Gedanken in der Pandemie 45: Den einen gefällt’s, den anderen nicht – so ist das Leben
Selbst wenn morgen die Welt unterginge: Selbstbestimmung und Anregungsunternehmen, und kein Verrat am Kino: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 45.
„Lieber Rüdiger: Die 50. Gedanken in der Pandemie liegen noch vor uns, denn Du bist ja ein paar Tage später regelmäßiger und wichtiger Teil unserer Corona-Mail geworden: Deine Gedanken entspringen zumeist aus dem, was Du beobachtest, hörst, erlebst, wiederentdeckst, liest … Wie geht es denn eigentlich Dir selbst als ,Selbstständiger’, als Person und Mensch in dieser Pandemie? Hat sich Menge und Art der Aufträge geändert, haben sich Arbeitsweisen geändert, was vermisst Du besonders?“
Oliver Zenglein
Auf die oben zitiert Mail von Oliver Zenglein, einer der beiden Gründer von Crew United, habe ich es erst mit einer kurzen Antwort versucht. Aber ich wusste, dass er die Frage ernst meint. Daher wollte ich sie auch ernsthaft beantworten.
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Lieber Oliver, zunächst mal: Mir geht es gut! Für mich persönlich ist die Krise auch eine sehr angenehme Erfahrung gewesen. Ich konnte länger schlafen, musste nicht zwangsläufig aus dem Haus, habe neue Techniken kennengelernt und viel telefoniert.
Wie relativ viele Journalisten gehöre ich, entgegen dem Trend, zu den Profiteuren der Krise. Denn so, wie so viele Leute wie seit Jahrzehnten gerade die „Tagesschau“ und die Spezial-Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sender schauen, so wie extrem viele gerade auch die Talkshows zu Corona ansehen, Zeitungen lesen, ja sich sogar im Netz alle möglichen Corona-Blogs reinziehen oder die ersten Corona-Bücher kaufen, die ja auch zurzeit gerade schon auf den Markt geworfen werden (was das Publikum natürlich auch deswegen tut, weil im Augenblick viele Menschen sehr viel Zeit haben), so geht es mir dann so, dass ich dieses gestiegene Bedürfnis bedienen muss. und deswegen keineswegs zu wenig Aufträge bekomme.
Die Aufträge haben sich aber verändert, denn die regulären Filmstarts, über die ich die ich normalerweise würde, fallen weg. Stattdessen gibt es aber die Möglichkeit zu eigenen Ideen und (wenn man so will) „vertiefender Betrachtung“, dazu, auch mal etwas allgemeinere Themen aufzugreifen und über sie zu schreiben. Das ist schön und reizvoll. Teilweise teile ich solche vertiefenden Gedanken ja auch in meinem Blog hier an dieser Stelle mit.
Zum Beispiel habe ich ab und zu mal über Filme geschrieben die sich mit Seuchen befassen, über Filme, in denen die Leere zu einem eigenen Akteur wir, über die Maske und ihre Kulturgeschichte – so etwas würde man normalerweise kaum machen können.
Hier wird die Krise zum Kreativitätsmobil. Sie zwingt uns zum Selberdenken. Neuerfinden. Back to Basics. Ohne das jetzt idealisieren zu wollen – ich bin alles andere als ein Quarantäne-Romantiker. Aber ich weiß schon jetzt, wo sie abflaut, dass ich mich trotz allem auch nach diesen Wochen, diesem Frühjahr des intensiven Herumschimmelns, dem „Year of Living Dangerously“, mein Leben lang zurücksehnen werde.
Tatsächlich glaube ich, dass das Coronavirus dem Kulturjournalismus gezeigt hat, wie es gehen kann und viel öfter gehen müsste: Dass man nämlich selber nachdenkt, und bestimmt, über was man schreibt und sich das nicht von den von Außen gesetzten Terminen von Premieren, Messen, Festivals, den Daten von Buch- und DVD-Veröffentlichungen vorschreiben lässt, was Thema ist.
Das Agenda-Setting überlassen die tendenziell denkfaulen Redaktionen ansonsten allzuoft den Marketing-Agenturen und PR-Fabriken. Und das ist natürlich eine extreme Gefahr für den Kulturjournalismus. Korruption durch Denkfaulheit.
Dabei gibt ja eigentlich keinerlei Zwang, solche Termine abzuhaken. Klar ist das auch für uns als freie Autoren sehr verlässlich, denn wir wissen: wir können zu dem betreffenden Termin etwas anbieten. Aber gleichzeitig ist es auch wieder extrem phantasielos. Mir zum Beispiel macht es nur begrenzt Spaß, zu sehen, dass weitere 20 Leute in der Republik genau am gleichen Tag den gleichen Film besprechen, den ich auch bespreche.
Umgekehrt geht mir natürlich vor allem das Festival-Leben ab. Dies nicht so sehr, weil ich die Filme vermisse. Das vermisse ich auch. Sondern, ich weil ich die Reisen vermisse, den Duft der Städte, des Meeres, der anderen Landschaften, den Sound der anderen Sprachen, und ich vor allem das Treffen der Freunde, die Begegnungen auch mit fremden, aber nicht-deutschen Menschen vermisse ich. Regelmäßige Leser meines Blogs werden bemerkt haben, dass ich sehr deutsch darin bin, auch eine ganze Menge an Deutschland auszusetzen zu haben.
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Tatsächlich hat auch dieser Blog mir in mancher Hinsicht geholfen die ersten Wochen der nach wie vor andauernden Pandemie und die Zeit des Ausnahmezustands psychisch gut zu überstehen. Es war eine Form der Selbsttherapie.
Ich habe den Ausnahmezustand und den de-facto Hausarrest schon sehr intensiv erlebt, weil ich ein Mensch bin, der normalerweise gerne viele andere Menschen trifft, beiläufige Treffen die mit der Arbeit zusammenhängen und intensivere mit Freunden. Auch durch den Blog habe ich ein bisschen so weiter gearbeitet wie sonst – wenn nicht sogar intensiver.
Gleichzeitig habe ich natürlich auch durch den Blog eine bestimmte regulierte, unchaotische und vor allem viel intensivere Form der Auseinandersetzung mit den ganzen Vorgängen gehabt.
Um einen Blogtext zu schreiben, brauche ich im Schnitt etwa drei Stunden. Dazu kommt bestimmt noch einmal die gleiche Zeit, eher mehr, an dazugehörigem Medienkonsum. Ich habe eigentlich dauernd im Hinterkopf: Das könnte interessant sein, das sollte ich aufschreiben, dies muss ich noch lesen, jenes nachhören.
In einem gewissen Sinn war der Blog also auch ein Weg, um mich über den Ausnahmezustand … ja fast schon hinwegzutäuschen. Gleichzeitig war es ein Weg, mich selbst ein bisschen zu organisieren, so wie ich das sonst auch gemacht hätte.
Denn Corona war ja bisher eigentlich eine Insel. Wir alle waren, auch wenn wir zu mehreren zusammenleben, in einem gewissen Sinn allein auf dieser Insel, und konnten sie nicht verlassen, ähnlich wie Robinson, der nach dem Schiffbruch gestrandet war. Wir mussten plötzlich für uns selbst Gesetzgeber werden. Wir mussten Selbstbestimmung in diesem ganz unmittelbaren Sinn des Wortes üben – also uns selber bestimmen.
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In meinem Fall sind tatsächlich auch überraschenderweise einige Aufträge hinzugekommen. So bin ich von von Film Festivals gefragt worden, ob ich Ihnen dabei helfen kann, eine Online-Ausgabe der Festivals, die in der real world nicht stattfinden konnten, auf die Beine zu stellen. Das habe ich gern getan, insbesondere, weil es Freunde sind und sympathische Institutionen, aber auch weil diese Filmfestivals Oberhausen und Frankfurt nicht zu denen gehörten, die glaubten, man könne online einfach das Gleiche machen, wie in der analogen Welt. Weil sie sehr wohl wussten, dass man online alles anders würde machen müssen, und die darin eine Chance und eine produktive Herausforderung sahen, nicht nur einen Zwang.
Ich glaube viele Filmfestivals machen es sich zu leicht. Dazu gehören sowohl jene, die so tun, als könnte man sich einfach ins Netz versetzen und die Filme munter im Netz streamen. Das finde ich leichtfertig. Ich finde es aber ebenso leichtfertig, sich auf einen fundamentalistischen oder kinofetischistischen Standpunkt zurückzuziehen, und zu sagen: Wir zeigen nimmermehr irgendetwas im Netz, wir lassen uns ausfallen. Manchmal hat das natürlich einfach praktische einsehbare Gründe, und manchmal hat es auch einfach mit der Planungsunsicherheit zu tun – man vergisst immer, dass Filmfestivals Monate im Voraus geplant werden müssen, dass die Mitarbeiter bezahlt werden müssen und das kann man nur tun, wenn man mit den Einnahmen rechnen kann.
Hier hat sich gezeigt, dass Festivals, die nicht oder nur zu einem geringen Anteil öffentlich gefördert sind, plötzlich in der Krise eine extrem höhere Planungsunsicherheit hatten. Das ist zu wenig thematisiert worden. Die öffentliche Förderung, die von manchen Festivaldirektoren gern kritisiert wird, weil sie bis zu einem bestimmten Grat auch etwas mit Verpflichtung zu tun hat, und einem manchmal scheinbar auch ein wenig von der eigenen Freiheit nimmt, ist natürlich auch ein großes Geschenk, weil sie Planungssicherheit und ein festes Fundament ermöglicht. Festivals ohne öffentliche Förderung sind in der Krise plötzlich komplett auf sich gestellt. Sie müssen riskieren, dass das Festival kurzfristig abgesagt werden könnte und wenn sie das nicht riskieren können oder wollen, können sie überhaupt keine Vorleistungen bieten. Sie haben niemanden im Rücken – das hat sich jetzt gezeigt. Es ist in dieser Krise auch in ganz anderen Bereichen, etwa bei privat finanzierten Hochschulen, sehr deutlich geworden, dass diese Einrichtungen, mit denen sich die fördernden Unternehmen in guten Zeiten gerne brüsten, in den schlechten Zeiten schnell im Stich gelassen werden. Hier gilt noch viel härter als im öffentlichen Bereich, dass die Kultur das allererste ist, was dicht gemacht wird und das letzte, das wieder aufgemacht wird .
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Dazu kommt: Betrachtungen die direkt mit Corona zu tun haben. Die finden in erster Linie in diesem Blog statt, und für diese Gelegenheit, dieses Privileg bin ich sehr dankbar.
Tatsächlich hat mir auch dieser Blog in mancher Hinsicht geholfen die Zeit des Ausnahmezustands gut zu überstehen. Es war eine Form der Selbsttherapie. Und eine extrem intensive Form der Auseinandersetzung mit den Vorgängen.
Das wird so weitergehen, der Corona-Komplex wird uns noch für den Rest des Jahres beschäftigen, und entsprechend rechne ich damit, auch noch lange die unzähligen Aspekte dieses Sujets zu beobachten und zu entfalten.
Ich bin neugierig, was noch kommt und würde lügen, wenn ich nicht gestehe, dass ich mich darauf freue. Schreiben ist meine Form der Existenz, der Auseinandersetzung mit der Welt. Ich bin kein ängstlicher Mensch – darum gilt: selbst wenn morgen die Welt unterginge, dann würde ich heute noch einen Blogtext schreiben.
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So wie das alles für mich Selbstbestimmung und Selbstbewältigung ist, so ist es für die Leser, so hoffe ich, ein Anregungsunternehmen.
Ich verstehe mich hier, und eigentlich oft als Autor als eine Art „personal coach“ für die Leser, als ein Lebensberater in geistigen und kulturellen Dingen. Das heißt: Ich rege an, ich schlage Übungen vor; manche sind sehr einfach und machen glücklich, andere sind anstrengend; von allen glaube ich, könnte man profitieren.
Was ich mir dazu auch weiterhin wünsche, ist eigentlich gar nicht viel, aber vielleicht ein bisschen Offenheit, ein bisschen das Vermögen und den Wunsch sich darauf einzulassen, und von sich selbst abzusehen. Diesen Wunsch bringt natürlich nicht jeder mit, und das kann ich auch nicht verlangen, will ich auch gar nicht.
Die Reaktionen über die letzten zwei Monate zeigen mir doch, dass viele das auf die eine oder andere Art so annehmen können und sich manchmal aus den Blogtexten auch nur das herauspicken, was ihnen gerade Spaß macht oder in irgendeiner Form nutzt um den Tag verschönern und sei es mit einer produktiven Herausforderung. Und andere verfolgen eigentlich jeden Blogtext von vorn bis hinten und schreiben mir auch manchmal. Diese Art der Auseinandersetzung freut natürlich.als ein.
Aber erhoffen kann ich schon, dass die Leserinnen und Leser eine gewisse Toleranz aufbringen, ein Verständnis dafür, dass dies natürlich ein persönlicher Blog und eine entsprechend persönliche Kommentierung und Beobachtung der Ereignisse ist, und dass es darum auch Schwankungen gibt, also mal ein Text schlechter ist, ein anderer besser – weil eben ein Mensch dahinter steht, und es ganz banal auch eine sportliche Leistung ist, jeden Tag etwas mehr als 10.000 hinzuschreiben, die man dann veröffentlichen kann.
Verlangen tue ich von den Lesern eigentlich nur eins: Zu akzeptieren, dass dieser Blog kein Service ist. Wer das nicht mag und Service will, für den gibt es die Branchennews, und der muss dann nicht weiterlesen. Aber mir ist dieser Servicegedanke fremd, ich bin kein Diener und kein Dienstleister, sondern Autor. Den einen gefällt’s, den anderen nicht – so ist das Leben.
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