Gedanken in der Pandemie 46: Die große Täuschung

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„We Are One“ – das Youtube-Film-Festival ist ein Betrug am Zuschauer und ein Verrat am Kino: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 46.

„Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

Morgen am Freitag geht es los. Ein „globales Filmfestival“. Alle wichtigen Filmfestivals sind dabei. Insgesamt 21 tun sich zusammen. Alle zeigen Filme. Dazu Aufzeichnungen von Podiumsdiskussionen, Masterclasses und Präsentationen. Und alles gratis. 

Begleitet von einer Spendenaktion für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weitere lokale Charity-Organisationen. Die Berlinale ist natürlich auch dabei. 

Eine tolle Sache – oder? 

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Es klingt wahnsinnig menschlich: „We are one“ – „Wir sind eins“. So wie man sich die Welt eben wünscht, wenn man sie sich malen könnte, und wenn das Eine Einzige Übrigebleibende nicht gerade ein globaler Konzern, ein transnationaler Streamingdienst oder ein weltweites Online-Kaufhaus ist. 

„We are one“ das klingt fast so wie „We are the world. We are the children“ – sehr werbetauglich, sehr amerikanisch, sehr nach saccharingesüßter Humanität und aseptischen Gefühlen.

Machen wir uns bitte nichts vor: „We are one“ ist zuallererst einmal eine Marketingidee. Der Versuch einer Markenbildung. 

Das, was hier Marke werden soll, ist nicht etwa das Kino, und schon gar kein spezieller Film, sondern in allererster Linie ist es Youtube.

Youtube, das Gegenteil von Kino und Filmkultur, tritt hier plötzlich auf als deren Verteidiger.

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Auch wem es ganz fern liegt, YouTube zu verteufeln; auch wer YouTube total gern mag als ein öffentliches Archiv für Musikvideos und vergessene Fernsehstücke, für wissenschaftliche Vorträge und für seltene Filmklassiker, und wem es auch nichts ausmacht, dass die Seite auch ein Tummelplatz für allerlei schräge Typen und Quartalsirre ist, und leider auch für einige Rattenfänger und schlimme Hetzer – wer all das akzeptiert, der kann doch trotzdem gleichzeitig der Ansicht sein, dass YouTube zwar für vieles gut ist, aber ein Kino, auch nur ein Kino-Ersatz ist es auf keinen Fall.

Und dann noch alles Gratis. Das mag man gern, Geiz ist geil und die Populisten aller Welt lieben Billigkunst – aber tatsächlich ist nicht zuletzt diese Gratismentalität der Totengräber aller Kultur. 

Egal wie, ob mit individuellen Eintrittgeldern, per Abonnement oder mittels einer Kulturflatrate – irgendwie muss das hochwertige Gut Kultur bezahlt werden, irgendetwas darf es dem zum „Nutzer“ mutierten Publikum auch im Digital-Zeitalter wert sein. 

Vor allem aber müssen die Künstler von ihrer Arbeit leben können, für ihre Kreativität angemessen entlohnt werden. 

Zwar darf man der Weltgesundheitsorganisation spenden – aber seinen wir ehrlich: Deren Aura verblasst auch gerade.

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Ist das alles nicht trotzdem eine tolle Sache? Nein, ist es nicht! 

Es ist vielmehr ein mehrfacher Betrug. Ein Betrug am Zuschauer und an der internationalen Öffentlichkeit. Ein Betrug an den Filmemachern. Und am Ende ein Betrug am Kino selbst.

Ein Betrug am Zuschauer ist es, weil die Filme, die „We Are One“ zeigt, oft uralt sind, und längst woanders und besser gesehen werden konnten. Und was neu ist, stammt noch nicht mal aus der zweiten Reihe. 

Ein Betrug an der internationalen Öffentlichkeit ist es, weil hier vorgegaukelt wird, das Programm habe irgendetwas mit dem Filmprogramm renommierter Festivals zu tun. Aber Venedig, das nach wie vor damit rechnet, im September stattzufinden, wird sich hüten, seine Filmschätze umsonst weltweit auszukübeln. 

Cannes genauso, schließlich hat man sich auch vor Corona jedem Einknicken gegenüber Streamingdiensten versagt – warum also ausgerechnet jetzt, ohne Geld, auf der Internet-Resterampe? 

Ein Betrug an den Filmemachern ist das alles, weil sie von dem natürlich trotzdem per Werbung erwirtschaften Geld nichts abbekommen, und weil der Profit und Imagegewinn für Youtube ihnen nichts nutzt, eher schadet. 

So ist „We Are One“ ein Verrat am Kino selbst, der zu seiner Zerstörung beiträgt und mit gezinkten Karten gespielt. 

Bei diesem neuesten Streich der US-Filmindustrie kann man ausnahmsweise sogar mal den amerikanischen Präsidenten zitieren: „It’s a fake!“

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Markus Lanz hat sich wieder neu aufgestellt. Im April bis etwa Anfang Mai war er ein Skeptiker der Eindämmungs-Maßnahmen und ein Anwalt der Bürgerrecht und der Wirtschaft. 

In seinen Fragen argumentierte er vor allem in eine Richtung: Fahren wir zu viel runter? Fahren wir zu schnell runter? Wie soll das weitergehen? Kann man sein Leben dauerhaft stillstellen?

Anfang Mai änderte sich das ziemlich plötzlich und in den vergangenen zwei bis drei Wochen trat Lanz als Verteidiger der Politik auf. Er schien die Regierung zu unterstützen, Skeptikern selbst skeptisch zu begegnen und er fragte: Lockern wir zuviel? Lockern wir zu schnell? Wie eine ganze Reihe der Leute aus den Medien. Was hieran angenehm war: dass Lanz auch da wieder gegen die grassierende Mehrheitsmeinung argumentierte, gegen „Volkes Stimme“, gegen den Zeitgeist des Monats.

Und für diesen Zeitgeist hat Markus Lanz ein gutes Gespür. Insofern ist es bemerkenswert, dass er sich jetzt, seit vielleicht einer Woche, in jedem Fall in dieser Woche, wieder anders ausrichtet: Sehr klar gibt er nun den Verteidigern der Bürgerrechte und Stimmen der Freiheit ein Forum.

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Auch das schönste Festival im Netz ist nicht das Gleiche, wie sich die Filme im Kino anzuschauen. Man hat nicht dieses Zusammensein. Man hockt halt, wie wir es hier sowieso schon während der Corona-Phase die ganze Zeit tun, allein zu Hause.

Man glotzt ein jeder für sich in den Bildschirm, und das ist das Gegenteil von Kino. Denn „Kino“ meint den Raum, meint die Situation mit anderen, mit nicht-vertrauten Menschen, zusammen einen Film zu sehen.

Das Nicht-Vertraute bedeutet Öffentlichkeit.

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Für mich ist es die wichtigste Erfahrung dieser ganzen Corona-Situation, die wir seit gut zwei Monaten erleben, dass Öffentlichkeit verschwindet. Dass also die eine Säule unseres Lebens, das Private total wird, es verschwindet das, was wir erleben, wenn wir auf die Straße heraus gehen.

Wenn wir uns in ein Lokal mit Freunden setzen und dann aber erleben, dass am Nebentisch fremde Menschen sind, die wir nicht kennen, die uns nahe rücken, mit denen wir vielleicht in ein Gespräch kommen, denen gegenüber wir uns irgendwie verhalten müssen – das alles geht zur Zeit verloren.

Wir erleben gerade den Verfall der Öffentlichkeit. Wenn wir es positiver fassen wollen, einen weiteren „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) also die Wanderung der Öffentlichkeit ins Netz.

Das Kino wird von allen Künsten am härtesten getroffen. Es gibt gerade eine große Kultur-Wüste, und die kann auch durch das Netz nur unvollständig ersetzt werden. Man mag das, was da im Netz passiert, als Oasen beschreiben, aber es bleibt eben doch eine große Wüste rundherum. Das was im Netz geschieht, hat bestenfalls Surrogat-Charakter und ist durch unauthentische Erfahrung gekennzeichnet. Diese ganzen Anstrengungen sind zwar sehr schön und könnten optimistisch stimmen, aber das große Problem dieser ganzen Anstrengungen ist zunächst einmal, dass dafür überhaupt kein Geld zur Verfügung steht, dass die Leute alles kostenlos machen, als Vorleistung erbringen – und wir alle wissen: Was nichts kostet, ist nichts wert.

Noch zentraler ist aber: Das Wesentliche von Kultur ist die Begegnung mit dem Unerwarteten, die Begegnung mit dem, was man eigentlich gar nicht sehen oder hören wollte. Das verschwindet. Die Irritationen verschwinden.

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Zur Zeit suchen wir uns alle (und dies ist die klassische Situation des Schauens im Netz) Dinge heraus, die uns entweder sowieso schon interessieren, die wir immer schon mal sehen wollten, oder gar das, was uns von irgendwelchen Algorithmen vorgeschlagen wird. Wir alle kennen diese Zeile von Online-Versandhändlern und jetzt auch Streaming-Diensten: Wenn Sie X mochten könnte Ihnen Y und Z gefallen. Oder: andere Leute, die X gesehen haben, haben auch Y und Z gesehen.

So wird das, was wir anschauen, gewissermaßen kuratiert.

Was aber zur Festivalerfahrung gehört, ist, dass wir einen Film sehen, den wir gar nicht sehen wollten. Einfach, weil gerade ein Zeitfenster da ist. Oder weil er Teil eines Programms war, in dem uns etwas ganz anderes interessiert hat. Oder weil er einfach auch im Wettbewerb läuft.

Und genau dies sind dann auch die interessantesten, die Filme, die einen am meisten beeindrucken, einfach deswegen, weil sie das Unerwartete geboten haben, nicht eine Wiederholung des Immergleichen waren.

Hierin liegt der Reiz von Filmfestivals und hierin liegt auch die Erfahrung, die die sogenannten Cineasten oder Cinephile, wie man heute gerne sagt, wieder von den normalen Kinogängern unterscheidet. Dass sie ein experimentelles Verhältnis zur Kino haben, und dass sie mit dem Kino derart umgehen, gewissermaßen einen spielerischen, einen tanzenden Zugang zum Kino haben.

Aber so geht es nicht nur Filmkritikern, die besonders viele Filme sehen, und versuchen, sich einen Querschnitt und dann Überblick zu verschaffen.

Sondern es gilt auch für ganz normale Menschen: Ich bin überzeugt, dass diese sehr gern ins Kino gehen, viel lieber, als nur zu Hause zu sitzen und zu streamen. Weil man im Kino fremden Leuten begegnet, und irgendwelchen Bilderfahrungen, mit denen man nicht rechnen konnte – und sei es nur in den Werbeclips.

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Genau dieser Verlust von Überraschung ist das Wesentliche unser jetzigen Erfahrungen. Und ich hoffe, dass genau das wieder verschwindet, dass die Überraschungen zurückkommen.

Darum hoffe ich, dass sich das Kino davon erholen wird. Aber es ist überhaupt nicht garantiert, dass das passiert, zumal im Augenblick unsere Politiker zwar riesige milliardenschwere Rettungsschirme über allen möglichen angeblich systemrelevanten Industrien ausbreiten (Lufthansa und so weiter), aber nicht für die Kultur.

Obwohl man bedenken sollte, dass am Kino auch sehr viele Arbeitsplätze hängen: die Filmindustrie und das dazugehörige Fernsehen mit seinen Tochterfirmen, dem ganzen Verwaltungsapparat und die zahlreich besetzten Redaktionen nicht zu vergessen. Aber noch viel wichtiger sind natürlich die vielen, vielen Angestellten in den Verleihfirmen, den Kinos, die Produktionen.

Das Kino hat mehr Mitarbeiter als die Lufthansa. Trotzdem redet man nicht von vergleichbarer Systemrelevanz .

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Diese Erfahrung, dass die Kultur und das Kino eben nicht systemrelevant sind, sollte sich das Kino bewahren und es ins produktive ummünzen. Das bedeutet man könnte aus der Erkenntnis heraus, dass das Kino nicht systemrelevant ist, eine Tugend machen und sagen: ja gerade die nicht Systemrelevanz ist das Bedeutende am Kino.

Die Kultur sollte also nicht mit Beleidigt-sein reagieren, sondern ganz offensiv sagen: Klar, wir sind nicht systemrelevant, aber genau darum sind wir wichtig. Weil wir der Gesellschaft etwas bieten, was nicht nur als Schmiermittel der großen Maschine funktioniert, sondern im Gegenteil als der Sand im Getriebe.

Weil wir die Irritation bieten und weil wir genau damit das machen und ermöglichen was man gemeinhin Evolution nennt Punkt weil wir also Fortschritt und Weiterentwicklung ermöglichen.

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In diesem Jahr ist der 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel – da wird es einige Feiern und Sonntagsreden geben und eine Menge Bücher, die veröffentlicht werden. 

Ganz wichtig ist aber der Grundgedanke Hegels: Dass die Geschichte eine Fortschrittsgeschichte ist, ein Fortschritt, wie er formuliert hat, „im Bewusstsein der Freiheit“. Und durchaus auch ein Fortschritt der Befreiung der Menschheitsgeschichte. Aber eben ein Fortschritt, der nicht in einer geraden steil ansteigenden Linie verläuft, sondern gegen Widerstände, zickzackförmig und spiralförmig, von Rückschlägen begleitet, „antithetisch“, wie er es formuliert hat.

Die Kultur ist die Antithese in diesem Prozess. Sie ist das, was immer Nein sagt. Das, was immer kritisiert, das was immer herausfordert. Darum wird es Kultur auch immer geben.

Ob es sie aber innerhalb des Systems geben wird, oder nur außerhalb als reiner Widerstand, das ist die Frage, die sich jetzt stellt.

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