kameramann Yunus Roy Imer („Systemsprenger“) gewann dort den Preis für die beste Bildgestaltung im Dokumentarfilm. Die Kameraarbeit ist außergewöhnlich, zum Beispiel Arri hat ein Interview mit dem DoP geführt [auf Englisch].
Kremser und Peter verknüpfen das Herumstreunen mit den Hunden mit einer ganz anderen Ebene, die auch im Prozess der Vorbereitung erst noch hinzukam. Die Narration erzählt von dem Mythos um Laika, eine taffe russische Straßenhündin, welche die Russen in den Weltraum schossen, welche die Reise jedoch nicht überlebte. Das gibt der Dokumentation eine poetische Ebene, während eine gut recherchierte Auswahl an Archivmaterial über die Weltraumexperimente mit Tieren der Betrachtung der Tiere noch einmal eine Ebene hinzufügt. „Space Dogs“ ist wahrlich faszinierend.
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