Gedanken in der Pandemie 24: Es beginnt zu brodeln

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Die Lola-Gala lief dieses Jahr im Corona-Stil. | Foto © Deutscher Filmpreis, Florian Liedel

Wolfgang Schäuble und der mittlere Realismus: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 24. 

„Wir alle wissen nicht, was unser Handeln für Auswirkungen hat. Aber die Politik muss trotzdem handeln. Und es gibt eben nie eine absolut richtige Entscheidung.“
Wolfgang Schäuble

„Philosophieren heißt Sterben lernen.“
Cicero

Was für ein Wochenende. So viel los, und dann musste man noch das schöne Wetter ausnutzen und zum See, wenn auch immer auf Abstand, klar. 

Dabei wollte ich eigentlich über die Chilenen schreiben, über die Österreicher, die Chinesen, endlich mal über die Italiener und, ja vielleicht auch mal wieder über die Schweden. Und dann kommt dieses Wochenende, und dann endet man … bei Wolfgang Schäuble. 

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Der Berliner „Tagesspiegel“ ist wirklich keine tolle Zeitung, eher ein ziemliches Provinz-Blatt. Aber manchmal gelingt auch dem Tagesspiegel ein Coup. Ein solcher Coup ist das Interview mit Wolfgang Schäuble am Sonntag. Schäuble spricht darin über die Dilemmata der Handelnden, und sagt wie zu erwarten viele kluge Dinge: „Wir müssen die verschiedenen Gesichtspunkte klug abwägen. […] Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen – auch das hätte fürchterliche Folgen.“ Es sind zum einen die kleinen bösen Bemerkungen, mit denen dieses Interview wirkt: „Wir können eben auch nicht sagen: Wir machen alles zu und lassen es dabei. Diesen Abwägungsprozess müssen wir deutlicher machen.“ 

“Müssen wir deutlicher machen.“ Da liegt die Kritik. 

Er kritisiert auch die „Übertreibungen“ der Bundesländer und das provinzielle Verhalten der Polizei: „Dass Sie mit einem Berliner Kennzeichen in Mecklenburg-Vorpommern Probleme kriegen oder die Polizei von Schleswig-Holstein Hamburger Radfahrer abweist – ja, wo sind wir denn! Und die Kultusministerkonferenz ist ja stets ein besonders innovativer Teil unseres föderalen Systems. Ich musste lernen, dass die Ferien heilig sind und dass es vollkommen ausgeschlossen ist, Abiturprüfungen ein Vierteljahr später abzulegen.“

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Schäuble fordert eine öffentliche Debatte und erinnert die Parlamentsfraktionen und das Parlament daran, wozu sie da sind: Zum Streiten und Debattieren. 

Das eigentliche Dynamit des Interviews ist aber folgende Passage: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.

Frage: Man muss in Kauf nehmen, dass Menschen an Corona sterben?

[Schäuble:] Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben irgendwann alle.“ 

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Schäuble sagt nichts zufällig. Aus der unstrittigen Feststellung, dass der Schutz des Lebens nicht absolut sondern relativ ist, leitet Schäuble die gewagtere These ab, dass es auch nur eine relative Pflicht des Staates gibt, jedes einzelne Leben zu retten und zu schützen. 

Auch in der Coronakrise muss in bestimmten Fällen abgewogen werden. Nur ein Naiver würde das bestreiten. Wie viele gerettete Covid-19-Erkrankte rechtfertigen eine Maskenpflicht? Wie viele rechtfertigen eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Leiden und Tode, die mit ihr verbunden sein werden? Wie viel Steuergeld darf der Staat bezahlen, um ein Leben zu retten? Es wäre unmoralisch, sich solchen Fragen nicht zu stellen. Schäuble gebührt viel Respekt dafür, dass er es trotzdem tut.

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„Es wird schwieriger, je länger es dauert“ – Schäuble ist als alter Konservativer ein Denker der Krise, der Tocqueville zitiert, einer der wie der Fuchs in der Fabel lange vor dem Frosch erkennt, dass das Wasser in in absehbarer Zeit zu brodeln beginnt. 

Er warnt vor einer Überforderung des Staates und davor, dass die Stimmung in der Bevölkerung in der Corona-Krise kippt. Noch sind es vor allem Wutbürger, Rechtsextreme und Vollidioten, die am Wochenende gegen die Beschränkungen auf die Straße gegangen sind. Aber wie lange bleibt das so?

Gerade bei jenen, die durch die Restriktionen direkt und massiv betroffen sind, wächst die Verärgerung: Eltern, die nicht wissen, wohin mit ihren Kindern. Gastwirte, die sich fragen, warum Friseure wieder öffnen dürfen, sie aber nicht. Viele, die nach wenigen Wochen vor den Trümmern dessen stehen, was in Jahren oder gar in Generationen aufgebaut wurde: Geschäftsinhaber, Künstler, Veranstalter, Schausteller. Ganzen Wirtschaftszweigen drohen Pleitewellen.

Und warum das Ganze? Aus Furcht vor einer Seuche, die selbst unter den über 80-jährigen, die an ihr erkranken, mehr als 86 Prozent am Leben lässt. Ist das wirklich verhältnismäßig? 

Diese Verhältnismäßigkeit stellt Schäuble auf seine Art infrage. Wir alle müssen sterben, ein paar sogar an Corona. 

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Während der „Tagesspiegel“ nur spießig ist, ist die „Bild“-Zeitung in ihrer Dummheit wenigstens lustig. „Post von Wagner“ das ist Surrealismus auf LSD „Lieber Wolfgang Schäuble, Sie sind vom dritten Brustwirbel abwärts querschnittsgelähmt. Sie wissen mehr vom Leben und Sterben als die meisten…“ 

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“Wir wollen keine Verhältnisse wie in Italien“ – das ist das Mantra, das Leute wie Karl Lauterbach wiederholen. Ja warum aber muss man das überhaupt sagen? Wer will in Sachen Corona schon Verhältnisse wie in Italien?“ 

Was man dagegen wiederholen muss, ist, dass wir überaus weit davon entfernt sind, Verhältnisse wie in Italien zu haben. Wir haben zur Zeit, Stand Montag, 14.255 freie Intensivbetten. Wir haben gleichzeitig in Deutschland nach den aktuellen Zahlen der Johns-Hopkins-Universität seit dem Ausbruch von Corona überhaupt nur 6000 Tote bei gut 150.000 Infizierten und 114.000 Geheilten. Das heißt: Wir sind weit davon entfernt, diese Zahl der Betten auch nur annährend mit Corona Patienten voll zu kriegen. 

Bei der „SZ“ heißt das dann trotzdem in Unterzeile „Vorerst reichen die Intensivbetten“ – das klingt eher drohend als hoffnungsvoll, eher als ob es schon fast knapp würde. Das ist Panikmache und das sollte in seriösen Medien genauso wenig vorkommen, wie die Geringschätzung von berechtigten Ängsten. Aber gerade weil man berechtigte Ängste ernst nehmen muss, sollte man nicht unberechtigte Ängste schüren. 

Sowieso sollte man keine Ängste schüren, sondern allenfalls zur Vorsicht ermuntern. 

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Wo es andersrum ist, wird man aber auch nicht glücklich: Man muss nur mal BBC oder US-amerikanisches Fernsehen angucken, und nach ein paar Stunden hält man es einfach nicht mehr aus, dieses schnelle, aufgeregte Sprechen, dieses fanatische optimistisch-sein, dieses intensiv-sein. Die Männer mit ihrer allzuorangenen Sonnenstudio-Bräune. Aber gerade die Frauen im Fernsehen aus Amerika und England sind immer so over the top gestylte und geschminkte Hardbodies, wie Bret Easton Ellis das genannt hätte, vorzugsweise in preußischblauen Kostümen. 

Andererseits ist das ein notwendiger Kulturschock, etwas das ich mir öfters antun sollte in diesen Zeiten, wo wäre ja genug Zeit haben zum Fernsehen gucken.

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Mit unterschiedlichen Ästhetiken hatte man auch beim „Deutschen Filmpreis“ zu tun. Wer hat sich das angesehen? Es war eine Veranstaltung, die vieles über das Gute und alles über das Schlechte im Deutschen Film verriet. 

An diesen „Deutschen Filmpreis“ wird man sich in jedem Fall erinnern: Als eine Veranstaltung ohne Publikum, aber live in der ARD, bei der sich der Favorit durchgesetzt hat: Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ gewann acht von neun möglichen „Deutschen Filmpreisen“ – erwartbar, aber ziemlich langweilig für eine Veranstaltung, die ein bisschen Spannung dringend nötig hatte: Ohne Saalpublikum, ohne Freudentränen oder irgendeine andere Form, von spontaner Regung auf der Bühne, ohne Party und Partystimmung. 

„Corona“ hatte auch hier fast alles verdorben. 

Um so mehr muss man den Machern des „Deutschen Filmpreises“ gratulieren für das, was ihnen gegen alle Umstände gelang. Der eigentliche Star des Abends waren daher gar nicht die Filme, sondern der Moderator: Edin Hasanovic – meist allein im großen Saal musste er fortwährend gegen die leere Wand anreden. Er machte das mit Bravour. Und mit einer Lässigkeit, einer Ironie auch gegenüber Autoritäten, die dem deutschen Film ansonsten fehlt. 

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Der Rest aber war das Übliche: Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerksamkeit für Drehbücher gäbe. Aber wenn sie es einmal besser machen können, dann kommen nur peinlich lässige oder überkandidelt geschwollene Reden der Laudatoren heraus. Zum Beispiel: Drehbücher sind nicht etwa etwas im Hirn oder im Herz, sondern gleich „in der Muskulatur der Autoren“. Wer schreibt sowas? 

Zum Beispiel: Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerksamkeit für Frauen gäbe. Aber wenn die Filmakademie es einmal besser machen könnte, dann versteckt sie sich hinter einer Nora Fingscheidt, die von allen Förderchefinnen vorher nur ein paar Förder-Brosamen erhalten hat, und nominiert  Ina Weisses „Das Vorspiel“ kein einziges Mal, und Kathrin Gebbes „Pelikanblut“ sowie Mariko Minoguchis „Mein Ende Dein Anfang“ einfach nur je einmal in Nebenkategorien. Obwohl alle drei Filme zum besten halben Dutzend der Film-Auswahl des letzten Jahres gehörten. Sie wurden mehr oder weniger links liegen gelassen, wie die entsprechenden Frauenfiguren: In allen drei Fällen ist eine Frau die Hauptfigur, in zwei Fällen spielt Nina Hoss Mütter und dies komplett anders, als es die immerzu leidend-liebenden Mütterklischees des deutschen Kinos zulassen.

Nichts davon beim Filmpreis sichtbar.

Auch das muss man der Ehrlichkeit halber und vor allem um dieser Filme willen auch erwähnen – und das ausdrücklich nicht um irgendeiner schematischen Gleichheit oder irgendwelcher Gender-Studien willen. Die sind mir herzlich egal. 

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Dann die ungewohnten Einblicke in Wohnzimmer und Bürogebäude der Preisträger per Internetstream. Gelegentlich ruckelnde Bilder und Kommunikationsausfälle inbegriffen. Das gehört zu jener „Corona-Ästhetik“, an die wir alle uns vielleicht etwas zu schnell gewöhnt haben. 

Aber keine Namen der Preisträger die eingeblendet werden. Keine Bühnen-Show, die auch mit Abstand möglich gewesen wäre. 

Stattdessen Kinderreien. Und der peinliche Giovanni di Lorenzo aus seinem mit „Zeit“-Covern vollgepflasterten „Zeit“-Büro bei einer sogenannten Laudatio für Edgar Reitz, die eher eine Laudatio für Giovanni di Lorenzo war, der zur Strafe von Reitz immerhin mal gesiezt und nicht vollgeduzt wurde. 

Manche Preise für „Systemsprenger“ waren verdient, wie der für die Beste Regie, manche unverdient, wie der für die Beste Weibliche Nebenrolle, den Jella Haase für „Berlin Alexanderplatz“ hätte gewinnen müssen. Aber das Ärgerliche war, dass es die allermeisten Preise gar nicht für die jeweilige Einzelleistung gab, sondern weil eben die Allermeisten in allen Kategorien für diesen Film stimmten. 

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Ein Sieg also des mittleren Realismus. Der die allermeisten deutschen Filme und nicht nur diese dominiert. Der sich die Wirklichkeit so zurechtbiegt, dass sie aussieht, als wäre alles echt und nicht gemacht. Der sie so forciert, dass sie ans Herz geht, aber ja nicht so, dass sie dauerhaft stört, und der nie wirklich irritierend und gefährlich ist. 

Fast ein Wunder ist es, dass in diesem lauwarmen Einerlei des Mittelmaß, zwischen „Deutschstunde“ und „Lindenberg“, zwischen dem „gesprochenen Wort“ und „Systemsprenger“, in dem die biedere Stenge von Christian Petzolds „Undine“ schon das äußerste Extrem an Kunstwillen markiert, und der knallige, aber inkonsequente Boulevard von „Ich war noch niemals in New York“ als das Äußerste an kommerziellem Erfolgsrezept gilt – fast ein Wunder, dass ein wirklich künstlerisch aufregender und wie auch immer den Rahmen des Mittelmaßes sprengender Film wie „Berlin Alexanderplatz“ immerhin vier Preise in den Nebenkategorien gewann und zum zweitbesten Film gekürt wurde. Immerhin!

Wir gratulieren!!

1 Kommentar
  1. AdamRiese sagte:

    Bitte Vorsicht mit Halbwahrheiten: „Wir sind weit davon entfernt, diese Zahl der Betten auch nur annährend mit Corona Patienten voll zu kriegen.“ Das stimmt aber nur, wenn das Wachstum der Infiziertenzahlen nicht wieder exponentiell wird und das wird mit einem zu schnellen Ausstieg nun mal riskiert. Gefällt mir auch nicht, ist aber simple Mathematik – na gut, vielleicht nicht simpel aber trotzdem richtig. Also ist ein „vorest reichen die Intensivbetten“ eben KEINE Panikmache. Ich werde langsam müde, diese Behauptung wir hätten ja alles im Griff weil gar nicht so viele Sterben. Welcher Bergführer würde am Steilhang sagen, „oh wir sind schon zu einem Drittel oben und bis jetzt ist dank der Sicherungsleinen noch keiner abgestürzt. Dann können wir die unbequemen Dinger ja mal wieder ausziehen.“?

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