Gedanken in der Pandemie 39: Für das Ende des Notbetriebs
Wortmeldungen und günstige Zahlen: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 39.
„Jeden Abend ein bisschen Nichts ist eine ausgezeichnete Medizin.“
Michel Piccoli (1925-2020)
„Frauen und Kinder zuerst!“
Klassischer Grundsatz des Seerechts, inzwischen politisch unkorrekt wegen Diskriminierung
Osnabrück ist eine sehr besondere Stadt. Die Stadt des Westfälischen Friedens hat nicht nur die niedrigste Selbstmordrate von allen deutschen Städten. Sie ist auch Sitz einer der ganz Großen unter den deutschen Regionalzeitungen. Ist Euch schon einmal aufgefallen, wie oft die „Neue Osnabrücker Zeitung“ in Pressespiegeln in einem Atemzug mit der „Neuen Zürcher“, der „New York Times“, „Le Monde“ und ähnlichen Hochkalibern zitiert wird? Das liegt daran, dass die politische Redaktion der Zeitung extrem gut vernetzt ist, und deshalb früher als selbst mancher verschnarchte Großverlag an gute Geschichten, Top-Interviews und exklusive Stellungnahmen kommt.
So auch an diesem Dienstag. Da berichtet die „NOZ“ exklusiv von einem gemeinsamen Aufruf von vier medizinischen Fachgesellschaften, drei davon auf Kinder- und Jugendmedizin spezialisiert. Darin wird gefordert, Kindergärten und Schulen sofort, umgehend und vollständig ohne Einschränkungen zu öffnen.
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„Insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate“, heißt es in dem gemeinsamen Papier. Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließung aber gravierend.
In ihrer 13-seitigen Stellungnahme, die Ihr hier komplett nachlesen und runterladen könnt, schreiben die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland, durchweg große und seriöse Fachgesellschaften: „Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden“, und zwar „ohne massive Einschränkungen“.
Die Fachverbände sprechen sich explizit gegen nahezu alles aus, was von Bildungs-Politikerseite in den letzten zwei Wochen zur Bevölkerungsberuhigung und Komplexitätssteigerung des Alltags-Lebens so beschlossen wurde: Keine Kleinstgruppenbildung! Keine Barriereschutzmaßnahmen! Kinder brauchten keinen Abstand zu wahren. Kinder müssten auch keine Masken tragen.
Das ist ein Hammer! Eine bedeutende Stimme für das Ende des Notbetriebs und gegen unsere Exzesse beim Infektionsschutz und die nach wie allgemein herrschende Corona-Hysterie.
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„Entscheidender als die individuelle Gruppengröße ist die Frage der nachhaltigen Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmischungen“, steht es weiter in dem Papier. Soll heißen: Es könnte durchaus eine komplette Klasse unterrichtet werden, es müssen keine Tische albern auseinander gerückt werden, solange man in den Pausen darauf achtet, dass sich die Schüler nicht unbedingt mit denen anderer Klassen träfen.
Zu der immer noch von einzelnen Virologen hochgejazzten Frage, wie ansteckend Kinder seien, schreiben die Autoren: „Zahlreiche Erkenntnisse sprechen gegen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder.“ Diverse Untersuchungen und Auswertungen „ergeben ein zunehmend schlüssiges Bild, dass Kinder in der aktuellen Covid-19-Pandemie im Gegensatz zur Rolle bei der Influenza-Übertragung keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik spielen.“
Kinder und Jugendliche sind nicht die treibende Kraft der Pandemie.
Der Schutz von Lehrern, Erziehern, Betreuern und Eltern und die allgemeinen Hygieneregeln stünden all dem nicht entgegen, heißt es.
Die Studie listet detailliert Fakten und statistische Zahlen aus Deutschland und mehreren anderen europäischen Ländern (Frankreich, Island, Großbritannien, Schweiz, Norwegen, Niederlande) sowie Australien auf. Liegt das Infektionsrisiko für Kinder unter 18 Jahren schon weltweit bei 2.4 Prozent, davon fast ausschließlich 15-jährige und älter, ist sie in Europa kaum statistisch erfassbar. Es handelt sich auch im Hochinfektionsland Großbritannien nur um einzelne Fälle. Die WHO findet bisher keine Hinweise auf Übertragungen von einem infizierten Kind auf andere Kinder. Das heißt nichts anderes, als: Sämtliche Einschränkungen an Schulen und Kitas sind für die Katz’.
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Mit höflicher Form schreiben die Verbände eigentlich nichts anderes als: Ihr spinnt doch alle! Ihr Papier widerspricht dem, was manche Experten bis jetzt geraten haben – zum Beispiel der bekannte Berliner Virologe Christian Drosten von der Charité.
Bisher war immer die Rede davon, dass ein Regelbetrieb an Kitas und Schulen noch monatelang nicht möglich sein werde. Diese Debatte wird nun hoffentlich neu geführt werden.
Wissenschaftsreporterin Anja Braun kommentiert im SWR: „Ich habe das Gefühl, die vier Fachverbände agieren ein Stück weit als Lobby der Kinder und suchen nach Möglichkeiten, wie die Kinder wieder ins soziale Leben integriert werden können, jetzt, wo bereits Biergärten öffnen und touristische Reisen ins Ausland ermöglicht werden.“
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Als erster Gegner des Vorstoßes meldet sich natürlich wieder Karl Lauterbach zu Wort – wer sonst? Bei Twitter schrieb er, leider sei es falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten. Sie steckten sich und andere pro Kontakt zwar tatsächlich weniger oft an. Da sie aber sie aber viel mehr Kontakte hätten, sei der Gesamtanteil „wahrscheinlich“ hoch, schrieb der SPD-Politiker, der bisher nicht als Kinder- und Jugend-Experte bekannt ist.
Woher weiß er das alles? Zudem ist sein Statement ein Denkfehler: Kinder können in der Kita oder Schule, wenn die Gruppen getrennt bleiben, ja nicht mehr als den einen erwachsenen Betreuer oder Lehrer anstecken. Und die Studie argumentiert gerade, dass dies so gut wie nie stattfindet.
Man kann Lauterbach in seiner reflexhaften Verweigerungshaltung gegen jede Form von Lockerung in welchem Bereich auch immer inzwischen nicht mehr ernst nehmen.
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„Die Menschheit schuldet dem Kind das Beste, was sie zu geben hat.“
(UN-Kinderrechtskonvention, Erklärung vom 20. November 1959)
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Auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist besorgt. Aber nicht um die Kinder, sondern um die Beschäftigen.
Auch die Schullehrer haben vor allem Angst um die eigene Gesundheit, nicht um die der Kinder, die ihnen anvertraut sind. Ich weiß, dass das eine polemische Feststellung ist, aber falsch ist der Satz nicht, denn wenn man die Verbände der Lehrer in ihrer seltenen Einigkeit so hört, dann hat man den Eindruck: Die Lehrer möchten von den Skiferien am liebsten direkt in die Sommerferien übergehen und sich zwischendurch nicht noch mit den blöden Blagen abgeben. Klar, Home Office war unglaublich anstrengend. Die armen Pädagogen mussten sich dauernd etwas Neues ausdenken, und es kostet ja auch alles viel mehr Zeit: Plötzlich muss man Video-Filmchen machen und die schönen alten Arbeitspapiere von der Matrizen-Vorlage in ein Power-Point-Dokument verwandeln.
Das, was ich im Freundes- und Bekanntenkreis so an Schulrealität mitbekomme, macht eher den Eindruck, dass die Lehrer pro Klasse, statt fünf Stunden in der Woche vorzubereiten, auf vier Stunden im Monat kommen.
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Vor einer Woche hatte man lesen können, dass einige übersensible Eltern ihre Kinder nicht zur Schule lassen und dass übersensible Lehrer und Bildungsverbände sofortigen Prüfungsstoff fordern. Vier Bildungsorganisationen hatten gefordert, alle Prüfungstermine wegen der Pandemie komplett zu streichen. Auch ohne Prüfungen, hieß es, gäbe es schon genug Probleme.
Oh, die Armen!
Immerhin Thorsten Neumann vom „Verband niedersächsischer Lehrkräfte“ widersprach mit Inbrunst: „Prüfungen sind immer Stress. Das gehört zum Leben dazu. Wie sieht es denn später im Leben aus? Sie machen irgendwann eine Ausbildung oder ein Studium oder dergleichen – dann wird es immer Prüfungen geben. Das ist einfach ein Erwachsenwerden.“
Man könnte ja auch sagen: Die Schüler sollten auf diese Corona-Zeit mit Stolz zurückblicken können und mit der Gewissheit, dass ihre Prüfung genauso viel wert ist wie die aller Anderen, die vor und nach in den Abschluss gemacht haben.
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Meine erste Woche ohne Clara Ehrmann von der Universitätsklinik in Köln. Im Deutschlandfunk war sie mir eine verlässliche Führerin durch die ersten Monate der Pandemie, wichtiger und besser, weil „näher dran“, als der oft doch sehr allgemeine und prinzipielle Drosten.
Ein bisschen entschädigt für ihre Perspektive heute in der nun wieder gesendeten regelmäßigen Medizin-Sendung ein Interview mit Anja Muntau, Professorin für Kinder- und Jugendmedizin in Hamburg-Eppendorf, die von wenigen Fällen berichtet, in denen die Corona-Infektion für Kinder schwerer verläuft.
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Was macht eigentlich die Leopoldina? Erinnert ihr euch noch, wie vor nun schon sechs Wochen die Leopoldina-Studie rauf und runter diskutiert wurde, in jeder Talkshow präsent war? In den „Tagesthemen“ und im „Heute-Journal“ kamen sogenannte Experten dieser sogenannten „Nationalen Akademie der Wissenschaften“ zu Wort. Seitdem hat man von ihr absolut nichts mehr gehört.
Sie waren ein Büttel für die Bundesregierung, um ihre eh schon beschlossenen Lockdown-Maßnahmen zu begründen. Danach hatte die Wissenschaft ihre Schuldigkeit getan – und nun ab, husch, husch, ins Körbchen, in den Elfenbeinturm, und dann bitte die Tür von innen absperren!
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Einen tollen Film über das hochgeschätzte Versand- und Müllproduktionsunternehmen Amazon hat Arte gezeigt – und den Film prompt gleich wieder aus der Mediathek genommen. Wieder mal eine dumme Entscheidung, schon weil ihnen jetzt vor der Wiederholung in zehn Tagen Klicks verloren gehen. Die bekommt nun Youtube, dort steht der Film selbstverständlich weiterhin. Schaut ihn Euch an. Man macht sich danach keine Illusionen mehr.
Wer noch mehr über die absurden, amoralischen und kriminellen Aspekte dieses Überwachungs-Kapitalismus wissen will, dem empfehle ich einen zweiten Film, den die „Deutsche Welle“ gemacht hat, und dann kann man sich auch noch die zwei BBC-Halbstünder ansehen, die der Youtube-Algorithmus dann bestimmt vorschlagen wird.
Der Begriff des „Überwachungs-Kapitalismus“ stammt übrigens von der amerikanischen Ökonomin Shoshana Zuboff. Hier ihre Hauptthesen, die sie 2018 auf der Konferenz „Zukunft der Datenökonomie“ gehalten hat, zum Nachlesen.
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„An oder mit Corona gestorben“ – so sagt man jetzt gerne. „An oder mit Corona gestorben“ sind in Deutschland mit dem heutigen Tag über 8.000 Menschen. Eine traurige und für sich genommen erschreckend hohe Zahl. Zugleich im Grunde kaum erwähnenswert gemessen daran, dass sich diese Zahl auf knapp drei Monate erstreckt und in diesen drei Monaten etwa 234.000 Deutsche insgesamt gestorben sind. Und auch gemessen an den Toten der übrigen Welt. An und mit Corona genesen sind in Deutschland im gleichen Zeitraum über 150.000 Menschen, die unbemerkten Fälle nicht mitgerechnet. Allein gestern haben wir rund 300 Neuinfektionen, aber 1.000 Genesene. Das bedeutet: Die Zahlen entwickeln sich überaus günstig, gestern sind dreimal so viel Leute genesen, wie neu infiziert wurden.
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Ein „Super-Zyklon“ erreicht voraussichtlich morgen Indien. Auch die dortigen Rettungskräfte bemühen sich um Abstand und korrekt sitzende Masken. Aber es gibt noch andere Probleme in der Welt. Es wird Tote geben, im Golf von Bengalen. Wenn es schlecht läuft, mehr als alle bisherigen Corona-Toten in Deutschland.