Voll integriert: 50 Jahre „Sesamstraße“
Vor 50 Jahren lief im deutschen Fernsehen erstmals die „Sesamstraße“. Nicht nur bei der ARD gibt das Grund zum Feiern. Vom wilden Geist des Originals ist allerdings kaum mehr etwas zu spüren.
Wir dürfen das neue Jahr mit einer guten Nachricht beginnen: Vor 50 Jahren lief im deutschen Fernsehen erstmals die „Sesamstraße“. Was laut Statistik heißt, dass mehr als zwei Drittel der Menschen im Land mit den bunten Plüschmonstern groß geworden sind. Entsprechend wird das Jubiläum nicht nur im Fernsehen begeistert gefeiert. Beim Kinderkanal mit einer Jubiläumsausgabe, bei den „Tagesthemen“ waren Ernie, Bert und Grobi zu Gast, in einer Sondersendung durfte das Krümelmonster sogar einen Kommentar sprechen.
„Die große Kunst der ,Sesamstraße’ ist es, sich und ihren Grundwerten auch nach 2.931 Folgen treu geblieben zu sein – und trotzdem stets mit der Zeit zu gehen“, erklärt bei „DWDL“ den Erfolg. „Der stetige Wandel der ,Sesamstraße’ ist ein ganz hervorragender Beleg dafür, dass Fernsehen immer auch Produkt seiner jeweiligen Zeit sein muss – und eben keine Nostalgie-Maschine, mit der es sich in die Vergangenheit zurückflüchten lässt.“
Schöner hätte es die ARD selbst nicht sagen können. Jedoch: „Bei so viel Enthusiasmus gerät schnell in Vergessenheit, dass in der frühen Geschichte der ,Sesamstraße’ nicht alles reibungslos verlief“, schreibt Elisa Schüler in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. „War die Kindersendung vom 8. Januar 1973 an zunächst in der synchronisierten amerikanischen Originalfassung zu sehen, bot insbesondere die Darstellung der rauen Straße in New York Anlass zur Diskussion.“
Das Konzept war 1973 völlig neu: ein spezielles Fernsehangebot für Drei- bis Sechsjährige. In den USA war die „Sesamstraße“ bereits seit vier Jahren auf Sendung. Die ursprüngliche Idee von Joan Ganz Cooney vom „Children’s Television Workshop“ zielte darauf ab, sozial benachteiligten Kindern einen besseren Schulstart zu ermöglichen. In einer Hinterhofkulisse erklärten Menschen und Monsterpuppen einander die Welt.
In Deutschland allerdings erstmal nur im Norden – der südlichen Rundfunkanstalten schalteten ab. Noch im Herbst klinkten sich zwar Saarländischer, Süddeutscher und Südwestrundfunk wieder ein, doch die Bayern blieben stur und produzierten mit „Das feuerrote Spielmobil“ eine eigene Sendung: „Die Szenen aus dem Slum-Millieu seien für deutsche Kinder zu amerikanisch, begründete der damalige BR-Direktor Helmut Oeller. In Deutschland gebe es keine unterprivilegierten Schichten.“
„Kulturelle Überfremdung“ deutscher Kinder fürchtete der Bayerische Rundfunk durch die Multikultidarstellung mit dunkelhäutigen Schauspielern, berichtet N-TV. „Die Worte aus Bayern gegen die ,Sesamstraße’ fielen drastisch aus, über ,pädagogische Infamie’ etwa wegen einer Verherrlichung des Lebens in der Mülltonne durch die Puppe Oscar. […] Das oft anarchische Puppenspiel, das Erarbeiten von Buchstaben und Zahlen über permanente Wiederholung […] und dazu die Einspielfilme mit realen Schauspielern waren eine Mischung, die zunächst niemand so richtig einordnen konnte.“
Beim NDR schildert Jochen Lambernd ausführlich, wie der BR schon zwei Jahre zuvor den Ankauf der Sendung blockiert hatte. Und wie die Sendung schließlich doch bis zur Unkenntlichkeit weichgespült wurde, denn Einwände kamen auch von links: „Kritiker sind vor allem Eltern, Politiker und Pädagogen. Der NDR reagiert: In der Folge verliert die Sesamstraße in Deutschland ihre titelgebende Straße. Die US-Großstadtszenen und die Sendungselemente mit Protagonisten wie Bob oder dem Ladenbesitzer Herrn Huber (Mr. Hooper) fallen weg. […] Oscar und Bibo müssen weichen und kommen in Deutschland seitdem gar nicht mehr vor. Die Folge: Die Kinder rebellieren. […] Das ist jedoch ein Problem, denn inzwischen gibt es in den USA zum Teil andere Darsteller. Ohne die US-Rahmenhandlungen bekommt die Sendung in Deutschland eine Art Magazincharaker und zeigt unter anderem Filme mit dem nachdenklich-vorlauten Kind Bumfidel, Liedern und Nachrichten. Anders als in den USA wird das soziale Gefälle in der Gesellschaft in Deutschland damals als nicht so groß betrachtet. Deshalb wird das sogenannte kompensatorische Erziehungskonzept, das unter anderem Kinder aus bildungsfernen Schichten fördern soll, für die deutsche Version der ,Sesamstraße’ nicht weiter angewandt.“
„Letzten Endes führte die pädagogische Bedenkenträgerei dazu, dass die ,Sesamstraße’ mit Beginn des Jahres 1976 ihre titelgebende Straße verlor – und Millionen junger Erstseher ihre liebgewonnenen Freunde“, schrieb der „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor zehn Jahren zum 40. Jubiläum. „Für uns Kübelkinder war die ,Sesamstraße’ damit gestorben. Den Aufschrei ihres Zielpublikums bekamen auch die deutschen Macher zu spüren, bis Ende der 80er-Jahre sendeten sie als Friedensangebot noch alte Originalfolgen in den Dritten Programmen. Und sie gingen noch einmal in Klausur und starteten 1978 in neuer, aufgeräumter Hinterhofkulisse und mit neuen Muppets. Jim Henson hatte sogar eigens einen Mitarbeiter nach Deutschland entsandt, um Puppen für die überarbeitete Rahmenhandlung zu gestalten. Puppen, die uns einheimischen Kindern vertraut erscheinen sollten. Heraus kamen der dicke Gemütsbär Samson, die altkluge Schrulle Tiffy und der dümmlich-arrogante Herr von Bödefeld. Damit war die „Sesamstraße“, dieser schillernde Fremdkörper aus einer Zeit, als es hierzulande kaum nennenswertes Kinderfernsehen gab, erfolgreich eingemeindet worden. Schade.“