Cinema Moralia – Folge 144: »Mangel an Urteilskraft… Ignoranz… Zynismus in Reinkultur«
Die unerledigten Aufgaben der Filmministerin Monika Grütters und ihres heimlichen Vorgesetzten Günter Winands, der Ritterschlag für einen Kommunisten und ein Nachruf in Filmen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 144. Folge
»Ich glaube schon, dass Kino ein stärkeres Medium als Literatur ist. Ich weiß nicht, ob die Jugend in der Literatur die Leitfiguren findet, die sie braucht. Eddie Constantine zum Beispiel hatte eine solche Komik und Gelassenheit, dass man von ihm, wenn man ihn öfter gesehen hat, Gelassenheit lernen konnte. Gelassenheit ist sehr wichtig.«
Ilse Aichinger
Ilse Aichinger ist gestorben, was mich aus vielen Gründen traurig gemacht hat. Einer davon ist, dass sie so großartig über Kino geschrieben hat, wie kaum jemand sonst in deutscher Sprache. Für sie war Kino nicht irgendwas, nicht Beiwerk, sondern das Essentielle. Eine Elementarerfahrung, ein Teil des Lebens und darum dem Tod verbunden. Auch dass sie fast zeitgleich starb, wie Leonard Cohen hat mich berührt, aber das ist eine Geschichte, über die muss ich später mal ausführlicher schreiben.
Aichinger starb zehn Tage nach ihrem 95. Geburtstag. Wer etwas von ihrer Beziehung zum Kino erfahren möchte, sollte »Film und Verhängnis« lesen, eine Art Autobiographie mit dem Kino. Film als Hoffnungszeichen wird dort beschrieben, wunderbare Sätze skizzieren die Kinolandschaft des Vorkriegs-Wien zwischen »Sascha-Palast«, »Schwarzenbergkino« und »Fasan«-Kino, mitten im Krieg, angesichts der Verfolgung, war Kino mehr als Eskapismus oder billiger Trost. »Die Erlösung war das Kino«.
Weil Aichinger bis ins höchste Alter gern ins Kino ging, wollte ihr das Filmmuseum Austria eigentlich zum 95. ein Geburtstagsgeschenk machen, das nun – könnte es passender sein! – zum Nachruf in Filmen geworden ist.
»Nachmittagskino« heißt die Reihe, die Filme von 1929 bis 1995 versammelt, deren Auswahl alles sagt, und zum Beispiel neben Liebelei und Before Sunrise auch den Western High Noon mit dem Weimarer Avant-Nouvelle-Vague-Film Menschen am Sonntag zum Double-Feature verknüpft. Warum wohl? Nicht wegen Godard, der beide Filme schätzte sondern wegen Fred Zinneman, der 1929 Regieassistent war und bei den Menschen am Sonntag Regie führte. Do not forsake me, oh my darling…
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Flüchtlinge, Gejagte, Außenseiter – die stehen auch im Zentrum von »Haunted«, einem Film der Syrerin Liwaa Yazji, der am Freitag und am Montag im Berliner Kino Moviemento aufgeführt wird.
Die Regisseurin schreibt dazu: »Als die Bomben kamen, war das erste was wir taten, wegzulaufen. Später erinnerten wir uns daran, nicht zurück geschaut zu haben. Wir haben uns nicht verabschieden können, von unserem Heim, unseren Erinnerungen, unseren Fotos und dem Leben, das in ihnen wohnte. Unbehaust wie diese Räume sind wir geworden, mit unseren hastig gepackten Sachen, und den vergessenen Dingen, die uns nun heimsuchen*c Der Flucht und Vertreibung aus Syrien folgt das ungewisse Dasein in einem physischen und mentalen Nirgendwo, einem Nicht-Raum zwischen gestern und morgen.«
Haunted erzählt vom Verlust von Heimat und Sicherheit, von der realen und metaphorischen Bedeutung, die ein Haus, ein Heim im Leben eines Menschen hat.
Hier ist der Trailer zum Film. Auf die Vorführung folgt ein Gespräch mit der Regisseurin – am 25. November um 17 Uhr und am 28. November um 19 Uhr.
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Es erreichte uns heute einmal mehr eine Pressemitteilung der hochgeschätzten Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters. Dem Wesen dieser Jubel-PR-Mitteilung entsprechend ist sie übertitelt mit »Anerkennung für den Wert der Kultur – Haushalt steht für die Verantwortung des Bundes«. Und darin liest man von der löblichen Steigerung des Gesamtetats für Kultur und Medien im Jahr 2017 auf rund 1,63 Milliarden Euro, also um rund 17 Prozent. Man liest wie die wackere Frau Grütters seit ihrem Amtsantritt 2013 den Etat um über 350 Millionen Euro, also 27,5 Prozent erhöht hat. Man liest Sätze von Frau Grütters über »das Bekenntnis zu freien, unabhängigen Medien«, die »zu den Fundamenten unseres Selbstverständnisses« gehörten, über die Etaterhöhung als »Ausdruck dieser Anerkennung für die meinungsbildenden Milieus als tragende Säulen unserer Demokratie.« Über »das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für den Wert der Kultur als Modus unseres Zusammenlebens«. Man erfährt: »Für eine gute Zukunft brauchen wir nicht nur die nüchterne Rationalität der Politik, sondern auch die orientierende, den Diskurs strukturierende Kraft der Medien und die schöpferische Kraft der Kultur und Künste.«
Dann listet Grütters zum x-ten Mal ihre Lieblingsthemen auf: »Neubau eines Museums für die Kunst des 20. Jahrhunderts«, »Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste«, »Provenienzrecherche und -forschung«, »NS-Raubkunst«, »Bauhausjubiläum«, »Denkmalschutz«, »Humboldt Forum«, »Barenboim-Said-Akademie«, »Deutsche Buchhandlungspreis«, »Theaterpreis«, usw, usf, man liest und liest. Die Millionen purzeln, hier über 70, da mehr als 76 Millionen Euro und sehr vieles davon findet übrigens in Berlin statt. Nur von einem liest man fast nichts, von der eigentlichen Hauptzuständigkeit der Staatsministerin, dem Kinofilm. Sie ist nämlich nicht Ministerin für Denkmalschutz und Literatur, sondern für den Film.
Die Filmförderung aber wird im Text nur ganz am Rande erwähnt, was Grütters Prioritäten recht gut kennzeichnet.
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»Das gesamte neue Filmförderungsgesetz … ist kein großer Wurf, sondern im Grunde ein Flop.« – so kritisiert auch einer der geschicktesten und mutigsten deutschen Verleiher, Torsten Frehse, der Gründer und Geschäftsführer des Berliner Filmverleihs »Neue Visionen«. »Sehr schwach und letzten Endes nicht konsequent zu Ende gedacht«, nennt Frehse im Interview mit Blickpunkt Film die neuen Filmförderregelungen, die von Grütters persönlich und fast noch mehr von ihrem überaus einflussreichen, von der fachlichen Schwäche der Ministerin profitierenden Amtschef Günter Winandts verantwortet werden.
Frehse benennt viele wunde Punkte: »Manche Filme werden doch nur deshalb noch halbherzig in die Kinos bugsiert, weil das aufgrund von Förderregularien so sein muss. Ganz egal, wie klar allen Beteiligten ist, dass diese Werke bestenfalls die Leinwände verstopfen. Das ist doch völlig gaga! Nicht umsonst tritt die AG Verleih klar dafür ein, derartige gesetzliche Startverpflichtungen abzuschaffen.«
In seinem saftig zu lesenden, mutigen Rundumschlag kritisiert Frehse neben der Filmflut auch Verleiher, die zu viel Ware in den Markt drücken und Kinos, die in ihrem Programm mehr auf Quantität denn Qualität setzen. »Ich denke, es würde nicht schaden, sich als Kinomacher ein wenig genauer anzusehen, wer hinter einem Film steht, wer ihn herausbringt und was er dafür tut. Das könnte schon so manche Fehlentscheidung vermeiden helfen.«
Die Schlüsselrolle spiele aber doch die Förderung. Am meiste kranke das neue FF-Gesetz daran, »dass am Status Quo nicht gerüttelt wird, dass es nicht gelungen ist, den einzelnen Beteiligten mehr Verantwortung abzuverlangen. Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass das FFG erneut mit derartigen Schwächen verlängert wird. Es gab zahlreiche kluge Vorschläge – und dass sich davon kaum etwas im Gesetz findet, ist schon beinahe peinlich.«
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Passend zum 20. Firmenjubiläum erhält Frehse jetzt ausgerechnet den »Ordre des Arts et des Lettres« der Französischen Republik für sein Engagement für die französische Filmkultur in Deutschland, und wird damit zum Ritter der Kunst und Literatur ernannt – »ausgerechnet«, weil Frehse diese Gattung vor ein paar Jahren womöglich noch als »Junker« verspottet hätte. Denn der Verleiher war mal (oder ist noch?) bekennender Kommunist, hat lesenswerte (leider vergriffene) Texte über das Arbeiterkino der Weimarer Republik geschrieben, und gehört auch zu den wenigen, die offen zu einer linken politischen Position stehen: »Obwohl wir uns politisch ganz klar links positionieren, wollen wir nicht rein dogmatisch vorgehen. Natürlich ist unser Programm auch von ausdrücklich politischen und sozialkritischen Filmen geprägt. Aber das Leben hat doch so viele Facetten…«
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Auf der nicht mehr ganz taufrischen Website von »Neue Visionen« stehen viele Filme, auf die der Verleih stolz sein kann, manche, die heute applaudieren, haben diese Anfänge vergessen: »großartige Filmkunst … Filme von Ken Loach und Jean-Luc Godard, … Filme auf der Höhe der Zeit … sowie ein starkes Repertoire mit über 100 Filmklassikern von Casablanca bis Tanz der Vampire, oder die Wiederaufführung des surrealistischen Films Black Moon von Louis Malle.
»Keine teuren Empfänge, keine Börsenkurse oder Output Deals, dafür Kontinuität und gute Filme. Unsere Motivation, diese Filme erfolgreich in die Kinos zu bringen, ist zudem die Grundlage unserer Ökonomie.«
»Wir finden es über unsere eigentliche Verleiharbeit hinaus wichtig, uns filmpolitisch einzumischen. So sind wir zum Beispiel nicht nur Mitglied der AG Verleih unabhängiger Filmverleihe und des Verbandes der Filmverleiher, wir bestehen zudem darauf, in den Verbänden und bei anderen Möglichkeiten, wie Pressegesprächen oder Podiumsdiskussionen, unsere Positionen zu vertreten.«
Zu denen gehört: »Immer noch gehen Millionen Kinobesucher in die peinlichsten Mainstream-Filme, und wir sind bereits stolz, dass wir mit einigen unserer Filme etwas mehr wahrgenommen wurden als noch einige Jahre zuvor.«
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Schade nur, dass Torsten Frehse es in letzter Zeit nicht lassen kann, sich über die Filmkritik zu mokieren. Dass Kritiker seinen großen Kassenerfolg Monsieur Claude und seine Töchter nicht so mochten, ist für ihn »ein Ausdruck von Engstirnigkeit.« Und dann weiter »Ich glaube, dass etliche Kritiker gar nicht verstehen, wie viel Arbeit und Kunstfertigkeit hinter einer guten Komödie stecken. Das sollte man ruhig auch einmal anerkennen.« Das ist zu billig! Klar: Es gibt viele Kritiker, die von gar nichts irgendwas verstehen – aber unter diesen Trotteln gibt es auch viele, die Monsieur Claude und seine Töchter lobten. Ich könnte jetzt Namen nennen, aber die kennt Monsieur le Chevalier selber. Filmkritik spiegelt einfach den Stand der Filmkultur, also ist sie in Deutschland im Durchschnitt so schlecht oder verbesserungsfähig, wie die Filme, die Filmpolitik, die Arbeit vieler Verleiher und vieler Kinobetreiber.
Nein, auch Verleiher Frehse könnte »ruhig auch einmal anerkennen« wie viel Arbeit und Kunstfertigkeit hinter der Filmkritik steht. Gott spielen tun heute in der Filmbranche nur noch wenige Produzenten und Verleiher. Und anderen gefühltes Aufmerksamkeitsdefizit vorzuhalten steht gerade dem nicht unbedingt an, der wöchentlich auf Podien sitzt, und sogar bei so einem Ballerballermagazin wie »Blickpunkt Film« Gastkolumnen schreibt. Nichts für ungut!
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Trotzdem lese ich auch immer wieder mal »Blickpunkt Film«, und zwar eigentlich nur wegen der Gastautoren. So gab es nicht nur das schöne Frehse-Interview, sondern vor zwei Wochen auch einen exzellenten Text von Eberhard Junkersdorf, einem der erfahrensten Produzenten unseres Landes. Aus Anlass ihres 50. Jubiläums, dass die Murnau-Stiftung kommende Woche feiert, hält er der Kulturstaatsministerin weitere ihrer unerledigten Aufgaben vor. Wir zitieren:
»Die Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten einen ganz entscheidenden Beitrag zum Erhalt und zur Veröffentlichung des deutschen Filmerbes geleistet. Durch ihre Arbeit sind uns Meisterwerke deutscher Filmkunst erhalten geblieben. Es sind Raritäten und Zeitdokumente von unschätzbarem kulturellem Wert, die noch viele Jahrzehnte von zukünftigen Generationen gesehen und erlebt werden können.«
Bei so einer Erfolgsstory müsse man eigentlich annehmen, dass der Tag ihres 50-jährigen Bestehens festlich begangen wird. »Das ist aber ganz und gar nicht so.«
Die deutsche Bundesregierung kaufte einst etwa 6000 deutsche Filme (Stummfilme, Tonfilme in Schwarzweiß und Farbe, Kurzfilme, Animations- und Werbefilme) um sie vor US-amerikanischen Interessenten zu retten, für den Spottpreis von 11,4 Mio. Mark!!! Das Geld wurde der frischgegründeten Murnau-Stiftung »großzügig von der Bundesregierung als Darlehen zur Verfügung gestellt«, das aus Einnahmen von Lizenzvergaben zurückgezahlt werden sollte – allerdings hochverzinst
war. Die Folge: Die Stiftung zahlte nichts zurück, sondern häufte Schulden auf. Das Darlehen konnte dadurch erst 1996 nach 30 Jahren abgezahlt werden.
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Es macht großen Spaß zu lesen, mit welchem Biss Junkersdorf den Skandal des Umgangs der Bundesregierung mit der Murnau-Stiftung auf den Punkt bringt: Der Staat überträgt seine nationale Aufgabe an eine Stiftung, versieht diese Aufgabe mit unakzeptablen Konditionen und zieht sich dann aus der Verantwortung heraus, nämlich der Rettung des deutschen Filmerbes. Er gründet auch noch eine GmbH, die Transit-Film (Warum muss der Staat eine GmbH besitzen?), die sich um die Verkäufe der
Filme kümmern soll. Dafür darf sie ein Drittel des Verkaufspreises behalten, muss sich aber nie an den Kosten der Instandsetzung der Filme beteiligen.
Die für die Kultur verantwortlichen Politiker betonen zwar immer, dass Deutschland ein Kulturstaat ist, und das Filmerbe ein unverzichtbarer Bestandteil des nationalen Kulturguts, wie Meisterwerke der Literatur, der Musik und der Malerei. Doch die Realität sieht leider ganz anders aus.
Auch Junkersdorf drischt zu Recht auf den heimlichen Kulturstaatsminister Günter Winands ein: »zunächst einmal kein Freund von aktuellen Filmen«, der blauäugig und uniformiert Unsinn in die Welt setzt, wofür er von niemandem gemaßregelt wird. Junkersdorf: »Mangel an Urteilskraft… Ignoranz… Zynismus in Reinkultur«.
Neidisch erwähnt Junkersdorf Frankreich, das pro Jahr fast 70 Mio. Euro für den Erhalt seines Filmerbes zur Verfügung stellt, und folgert: »Deutschland ist ein reiches Land und ’schafft‘ es nicht, zehn Mio. Euro pro Jahr für sein Filmerbe zur Verfügung zu stellen und nimmt dafür in Kauf, dass immer mehr Filme irreparabel verloren gehen?«
Der Murnau-Stiftung drohe die Insolvenz. Eberhard Junkersdorf sieht offenbar keinen Ausweg, als zu flehen: »Der deutsche Film verkörpert einen Teil unserer Identität, bildet Ausschnitte unseres Lebens ab und ist gleichzeitig Spiegel und Schaufenster von deutscher Realität. Ich appelliere an unsere Kulturstaatsministerin Monika Grütters: Machen Sie die Rettung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und des deutschen Filmerbes zur Chefsache! Verhindern Sie den Verfall von einem Teil
Deutscher Kultur! Deutschland ist ein Kulturstaat, und die Rettung des nationalen Filmerbes ist vorrangig eine staatliche Aufgabe.«
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.