Gedanken in der Pandemie 32: Schütz’ die Oma vor Corona

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Heute vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ein Anlass, sich in den Mediatheken von Arte und ARD den Zweiteiler „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ von Volker Heise anzuschauen. | Foto © ARD

Unterhaltsame moralische Dilemmata absurde Regelungswut und brillante Theorien: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 32.

„Meine Herren, in hundert Jahren wird man einen schönen Farbfilm über die schrecklichen Tage zeigen, die wir durchleben. Möchten Sie nicht in diesem Film eine Rolle spielen? Halten sie jetzt durch, damit die Zuschauer in hundert Jahren nicht johlen und pfeifen, wenn Sie auf der Leinwand erscheinen.“
Joseph Goebbels, am 17. April 1945 in einer Ansprache zu seinen Mitarbeitern

„Die Geschäftigkeit der Deutschen ist ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden.“
Hannah Arendt, „Besuch in Deutschland“, 1949

 

„Was tun Sie, wenn Ihnen in Zeiten ausdrücklicher Ausgangsbeschränkung in Berlin die Decke auf den Kopf fällt?“
„Ich fahre nachts oft stundenlang durch das leere Berlin, diesen Anblick werde ich nie wieder vergessen. Die leeren Plätze, die dunklen Restaurants und Cafés, kaum Autos, manchmal ein Polizeiwagen, dann wieder Stille. In dem Film ,Vanilla Sky’ fährt Tom Cruise morgens durch das vollkommen ausgestorbene New York. So kommt es mir vor, ein seltsamer Wachtraum. Ich war am Flughafen und am Bahnhof – es war erschreckend, unwirklich, falsch.“
Ferdinand von Schirach, Jurist und Schriftsteller, in einem Zeitungsinterview.

Heute möchte ich Euch zum Abschluss der Woche ein Computerspiel empfehlen. Das ideale Vergnügen fürs Wochenende. Versprochen! Genau gesagt, sind es sogar ziemlich viele Computerspiele, und sie haben den Vorzug, dass sie uns, wie diese Psychotests in Frauen-, Männer- und Teenagerzeitschriften („Bin ich empathisch?“) auch noch etwas über uns selbst verraten. 

Die meisten haben etwas mit dem „Trolley-Dilemma“ zu tun, das bei uns als „Weichensteller-Problem“ bekannt ist. Es geht dabei um einige grundsätzliche moralphilosophische Fragen, wie etwa die, ob das Unterlassen einer Handlung genauso schlimm ist wie aktives Handeln, falls die Folge eine schlechte ist? 

Der zentrale Konflikt dieser moralischen Dilemma-Situation ist dabei die Frage: Darf man einen Menschen opfern, um fünf zu retten? 

Man kann diese Frage endlos ausdifferenzieren und etwa fragen: Darf man ein Kind opfern, um fünf Rentner zu retten? Oder darf man eine Krankenschwester opfern, um fünf Schwerverbrecher zu retten? Und so weiter und so weiter … 

Schon klar, was das mit Corona zu tun hat. Der Charme dieses von der britischen Philosophin Philippa Foot 1967 in Theorieform gegossenen Problems ist, dass es keine „richtige“ Antwort und keine eindeutige juristische Lösung gibt. 

Aber wie wir antworten, verrät uns eine Menge über unser moralisches Gefühl, unsere Wert-Intuitionen. Und wenn wir darüber nachdenken, begreifen wir bald, dass Gefühl und Intuition keine sehr verlässlichen Ratgeber bei moralischen Fragen sind. 

Warum ist das nun ein Computerspiel? Weil es im Internet diverse interaktive Anwendungen und Tests und Varianten des Trolley-Problems gibt, in denen man spielerisch die vielen Dilemmata begreift. Das Beste ist wohl ein Testpogramm des „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT) in Boston. 

Hier geht es darum, herauszufinden, wie ein selbstfahrendes Auto programmiert werden soll, um in Konfliktfällen zu entscheiden: Sollen die Insassen um jeden Preis gerettet werden? Macht es Sinn und ist es ethisch vertretbar, vom gesellschaftlichen Wert von Menschen zu sprechen? 

Auf der Seite „Moral Maschine“ des MIT könnt ihr das selbst und kinderleicht austesten.

Ein anderer Moral-Test dreht sich um die Frage, wie man Spendengeld verteilt. Wer soll profitieren: Afrika oder Europa? Frauen oder Kinder? Wasser oder Medikamente? Oder will man es am Ende gar nicht so genau wissen? 

Für Gefühle gebraucht man im Netz Emojis. Deep-Emioji ist ein Programm, bei dem man Gefühle in der digitalen Welt erforschen will. 

Wer mehr über seinen moralischen Sinn erfahren möchte, könnte es mal mit dem „Moral Sense Set“ ausprobieren.

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Ist das Corona-Virus ein Gespenst, das um Mitternacht gefährlicher ist als um 18 Uhr? Den Eindruck muss man bekommen, wenn man sich die jetzt verkündeten chaotischen Regelungen für die Öffnungen von Bars, Cafés Restaurants und anderen Gaststätten anschaut: In manchen Bundesländern dürfen sie nur bis 20 Uhr geöffnet haben, in anderen bis 22 Uhr. Später nirgendwo. 

Hierbei handelt es sich einfach nur um eine neue Dummheit. Sie offenbar vor allem, dass die Regierenden aus den Fehlern der letzten Wochen nichts gelernt haben. 

Ich prophezeie hiermit, dass diese Einschränkungen keinen Bestand haben werden. Ähnlich wie die absurde 800-Quadratmeter-Regelung für Geschäfte, dürfte diese Regelung sehr bald von den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten gekippt werden: Zum einen, weil die unterschiedlichen Regelungen der Länder zumindest in den Grenzgebieten zu Ungleichbehandlung von Konkurrenten führt. Aber auch, weil es keinen Grund gibt, Gastwirten, die eine Konzession bis Mitternacht oder 1 Uhr haben, das Geschäft zu untersagen. Dies ist weder sachlich angemessen noch verhältnismäßig. 

Was daran wirklich schmerzt, ist die dahinterstehende Haltung: Misstrauen gegenüber den Bürgern (deren verantwortliches Tun man gerade noch als „Wohlverhalten“ gelobt hat. 

Und absurde Regelungswut: Die deutschen Behörden glauben, alle möglichen Bereiche des Lebens mit detaillierten Verordnungen überziehen zu müssen. 

Wozu muss man alles regeln? Wies kann man die Dinge nicht den Menschen selbst überlassen? Man kann ihnen gerne in Fällen wie einer Seuche Verhaltensrichtlinien geben, und deren Verletzung gegebenenfalls sanktionieren. Den Rest aber könnte man doch den Bürgern komplett selbst überlassen. 

Tatsächlich gibt es eine behördliche Lust an immer neuen Schikanen und eine Angst vor Kontrollverlust. Sie paart sich mit einem neuen Puritanismus, der die Gesellschaft durchzieht. 

Alle sollen sein wie wir. 

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Als Antidot zu solchen Haltungen empfehlen wir Philosophie – garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen. Heute mal Jacques Lacan über Angst. Und dann über Repression. 

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Auch heute wieder beim Deutschlandfunk ein auf der dortigen Website nachher kaum auffindbares Corona-Update mit dem weiblichen Christian Drosten, Dr. Clara Lehmann von der Kölner Universitätsklinik. „Ich bin ja Infektiologin“ sagt Lehmann da gleich zweimal. Im Gegensatz zu den Virologen und den Epidemologen, „die nur nach dem Virus schauen“, blicke sie auf den ganzen Menschen. Und deshalb sei das jetzige Ende vieler Ausgangsbeschränkungen schon gut. Kein Wort über Ängste, zu frühe Lockerungen, keine Politikerschelte, sondern eine grundsätzlich positive Haltung voller Vertrauen in den Mitmenschen. 

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Heute vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ich möchte jedem empfehlen, sich in den Mediatheken von Arte und der ARD den Zweiteiler „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ von Volker Heise anzuschauen, der von Zero One Film und Marc Bauder (Bauderfilm) produziert wurde. Der Film basiert auf Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und anderen Dokumenten aus dem Jahr 1945 in Berlin. Verbunden mit Fotos und Filmen, größtenteils ebenfalls aus dem Berlin des Jahres 1945, stimmen sie einen vielstimmigen Chor der Augenzeugen an, der unmittelbar von den Ereignissen berichtet. Geschnitten hat alles Andrew Bird. Neben vielen tatsächlich selten zu sehenden Bildern, bestechen die Zitate der Augenzeugen aus dem Off: Ruth Andreas Friedrich, Ursula von Kardorff und vielen mehr …

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Ferdinand von Schirach, Jurist und Schriftsteller, hat der „Welt“ ein Interview gegeben. Anlass ist das Buch, das er zusammen mit Alexander Kluge über Corona und die Folgen für die Demokratie geschrieben hat. Es heißt „Trotzdem“. 

Im Gespräch geht es aber vor allem um die Sehnsucht nach Sicherheit und darum, ob wir unsere Freiheit zu gering achten. Schirach ist sehr beunruhigt: „Wenn sich die Bürger zwischen Sicherheit und Freiheit entscheiden müssen, wählen sie die Sicherheit. […] Wir achten in einer Krise die Freiheit gering, sie scheint doch nur etwas für Sonntagsreden zu sein. Wenn es darauf ankommt, scheint sie plötzlich nichts mehr zu zählen. Offen gesagt: Mich beunruhigt das sehr.“

Die Demokratie sei zwar nicht gefährdet, die Kanzlerin „eine besonnene Frau“, aber je länger es dauert, um so weniger seien Einschränkungen der Bürgerrechte legitim: „Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse.“

Schirach erklärt auch, wie Wissenschaft funktioniert und er erinnert an die Grenzen der Virologen-Weisheit: „Das Wesen der Wissenschaft ist nun einmal Streit, der Streit um die bessere Theorie. Wissenschaftliche Theorien müssen immer widerlegbar sein. Eine Theorie kann sehr gut sein, brillant sogar, aber sie ist niemals wahr. Sie ist nur im Moment noch nicht widerlegt.“

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