Gedanken in der Pandemie 14: Abstand und Anstand

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„Coronoia“ – ein Mini-Noir-Filmchen von und mit Robert Sigl. Kamera: Rostislav Stepanek, Musik: Markus Urchs. Auf Youtube. | Screenshot

Lauter gute Nachrichten: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 14. 

 

„Gründonnerstag 29 März 2018. Der Frankfurter Hauptbahnhof wurde von milder Abendsonne geflutet, die wartenden Passagiere an Gleis 9 warfen lange Schatten. Auf die Minute pünktlich um 18 Uhr 30 fuhr Tanja Arnheim mit ICE 375 aus Berlin ein. Als Jerome Daimler, der eine Tüte mit frischen Backwaren in der Hand hielt, Tanja auf Höhe des Bistros aussteigen sah, überlegte er für einen Moment, ob er ihr entgegen laufen sollte, aber dann fand er es charmanter, einfach stehen zu bleiben.“
Leif Randt: „Allegro Pastell“, Anfangssätze

 

Ein Prozent aller Deutschen ist gerade infiziert. Auch wenn morgen Karfreitag ist und es da noch die ganze Zeit ums Opfer geht, bevor danach dann die Wiederauferstehung dran ist, möchten wir uns heute mal auf ein paar gute Nachrichten konzentrieren. 

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Wer kennt Robert Sigl? Vermutlich viel zu wenige von Euch, die jetzt lesen. Denn Sigl ist einer der großen Unbekannten des deutschen Kinos, und das selbstredend zu Unrecht. Jetzt hat der Münchner Regisseur einen schönen witzigen stillen Kurzfilm gemacht. Er heißt „Coronoia“, und steht auf YouTube.

Das ist eine gute Gelegenheit, um nachdrücklich auf Sigl Regiedebüt hinzuweisen. Es heißt „Laurin“ und hätte es damals die verdiente Aufmerksamkeit bekommen – die deutsche Filmgeschichte wäre anders und vermutlich besser verlaufen. 

Aber hätte es Roman Polanski in Deutschland zum Filmregisseur gebracht, oder wäre er Theaterintendant geworden? Und David Lynch? Solche Fragen stellt man sich angesichts der Karriere von Sigl und dessen Debütfilm „Laurin“, der erst mit bald 30-jähriger Verspätung 2018 wiederentdeckt wurde. Dabei waren Sigl und sein Film für einen kurzen Augenblick im Scheinwerferlicht: Im Januar 1989, als es den „Bayerischen Filmpreis“ für den besten Nachwuchsfilm gab. 

Sigl, Jahrgang 1962, war bereits 1987 Absolvent der Münchner HFF und immerhin finanzierte die ARD seinerzeit einen veritablen Horrorthriller wie diesen – eigentlich hätte er durch diesen Film zum neuen Regiestar werden müssen, in einer Zeit, als das deutsche Kino weitgehend darniederlag. Die Geschichten die Sigl dann erlebte, erzählen alles über die provinzielle Borniertheit und Ignoranz der hiesigen Filmszene: Bei den Hofer Filmtagen lehnte Heinz Badewitz den Film mit dem schrägen Argument ab, damit würde Sigl „sich selbst schaden“, der Produzent ließ die Filmnegative komplett vernichten. Was für ein absurder Akt vom deutschen Kinoselbsthass. 

Und noch im Januar 2018 behauptete eine Berliner Zeitung, „Laurin“ sei „die einzige Regiearbeit“ Sigls, obwohl ein Blick in imdb.com genügt hätte: Denn nach dem reservierten Umgang mit „Laurin“ hat Sigl die meisten seiner Filme und Fernsehserien im Ausland gedreht, in Polen, in Kanada und den USA. Oder im Parterre-Segment der deutschen Sender: „Alarm für Cobra 11“, „Aktenzeichen XY“, aber eben auch „Zeig keine Angst“ (1999) und „Das Mädcheninternat: Deine Schreie wird niemand hören“ (2001). Aber keine Frage: Eigentlich müsste Robert Sigl ein Star sein. Er könnte, mit besseren Drehbüchern und anderer Förderpolitik, ein deutscher David Lynch sein, statt der Beweis, dass man hierzulande auch David Lynch vom Film-Hof jagen würde. So aber ist er im Ausland bekannter als hier, wo er nur an B- und C-Ware ’rangelassen wird. 

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Dabei verbindet „Laurin“ Märchenmotive mit subtiler Poesie, und Einflüssen europäischen Horrorkinos von Roeg bis Argento. Im Zentrum seht steht ein junges Mädchen im 19. Jahrhundert, in dessen Dorf ein Serienmörder umgeht. Zugleich wird sie, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, von ahnungsvollen Albträumen gequält – offenbar hat Laurin das „zweite Gesicht“. Also versucht sie selbst, den Mörder zu finden …

All das erinnert beispielsweise an Neil Jordans „Zeit der Wölfe“, auch an Sigls erklärtes Vorbild Polanski. Und eben an David Lynch. Die Atmosphäre ist modern zweideutig und lyrisch – wie in „Twin Peaks“. Ein Kleinod deutschen Filmschaffens. 

“Laurin“ ist auch einfach ein schöner Film. Die DVD/Blu-Ray könnte man sich vielleicht gerade noch zu Ostersamstag bestellen. Sie ist prachtvoll ausgestattet und enthält sehr umfangreiches Bonusmaterial. Eine großartige Leistung des Verleihs „Bildstörung“. Neben einem Audiokommentar des Regisseurs gibt es auch dessen HFF-Kurzfilm „Der Weihnachtsbaum“, eine TV-Dokumentation über Sigl von Eckhardt Schmidt, Interviews mit Darstellern, Kameramann und Filmexperten, entfallene Szenen und anderes mehr. Im Booklet findet man einen Text des Regisseurs zur Entstehung des Films, einen vertiefenden Text des Filmwissenschaftlers Marcus Stiglegger, sowie ein Regisseurs-Interview, das dieser 1996 für „Splatting Image“ führte. 

„Laurin“, Regie: Robert Sigl, Bundesrepublik Deutschland 1989, 84 Minuten (ungekürzte Fassung),  im Kino und zugleich DVD und Blu-Ray bei Bildstörung

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Leider nicht tippen kann ich „Der Überläufer“, die zweite Siegfried-Lenz-Verfilmung in einem halben Jahr, weil offensichtlich Erben und Verlag Kasse machen wollen, solange noch jemand weiß, wer Siegfried Lenz war. Jetzt in der ARD-Mediathek in gleich vier Teilen zu „bestaunen“. Ich wundere mich, dass der Film so gute Kritiken bekommt. Hier wird wieder einmal das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg für eine Mainstream-Unterhaltungsschmonzette ausgeschlachtet, und die Historie zum Vorwand für eine auch politisch schmierige Liebesgeschichte zwischen bravem Wehrmachtssoldat und fescher Polen-Partisanin benutzt – die Bilder könnten von Heinz-Konsalik („Der Arzt von Stalingrad“) sein, wäre der Regisseur gewesen, und nicht Kolportage-Autor. 

Selbst Rainer Bock, der immer gut ist, leidet hier ab und an unter sehr expliziten Drehbuchsätzen. 

Ansonsten will ich es mal so sagen: Florian Gallenberger habe ich noch nie für einen guten Regisseur gehalten, sondern für einen unsäglichen Kitschbolzen und dabei für sehr berechnend. 

Schlechte Kombination. 

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„Robbens Frau positiv getestet“ – jetzt geht es also schon los: Dass die Promis wieder durchgenudelt werden und dass die Klatschseite des Mail-Providers, die vor zwei Monaten noch für eine neuesten Ehen, Trennungen und Affären berichtet hatte, nun von den neuesten Ansteckungen belegt sind. Sehr bald werden Halb-Promis sich absichtlich infizieren, um ihre Corona-Aufmerksamkeits-Dosis zu bekommen. Und dann werden sicherlich auch bald die ersten Tagebücher der genesenen Promis veröffentlicht werden. Nach dem Motto: „Mein Leben zwischen Leben und Tod“, „Vier Wochen im Pandemie-Camp“ oder „Wie ich durch Corona meine große Liebe fand“, und dann erlebt man einen Star, dessen siebte Frau die Krankenschwester ist, die ihn auf der Intensivstation gesundgepflegt hat. 

Erste Sachbuchveröffentlichungen sind dann nicht mehr weit: „Pandemie und Onanie – Singles im Ausnahmezustand. Eine empirische Untersuchung“; „Pandemie und Infamie – was Paare von Corona lernen können“; „Corona und Cortana – ein Medienratgeber für schwierige Zeiten“; „Pandemie, iihh – Hygiene auch ohne Klopapier“ …

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Liebe Leser, vielen herzlichen Dank für eure vielen Zuschriften, die meistens positiv sind, die ich natürlich aber auch dann gern lese, wenn sie kritische Anmerkungen enthalten. Gefreut habe ich mich auch über die Witze, die mir zugeschickt wurden – teilweise waren darunter auch kurze Filme, die ich hier nicht in jedem Fall verlinken kann. Manches kennen wir auch schon, wie etwa der zusammengeschnittene Clip von Ausschnitten von Christian Drosten, in dem er erklärt, dass Corona eigentlich ein Scherz ist – ich kann über sowas auch lachen, wie einige andere, aber nicht alle. So ist das halt – auch das gehört zum derzeitigen Zustand. Lachen und lachen lassen. 

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Über manches kann man natürlich auch so halb lachen, aber das ist ja auch schon was. Beispielsweise folgender Witz, den Nathalie Danilow-Leppin zuschickte: 

Die Erde trifft einen anderen Planeten.
Planet: „Na, wie geht’s so?“
Erde: „Ach, grad nicht so gut.“
Planet: „Wieso, was ist denn los?“
Erde: „Ich habe Menschen.“
Planet: „Du, da hab ich was für dich. Probier mal Corona Forte.“

Oder von Christian Bruhn:
1. Sagt der eine Corona-Geheilte zum anderen
„War halb so schlimm!“
Sagt der andere: „Ich fand’s atemberaubend!“

2. „Witz, komm raus, du bist umzingelt!“
„Geht nicht, ich bin ansteckend.“

3. Geheimer Schauspiel-Workshop „Method Acting“:
Schauspieler: Ich denke, meine Figur fühlt sich wie eine Klorolle.
Sie reißen sich um mich, und ich muss niemanden mehr in den Arsch kriechen.

Es stimmt übrigens, was mir auch jemand geschrieben hat: Es gab überhaupt keine Aprilscherze dieses Jahr. 

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Unser heutiger Buchtipp ist alles andere als ein Geheimtipp. Macht aber nichts. Dies ist das perfekte Buch für einen Tag des Osterwochenendes, falls man sich auf einer Münchner Parkbank zum Lesen niederlassen möchte. Oder halt für das ganze Wochenende, wenn man immer nur abends für ein, zwei Stunden zum Lesen kommt. 

Besser vielleicht, als sich noch eine weitere Serie reinzuziehen, von der man nie auch nur die erste Folge überstehen würde, wenn ich gerade Corona wäre.

Ich weiß ja nicht, wie es den anderen hier geht. Aber das, was mir von Netflix vorgeschlagen wird, was mich interessieren könnte oder müsste nach meinem Sehverhalten, das interessiert mich meistens nicht die Bohne.  Und ich frage mich, ob die Algorithmen wirklich so scheiße sind, oder ob es Absicht ist, dass sie einen auf Dinge hinweisen, die man sich gerade nicht anschauen würde. Wäre ja vielleicht nicht die schlechteste Taktik, denn das was einen eh interessiert, das schaut man halt auch ohne Netflix. 

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Leif Randts Roman „Allegro Pastell“ hat angenehme nur gut 250 Seiten Umfang, und eine gewöhnungsbedürftige mauve-pastellene Farbe. Dies ist der Renner der Saison und das aus guten Gründen. Ein Roman über die Millennials. Ich glaube auch für die Millennials – weil ich selber aber nicht mehr zu dieser aus meiner Sicht auch ziemlich gewöhnungsbedürftigen Gruppe gehöre, würde ich sagen: Das Buch erklärt mir halt ein bisschen, was in diesen Köpfen vorgeht, die zu alt für Fridays for Future sind und zu jung, um die Filme von Roman Polanski zu mögen. Und es erklärt mir auch, was ich mit diesen Leuten gemeinsam habe, die 20 oder 20 plus X Jahre jünger sind als ich. 

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Heute am Hermannplatz in Kreuzberg. Für mich war es eine gute Nachricht zu sehen, dass da genauso viel los war wie sonst. Gefühlt zumindest, außer dass der Karstadt nicht auf hatte. Aber dafür der Markt und natürlich schon einige der vielen kleinen Geschäfte. Und es waren viele Leute auf der Straße, und die sahen nicht so aus, als ob sie alle von der Arbeit kamen oder zu ihr gingen.

Was mir daran gefällt: Dass das Leben weitergeht. Dass es einigermaßen normal weiter geht. Dass sich alles ganz anders angefühlt hat, als in Berlin-Mitte, wo wirklich alle sehr beflissen die Ausgangsregeln bis auf jedes einzelne Komma beachten. 

Muss ich noch dazu sagen: Kaum einer hatte eine Maske auf. Höchstens einer von 25. Und keiner schien ängstlich zu gucken. Auch ganz anders als in Mitte. 

Wir haben es schon geahnt: Es wird so sein, wie Söder ja angekündigt hat: Die Masken-Pflicht wird kommen. Vielleicht bringt sie ja wirklich etwas – vielleicht geht es auch nur um Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. 

Ich weiß schon, dass das einige jetzt hier ärgert, und dass manche, die das lesen, es auch kindisch finden, dass ich das so hinschreibe. Aber zum einen ist es schlicht und einfach ehrlich: Ich empfinde es so und erlebe es genauso. Und da alle anderen sich nicht nur bei Corona auch das Recht nehmen, ihr Empfinden öffentlich zu machen … 

Zum anderen möchte ich damit aber auch sagen: Habt euch nicht so! Ich will, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich „nicht so hat.“ Die die Dinge gelassener sieht, die sich nicht aufregt über jeden der irgendeinen Teil der Ausgangsregeln nicht beachtet. In einer Gesellschaft, die den anderen so wie er ist, akzeptieren kann, und die bei aller persönlichen Besorgnis, die ich niemanden nehmen möchte, vielleicht doch die Maßstäbe nicht verliert, und ab und zu mal überlegt, wie es mit den Zahlen aussieht. Die Zahlen, das ist nämlich die andere Seite der gute Nachrichten. 

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Es ist nicht schön, wenn Menschen sterben. Aber sie sterben. Auch ohne Corona. Im Schnitt in Deutschland 2616 täglich, davon täglich 140 an atemwegsbedingten Krankheiten. Ohne Corona. Zur Zeit sind über 99 Prozent aller Deutschen nicht mit dem Virus infiziert. Das ist eine schlechte Nachricht, denn wir alle müssen uns infizieren. Aber eine gute, wenn es um unsere Chancen geht, beim Einkaufen krank zu werden.

Die Chance, dass Menschen unter 70 an Grippe sterben, ist höher, als dass sie an Corona sterben. Auch 87 Prozent aller Menschen über 80 Jahre überleben eine Infektion – und da sind die Zahlen aus China, Italien, Spanien eingerechnet, das heißt in Deutschland sind die Chancen noch viel besser. Auch für die über 80-jährigen. Und Medizinstatistiker rechnen vor, dass jetzt Menschen „an Corona“ sterben, die eh gestorben wären, zum Beispiel an Alter, Herzschwäche, Demenz, etc. 

Mit Zynismus hat das nichts zu tun. Ich finde es eher zynisch, nicht über den Tellerrand zu schauen – also weder die nicht-westlichen Länder zu sehen, noch anzuerkennen, dass es auch noch andere Probleme gibt, also Corona. 

Alle Zahlen vom Statistischen Bundesamt, keine Fakenews.

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Abstandsregeln, Anstandsregeln, Ausgangsregeln, wie heißt es jetzt eigentlich nochmal genau?

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Was wir an Ostern dürfen und was nicht – Gott sei Dank erzählt mir das der Newsletter von GMX. Sonst wüsste ich ja wirklich nicht, was ich an Ostern darf und was nicht. Darf ich Ostereier bemalen oder ist das gefährlich, weil ich dann melancholisch werde, weil ich sie nicht draußen im Park verstecken darf? Und darf man eigentlich wenn man Ostereier sucht, auf Abstand, genau dies tun? Oder ist zwar lesen und Musik hören auf der Bank erlaubt aber nicht Ostereiersuchen im Park?

Eine Bekannte erzählte von den Münchner Verhältnissen, wo Menschen im Park mit Polizeihubschraubern aufgescheucht werden, Eltern mit behinderten Kindern, natürlich auch andere sehr robust und gnadenlos in wenigen Minuten vom Isarstrand vertrieben werden. Warum nur? Abgesehen, dass die Polizei von diesen Bürgern bezahlt wird. Aber sie behandeln einen wie die Herrscher die Untertanen. Da hat Super-Söder noch viel zu tun. 

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Im Interview mit der „Welt“ wird Uwe Timm zu seinem 80. Geburtstag interviewt und gefragt: „Sie haben an vielen Orten gelebt und gearbeitet, etwa in Rom, Argentinien, Paris, Hamburg, München, Berlin. Gibt es so etwas wie Heimat für Sie?“

Antwort: „Vertraut sind mir Berlin und Rom, aber zu Hause fühle ich mich im unaufgeregten München.“

Und auch die nächste Antwort des 80-jährigen ist wichtig in Zeiten der Risikogruppen, des Sterbens und zum Fest der Wiederauferstehung: „Wie gehen Sie mit dem unausweichlichen Gedanken an das Älterwerden, ja an den Tod um?“ – „Gelassen.“

Frohe Ostern! 

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