Gedanken in der Pandemie 147: Der Zufall möglicherweise …

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Die Seuche ist zwar per Dekret beendet, aber was versteht so ein Virus schon? Noch immer sterben am Tag allein in Deutschland rund 300 Menschen ein Corona. Haben wir uns etwa an solche Zahlen gewöhnt? Szenenfoto aus „Ich – Einfach unverbesserlich“. | Foto © Universal

Mitschuld und Mitleid: Die Impfpflicht gibt es längst – Gedanken in der Pandemie, Folge 147.

„Du magst am Krieg nicht interessiert sein, aber der Krieg interessiert sich für dich.“
Lew Trotzki 

„Wir sitzen in der Arena des unvollendeten Projektes moderner Revolutionen und warten auf die Stars, die revolutionären und konterrevolutionären Subjekte. Doch niemand läuft ein. Ein treffliches Bild der lauen Gegenwart: Wartezeit und leeres Spielfeld.“
Matthias Beltz (1945-2002)

Heute sehnen wir uns zurück nach dieser lauen Zeit des Posthistoire, den Jahren des „Endes der Geschichte“. Mit der Pandemie spätestens ist sie zurückgekommen. Schon damals, erst recht jetzt im Ukraine-Krieg, der uns so nahe kommt, wie zuletzt der Bürgerkrieg in Jugoslawien – egal ob diese Feststellung jetzt sehr pc und sehr nett gegenüber den Syrern und Afghanen, den Israelis und Palästinensern ist, und allen anderen, noch ferneren, an deren fatales Schicksal wir uns schon längst gewöhnt haben. 

Die Pandemie hat uns bereits etwas gelehrt, was uns jetzt, im Angesicht des Krieges nicht mehr überrascht:  unsere Gleichgültigkeit, unsere Gewöhnungsbereitschaft. 

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Vor 20 Jahren schon ist der sehr besondere Autor und Kabarettist Matthias Beltz gestorben. Er hat solche Schwächen und Selbstwidersprüche und jene Menschlichkeit, die Moralisten „Lebenslüge“ nennen, gern aufgespießt und sarkastisch kommentiert. Thomas Schmid hat den Freund und „illusionsfreien Linken“ hier in einem sehr frankfurterischen und manchmal witzigen Nachruf nach 20 Jahren porträtiert. 

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„Mit Ungeimpften habe ich kein Mitleid“ – was für ein schlimmer Satz! Aber gelegentlich ist er zu hören, nicht immer nur von Gedankenlosen. Ich habe dafür kein Verständnis. Noch immer sterben am Tag allein in Deutschland rund 300 Menschen ein Corona. Das Bild von „einem Flugzeugabsturz pro Tag“ (Markus Söder) trifft es ziemlich genau. Wir haben uns einfach nur an diese Zahlen gewöhnt, sonst nichts. Warum sollte ich mit diesen Menschen kein Mitleid haben, bloß weil sie nicht geimpft sind? Warum sollte irgendeiner von uns mit ihnen kein Mitleid haben? 

Mitleid ist eine bestimmte Form von grundsätzlicher basaler Menschlichkeit. Im Krieg haben Soldaten sogar Mitleid mit dem Feind, den sie gerade eben getötet haben. Weil sie ein Bewusstsein dafür haben, was Tod bedeutet, und dafür wie viel Zufall immer mit dem Spiel ist, und dafür, dass jeder überleben will, und dass sie in diesem Moment das Ziel geschafft haben, das Gegenüber nicht.

Selbstverständlich (?) gibt es ein paar ganz wenige Menschen, denen man mit guten oder weniger guten Gründen den Tod wünscht. Heute zum Beispiel wünschen viele Menschen dies Wladimir Putin. Reden wir nicht drum herum. Aber diese Gründe sind in der Regel sehr persönliche oder sehr gut und grundsätzlich begründete, und man tut dies klammheimlich, und selbst dann schämt man sich immer auch ein bisschen, jedenfalls hoffentlich, und auch, wenn der Wunsch nicht öffentlich wird. Weil solche Wünsche etwas mit der primitiven, barbarischen, ja: tierischen Seite unserer selbst zu tun haben. Sie zeigen uns uns selbst unter unserem eigenen Niveau, unter unseren Möglichkeiten – und über unseren Möglichkeiten sind wir genau darum dann dort, wo wir sagen, dass wir noch unsere Feinde lieben. Wo wir pazifistisch sind und auf Gewalt und Kampf und Selbstverteidigung auch da verzichten, wo sie angemessen wären. Dass diese Gedanken aktuell sind, muss nicht betont werden. 

Sie haben auch mit der Pandemie insofern zu tun, insofern es bei Krieg und Pandemie jeweils um den Tod geht, und um unseren Umgang mit ihm. Genau deswegen muss man auch darüber sprechen, dass Corona und der Ukraine-Krieg ähnliche Reflexe triggern, dass sie unsere medial organisierten Öffentlichkeiten ähnlich spalten, dass sie ähnliche Hysterien und Reaktionen der Menschen erzeugen. Denn durch die Leidenschaft, durch unsere Angst, durch das Köcheln des Blutes wie Poeten früherer Jahrhunderte gedichtet hätten, unser Verstand aussetzt.

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Das Wiedereinsetzen des Verstandes ist das, warum es uns in dieser Kolumne, wie auch in anderen, etwa in „Cinema Moralia“ auf „Artechock“ zu tun ist: Unterscheidungsvermögen, Coolness und Widerstand gegen Emotionalisierung, erst recht Hysterisierung in der Öffentlichkeit und damit mittelbar auch unseres jeweils eigenen Handelns.

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Darum zurück zu den Ungeimpften. Warum sollte man mit ihnen wenn sie Corona haben oder gar schwer oder gar so, dass sie mit dem Tod bedroht sind, kein Mitleid haben? Natürlich liegt der Gedanke nahe, dass sie selber schuld seien. Der ist nicht ganz richtig, denn dafür ist alles viel zu zufällig und viel zu unkontrollierbar, wie man Corona bekommt und auch Ungeimpfte dürften der Regel Corona nicht freiwillig bekommen. Sie nehmen es in Kauf, so wie wir alle es in Kauf nehmen. Der einzige wirkliche Unterschied ist der, dass sie eine Mitschuld tragen, weil sie mögliche Vorsichtsmaßnahmen nicht ergriffen haben.

Es ist egal, aus welchen Gründen sie das nicht getan haben. Eine Mitschuld trifft sie. Jeder hat seine guten Gründe. „In der Welt gibt es eine schreckliche Sache, nämlich dass jeder seine guten Gründe hat.“ Das Zitat aus Jean Renoirs „Die Spielregel“, das ich liebe, habe ich hier schon mehrmals erwähnt. 

Wer einen Unfall hat und nicht angeschnallt war, hat möglicherweise auch sehr gute Gründe warum er das gerade in dem Moment nicht war – Mitschuld trifft ihn trotzdem, auch dann, wenn der Unfall von jemand anderem verursacht wurde. Denn die Folgen wären in angeschnallten Zustand andere gewesen.

Das alles hat aber nichts mit Mitleid oder keinem Mitleid zu tun. Wer sagt, er habe kein Mitleid mit Umgeimpften will eigentlich indirekt sagen, sie sind selber schuld, und es betreffe einen nicht. Dies offenbart nur eine menschliche Kälte, eine Empathieschwäche, die einen eigentlich dazu bringen sollte, wenn man sie in sich selber wahrnimmt, mit sich auch ins Gericht zu gehen. 

Das alles hat nämlich überhaupt nichts mit der Frage zu tun, dass es sehr sehr richtig ist, sich impfen zu lassen. Für einen selber und für die anderen. Aus diesen Gründen ist Impfen natürlich geboten, ethisch für einen selbst aus der „Sorge um sich“ wie Seneca und Foucault das umschrieben haben, und moralisch aus der Sorge für andere.

Deswegen muss man konsequent zuende gedacht auch formulieren: Die Impfpflicht gibt es längst. Sie ist eine moralische und ethische. Pflichten bezeichnen Dinge und Handlungen, die wir tun sollten, die geboten sind durch die Verhältnisse, in denen wir leben, oder durch die Umstände, in denen deren Nichterfüllung Folgen hat. Keine Strafe, aber irgendwelche anderen.

Weil diese moralische und ethische Pflicht in Deutschland (das vielleicht eben im Vergleich zu anderen Ländern, doch auch ein Land der Unsozialen und der Egoisten ist) nicht von genug Menschen akzeptiert wird, und nur darum, ist der Gesetzgeber gefordert. Nur darum muss der Rechtsstaat der Moral in diesem Fall auf die Sprünge helfen. Und nur darum ist eine Impfpflicht unvermeidbar. 

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Wer ein außergewöhnliches Radiofeature hören möchte, sollte in der Reihe „Gesichter Europas“ im Deutschlandfunk die Sendung über Paulina Zerluk vom vergangenen Samstag nachhören. Zerluk war „die Ärztin von Tschernobyl“, die bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr lange in Zürich lebte. 1986 wurde auch Paulina Zerluk ins Krisengebiet geschickt. Es war ein hochgefährlicher Einsatz, der ihr Leben für immer veränderte. Der Beitrag von Frederik Rother geht weit über Tschernobyl hinaus, und zeigt das Bild eines großartigen und liebenswerten Menschen. Zerluk erzählt natürlich die Ereignisse von 1986, aber auch aus ihrem sonstigem Leben. Es ist auch das Portrait anderer Seiten Russlands, voller lebenskluger Sätze und Einsichten, auch sperriger, weil sie nicht jeder unterschreiben wird. Und das Bild eines hochgebildeten Menschen, für den Literatir und Musik ein Lebensmittel war. 

In der Mediathek gibt es auch noch eine ältere Fassung, die etwas verändert ist. 

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Können wir reich sein und gut? Und was wollen wir lieber, wenn nur eines gehen sollte? Das habe ich mich gefragt, als ich am Sonntag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“  den Beitrag „Das deutsche Erfolgsmodell zerfällt“ gelesen habe. 

Die Autoren argumentieren, dass die derzeitigen Umwälzungen der Weltwirtschaft gerade den Wohlstand der Exportnation Deutschland gefährden. Mit vielen antirussischen Sanktionen schneiden wir uns doppelt ins eigene Fleisch: Europa verliert Wohlstand, und wird abhängiger von den USA. Zugleich wird gerade die überfällige Modernisierung, die die Ampelregierung jetzt anpacken wollte durch die europäische Sanktionspolitik gefährdet: Energiewende und Agrarwende sind die ersten Opfer der jüngsten Regierungsentscheidungen. 

Oder dreifach. Es gibt nämlich viele kluge Menschen, die argumentieren, dass Wirtschaftssanktionen sowieso nicht wirken, und noch nie in der Geschichte besonders viel gebracht haben. 

Soll man mit autoritären Staaten keinen Handel mehr treiben? Siegfried Russwurm, langjähriger Siemens-Manager und heute Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, hält im Artikel dagegen: „In vielen Staaten der Welt sind andere Gesellschaftsmodelle als unsere freiheitliche Demokratie Realität. Würde Deutschland entscheiden, mit all diesen Ländern keine Geschäfte zu machen, dann würde es ziemlich eng.“ 

Davon abgesehen müssen wir natürlich müssen wir uns natürlich fragen, ob es böse ist, mit China Handel zu treiben. denn China hat sich in den letzten 110 Jahren, seit der erfolgreichen Revolution ging das Kaiserreich im Jahr 1911 großartig entwickelt und in vieler Hinsicht zum Besseren.

Es ist ja nicht so, dass das chinesische Kaiserreich in unserem heutigen Sprachgebrauch keine Diktatur gewesen wäre. Abgesehen davon ist es natürlich eine von den Westmächten auch von Deutschland kolonial beherrschte Diktatur gewesen.

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Manche Menschen möchten es nicht gern lesen und hören, aber es gibt unglaubliche Ähnlichkeiten zwischen unseren Debatten und Reaktionen auf die Corona-Pandemie und auf den Ukraine-Krieg. Es gibt auch große Unterschiede. Aber beides sind Ausnahmesituationen Ausnahmezustände, die uns unter anderem (nicht „vor allem“. Jedenfalls wäre dieser Ausdruck beim Ukraine Krieg obszön), etwas über uns selber und unsere Gesellschaft verraten.

Beides sind auch Medien-Pandemien. Sie entwickeln ihre eigenen Rituale. Und sie entwickeln auch ihre eigenen Experten. So wie zwei Jahre lang von „Anne Will“ bis „Markus Lanz“ die immer gleichen zwölf Experten sich über ihre Corona-Ansichten ausgelassen haben, so sitzen jetzt die immer gleichen 12 Ukraine bzw Russland-Experten in den gleichen Talkshows. Nur die Moderatoren bleiben, denn die wissen immer über alles ähnlich Bescheid, brauchen keine Expertise, und bekommen von ihrem in der Regel sehr guten Team alles auf die Karteikarten geschrieben von denen sie dann ablesen.

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Nichts gegen all das zu sagen. Im Fall des Ukraine-Krieges allerdings fällt etwas unangenehmer auf, wie wenig Bescheidenheit diese Moderatoren einen Tag legen. Bei der Pandemie musste jeder zugeben, auch Markus Lanz und Anne Will, dass sie eigentlich nichts von Gesundheitspolitik und Virologie und Epidemiologie verstehen. Beim Krieg aber weiß wieder jeder Bescheid. Und Markus Lanz, der sich offenbar für einen Amerika-Experten hält, weil er einen schönen Film über die USA gemacht hat, hat kein schlechtes Gewissen damit, den 93-jährigen Klaus von Dohnanyi in ein 50-minütiges Verhör zu nehmen und ihm dabei mindestens zehnmal über den Mund zu fahren und nicht ausreden zu lassen, bloß weil Dohnanyi in seinem neuen, sehr sehr lesenswerten und mutigen Buch „Nationale Interessen“ die amerikanische Politik kritisiert, und behauptet, dass den USA Europa letztendlich ziemlich egal ist – wofür er ganz gute Gründe hat – und von Amerika nicht ganz so begeistert ist, wie Lanz. 

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass öffentliche Figuren wie Anne Will und Markus Lanz längst auch politische Figuren sind, die politischen Einfluss haben, indem sie die Bürger und Wähler beeinflussen, und mehrfach pro Woche mit ihren Meinungen traktieren. In der Ukraine-Politik fällt das mehr auf als in der Corona-Politik.  vielleicht weil die Forderungen gefährlicher sind in ihren Folgen. Anne Will und Markus Lanz halten es aus unerfindlichen Gründen für geboten, mehr als Waffen zu liefern und sich viel stärker zugunsten der Ukraine und gegen Russland zu engagieren. Sie kritisieren die Regierung überall dort wo sie aus ihrer Sicht halbherzig agiert,  Und lassen wenig real politische Überlegungen, also Kompromisse die verantwortungsethisch geboten sind, aber klarerweise in einer Talkshow nicht so schön aussehen, wie idealistische Statements, gar nicht mehr gelten. 

Mir scheint, dass damit manche Sendungen ihr Renommee sehr schnell verspielen, dass Sie sich während der Corona-Krise erarbeitet haben: Den Ruf sehr differenziert und sachlich und viel umfangreicher über Problematiken zu informieren, als dass die sogenannten Informationssendung der öffentlich-rechtlichen Sender haben.

In der Ukraine-Krise fallen die öffentlich-rechtlichen Sender auf allen Ebenen in Haltungsjournalismus und Meinungstrompeterei, ja in die Barrikadenstellungen des Krieges zurück.