Gedanken in der Pandemie 26: „Die Epidemie klänge bis zum Sommer wieder ab …“
Lassen wir uns nicht entmündigen! Von der Grippe und anderen Viren: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 26.
„1. Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
2. Warum? Stichworte genügen.
4. Möchten Sie unsterblich sein?
21.Welche Qualen ziehen Sie dem Tod vor?“
Max Frisch, Fragebogen I. und XI. in: „Tagebuch 1966-1971“
Ein kleiner Fragebogen, als Max-Frisch-Hommage und Einübung in zukünftiges Verhalten: Was würdet ihr, liebe Leser, eigentlich tun, wenn ihr mir persönlich auf der Straße begegnen würdet? Wenn wir uns kennen würden, also normalerweise zumindest ein paar Höflichkeitsworte wechseln würden? Wenn ihr aber wüsstet, dass ich mit dem Sars-Cov-19-Virus infiziert bin?
Würdet ihr schreiend davonlaufen? Würdet ihr die Straßenseite wechseln? Würdet ihr mich beschimpfen, dass ich mich als grausliger Gefährder gefälligst schleichen und in Quarantäne begeben sollte? Dass ich verhaftet werden müsste? Würdet Ihr die Polizei rufen?
Würdet Ihr fragen, ob ich gerade auf dem Weg zum Arzt bin? Ob ich vielleicht Hilfe brauche? Würdet ihr überhaupt mit mir sprechen? Warum?
Alle Antworten willkommen.
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Wir müssen jetzt endlich zugeben: Die Bundesregierung hat Fehler gemacht. Sie hat nicht alles richtig gemacht. Sie macht weiter Fehler. Das ist nicht schlimm, womöglich sogar unvermeidlich. Wer handelt, macht immer Fehler. Aber wir müssen aus diesen Fehlern lernen; wir sollten sie nicht schönreden, nicht einfach geschehen lassen. Die Regierung darf Fehler machen, aber lernen müssen wir aus diesen Fehlern trotzdem.
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Eine Lanze für Julian Nida-Rümelin. 2000 bis 2002 war er Kulturstaatsminister unter Schröder. Ich war damals kein wahnsinniger Fan und wahrscheinlich etwas ungerecht, auch weil er letztlich der Schöpfer der unseligen Deutschen Filmakademie ist, die Bernd Neumann, der spätere Kulturstaatsminister der CDU, seinerzeit vehement und mit guten Argumenten bekämpft hat. Ich kenne Nida-Rümelin aus München. Als Philosoph war er immer interessant und hat sich über die Jahre immer wieder durch kluge Stellungnahmen hervorgetan.
Heute ist er in den Deutschen Ethikrat gewählt worden, den er einst gegründet hatte – herzlichen Glückwunsch.
Gratulieren kann man auch dem Ethikrat und, pathetisch formuliert: „Deutschland“. Denn Nida-Rümelin könnte als so scharfer wie kühler Denker genau der richtige und nötige Mann für die (Corona-)Zeit sein. Schon in den letzten Wochen hatte er sich in den vielen Fragen der Gegenwart ein paar Male zu Wort gemeldet.
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Zum Beispiel mit einer Facebook-Nachricht, die ich, da für die Öffentlichkeit bestimmt, hier komplett zitiere:
„Trotz der verständlicherweise angespannten Lage, der Ängste und der Gereiztheit, will ich versuchen, in wenigen Worten die in meinen Augen plausibelste Exit-Strategie zusammenzufassen. Gegenwärtig haben wir weit divergierende Einschätzungen und Empfehlungen, wir müssen uns von der Vorstellung lösen, ,die’ (welche?) Virologen könnten auf sich gestellt eine kohärente Gesamtstrategie entwickeln. Das ist Sache der Politik (und in der Demokratie auch der gesamten Bürgerschaft) unter Einbeziehung wissenschaftlichen Sachverstands unterschiedlicher Disziplinen: Epidemiologie, Virologie, Ökonomie, Soziologie, Jurisprudenz, Politikwissenschaft, auch Entscheidungstheorie und (Risiko-)Ethik. Lassen wir uns nicht entmündigen! „Aufklärung ist Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ hatte Immanuel Kant einst geschrieben.
Für jüngere Menschen ohne gravierende Vorerkrankungen ist das Letalitätsrisiko von Covid-19 selbst bei pessimistischsten Annahmen geringer als bei einer saisonalen Influenza-Epidemie. Daher sollte dieser Teil der Bevölkerung (zum Beispiel unter 65 ohne Vorerkrankungen) möglichst rasch keinen allgemeinen Beschränkungen mehr ausgesetzt werden (gleiches gleich behandeln). Das kann auch schrittweise beginnend mit den Jüngsten erfolgen, aber es muss hinreichend zügig vorangehen. Dies würde die vom RKI langfristig angestrebte Herdenimmunität rasch aufbauen, Daten aus Dänemark lassen vermuten, dass sie schon jetzt bei mindestens 2,7 Prozent, also mehr als zwei Millionen in Deutschland besteht. Ro<1 würde sich in zirka acht Wochen einstellen, die Epidemie klänge bis zum Sommer wieder ab. Die Gefährdeten würden bis dahin geschützt, ab Sommer gäbe es keinerlei Zwangsmaßnahmen mehr, aber fortgesetzten, organisierten Schutz für die Gefährdeten. Die Zahl der Todesfälle würde auf höchstens ein Zehntel der vom RKI für Deutschland erwarteten absinken. Alles hängt davon ab, dass die Altenheime, Pflegeheime, die alleinlebenden Alten und Kranken geschützt werden, zum Beispiel, dass sie nicht gezwungen sind, in diesen riskanten acht Wochen einzukaufen. Konsequentes Testen des medizinischen und des Pflege- und Betreuungspersonals, anonymisiertes Handytracking, Masken, Schutzkleidung … Cocooning erlaubt die Kombination von Containment für die Gefährdeten und Herdenimmunität für die wenig Gefährdeten. Keine Isolierung, keine soziale Distanz, keine Zwangsmaßnahmen auf Dauer, für niemanden.“
Super!
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Zwischenfrage: Lieber Julian Nida-Rümelin, Sie schreiben, „die Epidemie klänge bis zum Sommer wieder ab …“ Wenn es so einfach ist, warum passiert es dann nicht? Warum wird das nicht mal debattiert? Oder wird es in nicht-öffentlichen Zirkeln schon?
Da wir beide nicht an Verschwörungstheorien glauben: Was ist es tatsächlich, das die Regierenden hindert?
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Und dann gab es in der letzten Woche gleich mehrere signifikante Stellungnahmen. Für 3sat-„Kulturzeit“ spricht JNR gerade das „Corona-Tagebuch“. Darin spricht er druckreif und ohne allen Chi-Chi, vor einer weißen Wand, denn die Bücherwand hat er nicht nötig. Er ist sehr genau, sehr seriös, sehr no-nonsense – wie Greta Garbo in „Ninotschka“.
„Manche sterben“ – aber es gebe auch andere Folgen, und wir müssten versuchen, die verschiedenen Ziele im Gleichgewicht zu halten. Er warnt vor Einseitigkeiten, bittet darum, auf die Daten zu hören.
Passenderweise sagt er auch Schutz gewähren, aber er will niemanden zum Schutz zwingen.
Es gehe nicht, Menschen an der freien Entfaltung der Persönlichkeit über Monate, vielleicht Jahre zu hindern.
„Wir diskriminieren Kinder“, wenn wir das tun.
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Und dann kam letzte Woche der Hammer.
Gemeinsam mit fünf anderen prominenten Autoren (Alexander Kekulé, Boris Palmer, Christoph M. Schmidt, Thomas Straubhaar und Juli Zeh) schrieb Nida-Rümelin im „Spiegel“ einen Appell an die Politik und entwickelte einen Gegenentwurf zur aktuellen Strategie.
Ich finde es erstaunlich, das über diesen wichtigen herausfordernden Text so wenig berichtet wurde, dass er quasi öffentlich totgeschwiegen wurde, und in der Brandung eines mainstreamigen und leider regierungshörigen deutschen Medienbetriebs – von „Taz“ bis „Faz“ – allzu schnell weggespült wurde. Hier könnte man zum Verschwörungstheoretiker werden.
Denn wir sind in Gefahr, durch den Lockdown unser soziales, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ruinieren. Wir müssen Gesundheit, wirtschaftliches Leben und Rechtsstaat gleichermaßen schützen. So, wie wir es derzeit angehen, laufen wir Gefahr, alle drei Bereiche zu zerstören.
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„Der Maßstab heißt Grippe. Um der Pandemie zu begegnen, müssen wir unseren Umgang mit Risiken neu definieren.“
So der Titel.
Es ist wichtig, hier nochmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass mit Alexander Kekulé einer der Verfasser ein namhafter Virologe ist.
Der Virus sei zwar auf dem Rückzug.
„Dafür aber nehmen die Nebenwirkungen des Lockdowns exponenziell zu. Die Bürger müssen hinnehmen, dass ihre verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte enorm beschränkt werden. Zudem bringt der verordnete Ruhezustand der Volkswirtschaft viele Haushalte und Unternehmen an den Rand ihrer Existenz.
Dabei geht es nicht um die Frage ,Geld, Grundgesetz oder Leben’ – vielmehr bedingen sich diese Ziele gegenseitig. Nur wenn die Wirtschaft funktioniert, können wir die Bürger mit grundlegenden Gütern versorgen, die Schwächeren in der Gesellschaft unterstützen und ein leistungsfähiges Gesundheitssystem aufrechterhalten. Szenarien des Münchner Ifo-Instituts weisen darauf hin, dass jede weitere Woche des Lockdowns volkswirtschaftliche Schäden von bis zu 50 Milliarden Euro verursachen könnte. Es droht eine Rezession, für deren Ausmaß es in der deutschen Nachkriegsgeschichte kein Beispiel gibt. Das wird nicht nur bei Wohlstand und Beschäftigung tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die allgemeine Lebensqualität und den Gesundheitszustand der Bevölkerung beeinträchtigen.
Wir müssen daher aus dem Lockdown so rasch wie möglich in eine Phase übergehen, die unsere Volkswirtschaft aus dem Winterschlaf aufweckt, Eingriffe in unsere Grundrechte minimiert und uns dennoch hinreichend vor einem Wiederaufflammen der Gesundheitskrise schützt. Die jetzt eingeleiteten Lockerungsmaßnahmen können diesen Anspruch nicht erfüllen.
Sie würden die Republik noch viele Monate, vielleicht sogar Jahre unter das Joch der täglich wechselnden Fallzahlen stellen.“
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Die Grippe ist der Maßstab: Denn „nach Angaben des Robert Koch-Instituts sterben im Zusammenhang mit Influenza-Infektionen allein in Deutschland bis zu 25.?000 Menschen jährlich, unter ihnen sind auch junge Patienten und Kinder. Dieses Risiko nehmen wir als Gesellschaft hin, ohne über Lockdowns oder auch nur eine Impfpflicht nachzudenken – es ist der unausgesprochene Preis der Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlstands.“
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„Coronaleugner“ – der Begriff ist mir in den letzten Tagen mehrfach begegnet – zuerst auf Facebook natürlich, wo sonst? Ein infamer Begriff. Seine Inflation und die Tatsache, das solche Begriffe weitgehend widerstandslos entgegen genommen werden, zeigt eine Gesellschaft, die jedes Maß verliert, die ein wenig verrückt wird. Die durch diesen Ausdruck erfolgende Gleichsetzung mit den Leugnern der Shoah ist empörend.
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Man muss immer wieder daran erinnern: Im Bundesdurchschnitt sind laut Robert-Koch-Institut 187,6 von 100.000 Einwohnern infiziert. Das entspricht einem Prozentsatz von 0,19. Übertragen auf 83 Millionen Deutsche bedeutet das: Es sind 157.700 Menschen infiziert. Es bedeutet auch: Von 1.000 Leuten, denen ein Mensch begegnet, sind im statistischen Mittel keine zwei Menschen infiziert. Tatsächlich sogar weniger, da Infizierte in Krankenhäusern und Altersheimen überdurchschnittlich oft anzutreffen sind, außerhalb also unterdurchschnittlich.
Dunkelziffern nicht eingeschlossen.
„Begegnen“ oder auch „treffen“ bedeutet nicht, das eine Ansteckung zwangsläufig geschieht. Abgesehen von der reinen unbeeinflussten (Un-)Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung kann man das Ansteckungsrisiko durch de bekannten Schutzmaßnahmen, durch Masken, durch Distanz reduzieren. Und durch zeitverknappte Begegnungen, dadurch also, sich mit den meisten Menschen nicht länger als zehn Minuten zu unterhalten.
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Im Zweifel gegen die Freiheit – so lautet die Regel bei uns, im Zweifel gegen die Gefahr, im Zweifel fürs Wegducken, im Zweifel fürs Nicht-Aufmucken.
Corona ist gerade der Indikator. Er zeigt uns, wo wir stehen in dieser Gesellschaft. Keine schöne Nachricht.
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„1. Wissen Sie in der Regel, was Sie hoffen?
2. Wie oft muss eine bestimmte Hoffnung (z.B. eine politische) sich nicht erfüllen, damit Sie die betroffene Hoffnung aufgeben, und gelingt Ihnen dies, ohne sich sofort eine andere Hoffnung zu machen?
5. Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?
3. Beneiden Sie manchmal Tiere, die ohne Hoffnung auszukommen scheinen, z.B. Fische in einem Aquarium?“
Max Frisch, Fragebogen IV. in: „Tagebuch 1966-1971“