Gedanken in der Pandemie 64: Der Deutschen liebstes Kind – das Bedürfnis nach Sicherheit
„Söder ante portas“, Polizei und RTL und die Tracing-App: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 64.
„Brennt das Land nieder. Reißt das Gebäude ein. Holt die Guillotine aus dem Keller, tötet Hunderttausende! Plündert, vergewaltigt! Hungert und friert! Und wenn ihr dazu nicht bereit seid, gebt Ruhe. Ihr könnt euch feige nennen oder vernünftig. Haltet euch für Privatmänner, für Mitläufer oder Anhänger des Systems. Für unpolitisch oder individuell. Für Verräter an der Menschheit oder treue Beschützer des Menschlichen. Es macht keinen Unterschied. Tötet oder schweigt. Alles andere ist Theater.“
Juli Zeh: „Corpus Delicti“, 2009
„Die Statistik ist etymologisch die Kenntnis des Staates, die Kenntnis der Kräfte und der Ressourcen, die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren […] Das ist es, was man damals die ,Arcana Imperii‘, die Geheimnisse der Macht, nannte und was eindeutig ein Bestandteil der Staatsraison war. Und insbesondere die Statistiken sind lange Zeit als Geheimnisse der Macht, die nicht veröffentlicht werden dürfen, behandelt worden.“
Michel Foucault: „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung – Geschichte der Gouvernementalität“, 1978
„Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst.“
Theodor W. Adorno, 1936
Ischgl ist die Stadt mit der größten Corona-„Durchseuchung“ der Welt – und 85 Prozent der Leute, die das Virus hatten, haben überhaupt keine Symptome.
Das berichtet „Die Zeit“. Die Medizinische Universität Innsbruck hat demnach in einer umfassenden Studie untersucht, wie viele Bewohner des österreichischen Skiorts Ischgl Antikörper gegen das Corona-Virus entwickelt haben. Ihr Ergebnis: 42,4 Prozent der untersuchten Menschen wiesen Antikörper auf.
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Sachsen ist das Bundesland mit der größten Nazi-Durchseuchung Deutschlands. Klare Worte findet der Deutschlandfunk für die einseitige Politik der Stiftung sächsische Gedenkstätten, deren von der CDU gestützter Geschäftsführer wiederholt mit skandalösen Äußerungen und Verharmlosung des Nationalsozialismus auffiel.
Zugleich ist klar: Mit dem Nachfolger wird es nicht besser, nur politisch unauffälliger.
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„Neue Normalität“ ist so ein Orwell-Wort, Newspeak unserer Gegenwart. Was man dabei vor allem übertünchen will: Wie unnormal die „Neue Normalität“ tatsächlich ist. Sie verdiente in Wahrheit die Bezeichung: Neue Unnormalität – und kaum etwas beunruhigt und ärgert mich mehr als die Tatsache, wie oft und gerne sich das die Leute, auch in meinem Bekanntenkreis, schönreden.
Heute in einem Münchner Lokal: „So, die Getränke dürft ihr euch gern selber vom Brett nehmen.“ Da möchte man der Bedienung am liebsten schon links und rechts eine scheuern – für die Art des Formulierens zwischen Gouvernante und WG-Organisatorin.
Zuvor hatte es, wie bereits am Vortag auf dem Land bei Benediktbeuren, bereits geheißen: „Unsere Karte findet ihr online“. Papier wollte man erst auf Nachfrage ausgeben, Smartphone wird vorausgesetzt.
In Bayern ist die „Neue Unnormalität“ erkennbar noch abnormaler. Die neuen Regeln und Corona implementieren das, was manche Wirte schon immer machen wollten, aber sich nicht trauten.
Angst ist der Ratgeber.
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Ein schlechter. Angst ist zwar ein Schutzmechanismus, aber auch eine Abstumpfungsreaktion – auf Reizüberflutung.
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„Masken-Fahnder“ sind nicht nur in München neuerdings gehäuft unterwegs. Sie nerven die Menschen, sie nerven aber auch die Wirte, sie nerven eigentlich alle, obwohl sie diesen doch dienen sollten.
Etwas anderes letzte Woche in Berlin-Mitte: Drei Vertreter vom Ordnungsamt in voller Montur mit Funkgerät und Computer begleitet von fünf Polizisten. Man hätte schon ahnen können, was los ist, als man sah, dass einer von den Polizisten eine Schirmmütze aufhatte, wie zuletzt ungefähr vor 100 Jahren. Im Schlepptau hatten die acht Leute nämlich ein Kamerateam von RTL und N-TV.
Da schaute man ihnen beim Sich-aufspielen und übertriebenen Kontrollieren zu. Offenbar eine Öffentlichkeitsmaßnahme.
Achten wir mal auch hier auf die Sprache der Berichterstattung: Die Polizei „muss“ immer irgendetwas. Die Armen, man hat richtig Mitleid mit ihnen. Sie tun eigentlich nie das, was sie tun wollen, nie irgendetwas, worauf sie Lust haben. Sie tun auch nie etwas, weil ihnen danach ist. Nie tun sie, was sie wollen oder einfach nur, weil sie es können. Sie sind eigentlich passive Wesen, inaktiv, ohnmächtig. Die Polizei also „musste“, so lese ich in der Zeitung, in Berlin einem 28-Jährigen Handfesseln anlegen, „weil er die Maskenpflicht nicht einhielt“ (oh, mein Gott) und „weil er sich gegen die Aufnahme seiner Personalien wehrte“. Da muss die Polizei schon müssen, und auch wenn die Sterblichkeit in Deutschland längst auf Vor-Corona-Niveau liegt, dann muss man natürlich die Maskenpflicht mit Handfesseln durchsetzen. Und wo wir gerade von Sprache sprechen: Von Handfesseln ist die Rede, nicht mehr von Handschellen, denn das sind heute ja auch nicht mehr Metallketten sondern Gummibänder, die einem immer schärfer die Adern abschnüren, je mehr man an ihnen zerrt.
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Die Corona-App ist eine Tracing-App. Feiner Unterschied: Keine Tracking-App. Sie kann uns verfolgen, aber nicht aufspüren.
Neben den technischen Voraussetzungen (etwa dass wir überhaupt ein Smartphone haben und Bluetooth angeschaltet ist) liegen ihr auch theoretische Voraussetzungen zugrunde.
Im Selbstverständnis der klassischen Moderne kommt dem Politischen die herausgehobene Rolle zu, das Universelle zu formulieren und zu gestalten. Die Ästhetik der Moderne ist ein politisches Programm. Aus ihr wurde ein Stil oder ein globales Produkt. Politisches uns Ästhetisches greifen ineinander.
Die Moderne ist die Einübung des Allgemeinen. „Doing Universality“. Die Postmoderne bedeutet die Krise des Allgemeinen. Wir leben, wie es der Soziologe Andreas Reckwitz ausdrückt, in einer „Gesellschaft der Singularitäten“. Es geht um „Doing Singularity“.
Wissen, Technik und Fortschritt sind der Dreiklang der Moderne. Die Verbesserung durch Innovation ist die Grundbedingung dieses Dreiklangs. Freiheit und Neugier ihr Mittel. Gleichheit und Vergleichbarkeit ihr Ziel. Der Glaube an das Funktionieren dieses Zusammenhangs scheint abhanden gekommen zu sein: Das Gleiche und Vergleichbare steht unter Verdacht der Gleichmacherei. Das Neue hat ebenfalls seine Unschuld verloren. Es steht unter Verdacht.
Zugleich gibt es so viel Neues wie lange nicht.
Heute leben wir in einer Datengesellschaft. Das heißt in einer Gesellschaftsformation, die von Denkweisen und Lebensarten geprägt ist, die ohne den Computer nicht möglich wären. Datenbasierte Prozesse liegen unserer Gesellschaft zugrunde. Sie ist nicht mehr die Gesellschaft der Klassischen Moderne, auch wenn deren entleerte Hüllen überall herumstehen – Ruinen von Gestern. Alle Orte, Objekte, Formen, Oberflächen und Materialien, auch der menschliche Körper, insbesondere aber auch Bewegungen all dieser Elemente werden codiert, transcodiert und recodiert. Dies mündet in ein Netz aus Daten. Dieses nennen wir Datengesellschaft.
Daten haben das Wissen ersetzt. Daten werden gesammelt, interpretiert und nutzbar gemacht. Auch Informationen sind Güter auch sie werden transportiert bevor mit denen gehandelt wird.
Bis Tracing zu Tracking wird, ist es nur eine Frage der Zeit. Und: Warum auch nicht? Ist die Idee des Datenschutzes, die Idee der Legitimität des Geheimnisses, womöglich von Gestern?
Oder ist umgekehrt die Idee der Legitimität allwissender Institutionen die perverse Ausgeburt, einer Verachtung des Individuellen, einer Verherrlichung des Gemeinschaftlichen?
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Können wir noch sagen, dass wir mit dem Smartphone in der Tasche leben? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt: Das Smartphone lebt mit uns? Vielleicht sind wir das Tamagochi, das vom Smartphone gefüttert wird.
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Das generelle Problem des gegenwärtigen Umgangs mit Daten zeigt sich auch an der Corona-App. Es liegt darin, dass wir zwar eine riesige Menge an Daten produzieren, diese jedoch wieder kontrollieren können, noch über das eigentlich von uns geschaffene Produkt im Sinne eines Besitzers (der wir theoretisch sind) verfügen können. Schon vor Jahren sagte der Direktor des Karlsruher ZKM, Peter Weibel, einen allgemeinen Aufstand voraus: Einen Aufstand um die Rückeroberung der Daten.
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Krisen nutzen den politischen Machthabern. Das sieht man an Deutschland. „Söder ante portas“ heißt es fast martialisch im Juli-Heft der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.
Albrecht von Lucke analysiert dort sehr schlüssig die augenblickliche politische Situation in Deutschland. Er berichtet, das vor einem Jahr die Grünen erstmals in der Sonntagsfrage die stärkste Kraft vor der Union waren, das nach dem „Desaster von Thüringen“ und dem Abgang der CDU-Vorsitzenden das Unions-Lager noch tiefer in die Krise geriet – die Grünen schienen die neue Volkspartei zu sein. Nach drei Monaten Corona sieht alles anders aus: Die Union erreicht plötzlich wieder knapp 40 Prozent – so viel wie zu ihren besten Zeiten lange vor dem Flüchtlingssommer 2015. Die Grünen haben sich einmal mehr als Schönwetter-Partei entpuppt und sind auf ihr politisches Normalmaas geschrumpft. Die Ursachen sieht von Lucke darin, dass „das gesamtdeutsche Dispositiv schlechthin reaktiviert wurde, das Bedürfnis nach Sicherheit.“ Den Deutschen ist nichts so wichtig wie Sicherheit. Darin – das muss man sich klar machen; es ist weder etwas Gutes, noch etwas Schlechtes – unterscheiden sie sich elementar von anderen Nationen: Der deutsche Gefühlshaushalt will vor allem Sicherheit. Er will keinen Wandel. Genau das aber (Wandel!) versprechen und fordern die Grünen, und hier liegt das grüne Dilemma.
Dies mal als Vorgeschmack auf einige vertiefende Überlegungen in den nächsten Tagen.