Die Bändchen-Berlinale

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Ein junges Paar erwartet sein erstes Kind. „Klondike“ könnte ein Familienfilm sein. Doch draußen vor der Tür tobt schon der Krieg: es ist 2014 im Osten der Ukraine. Maryna Er Gorbach inszenierte nach eigenem Drehbuch, in Sundance wurde sie im Januar für die beste Regie ausgezeichnet. | Foto © Kedr Film

Die 72. Berlinale war ein Jahr mit starken Dokumentarfilmen und einem Blick auf mehrere Brennpunkte. Der Blick führte bis in die Ukraine und bis nach Myanmar. Unter anderem.

Ein Film ist ein Erlebnis. Ein Film ist ein Erlebnis, das wenn man es teilt, mehr wird. Das gilt sicherlich auch für das Theater, für Konzerte und für Ausstellungen. Was man an diesem Teilen hat, das wird erst klar, wenn man ein Ereignis nicht mehr teilen kann. Filme werden fürs Kino gemacht. Kino ist per Definition schon ein gemeinschaftliches Erlebnis. Nicht nur, weil wir etwas gemeinsam erleben, sondern weil wir uns im Anschluss über den Film austauschen können. Oft gerät man in hitzige Debatten (wir berichteten). Man schleift an den eigenen Eindrücken und arbeitet sie dabei noch deutlicher heraus. In der Reaktion der anderen erkennt und versteht man seine eigene besser. Genau das konnte die 71. Berlinale nicht liefern.

Besonders ein Film hatte es mir positiv angetan: „Petite maman – Als wir Kinder waren“ von Céline Sciamma, der letztes Jahr im Wettbewerb gezeigt wurde. Es ist ein Film über die Verbindung von Tochter und Mutter, die einander unabhängig vom Alter erkennen. Fortan habe ich diesen Film mit mir mitgetragen, er sprach mich nicht nur an, er gab mir etwas mit. Der Film startet übrigens genau diese Woche in unseren Kinos, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, den Film bei einer Pressevorführung zum Filmstart noch einmal zu sehen, in einem Kino, auf einer Leinwand.

Aus dem langen Lockdown nahm ich eine Erkenntnis mit: ich möchte Filme auf der Leinwand sehen. Trotzdem hatte ich Befürchtungen, dass die 72. Berlinale bestenfalls Stress sein würde, gegebenenfalls würde sie zu einem Superspreader-Event. Bedenken kamen auf, es gab Pro und Contra. Wir berichteten. Ich war mir meiner Privilegien bewußt (keine Kinder, kaum Sorge-Arbeit) und war trotzdem nicht sorgenfrei. Tägliche Tests sind schön und gut, aber keine Garantie, dass ich mich nicht anstecke und eventuell andere anstecke. Die Berlinale-Leitung hielt an ihrem Konzept, ein Festival in Präsenz auszurichten fest. Punkt. Die Berlinale wurde weder Streß noch ein Ansteckungsort. Als für uns hier in Berlin, die wir das Privileg geniessen, viele (nicht alle) Filme der Nebensektionen bereits vorab in Pressevorführungen zu sichten, um dann dem Publikum zum Beginn Empfehlungen aussprechen zu können, die Einladung zu eben jenen Vorführungen kam, war das wie ein Testlauf. Ein erfolgreicher Testlauf. Aber würde es auf der Berlinale selbst genauso gut ablaufen, wenn dann Tausende Tickets ausgegeben werden? 

Die 72. Berlinale war kein Hybrid-Festival. Das öffentliche Publikum konnte nicht auf Streaming-Angebote ausweichen. Aber es war keine vollwertige Berlinale. Leider. Die Befürchtung in Pulks vor einem Kinosaal zu stehen verflüchtigte sich schnell. Die Berlinale war effizient. Es gab mehrere Teststellen vor Ort am Potsdamer Platz, dem Hauptsitz von Berlinale Palast und dem hauptsächlich für Pressevorführungen bereit gestellten Cinemaxx. Es gab Testbusse und es gab zig sogenannte Pre-Check-Zelte, wo man im Austausch für Tagestests ein Tagesbändchen bekam, damit man seinen Impf- und oder Genesenen-Status nicht überall erneut vorweisen musste. Kein einziges Mal musste ich länger für so ein Bändchen anstehen, als vielleicht fünf Minuten. Auch an den Teststellen musste ich nie länger als vielleicht 15 Minuten warten. Sicherlich, das war schon ein täglicher Kick: bin ich immer noch negativ, könnte ich mich angesteckt haben? Besonders wenn man auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen ist, spielt man auf Risiko.

Ein Einwurf: Es waren definitiv weniger Kollegen und Kolleginnen vor Ort. Zum einen waren weniger Teilnehmende angereist. Bekannte Gesichter fehlten, selbst auf dem Weg von einem Kino ins andere traf man kaum diejenigen, die man sonst immer traf. Selbst einige Berliner Kollegen und Kolleginnen ließen diese Berlinale ausfallen. Und was ist mit all denen zum Beispiel aus den östlichen Ländern, die zwar die Grundvoraussetzung eigentlich mitbrächten, sie sind geimpft, aber nicht mit dem „guten Zeug“, was hier Vorgabe war.

Testen und Bändchenvergabe funktionierten reibungslos. Wo es hakte? Wenn Kolleg*innen dann, sobald es dunkel im Saal wurde, die Maske runter zogen. Man kann Menschen nun einmal nicht erziehen. Vergisst es. Es steht in meiner Kontrolle, ob ich das Verhalten der anderen hinnehme oder ausweiche. Aber größtenteils kam man gar nicht in die Nähe von anderen. Jeder Film wurde in mehreren Sälen gleichzeitig vorgeführt. Und dann hatte ich schon mal den halben Saal für mich alleine. Das wiederum lag am Ticketsystem und da muss man auch drüber sprechen. Auch die Presse brauchte zwingend Tickets, personalisierte Tickets, ein Tausch der Plätze war untersagt. Die Kontaktnachverfolgung sollte im Fall eines Falles damit erleichtert werden. Doch man konnte sich die Plätze nicht aussuchen, wenn man ein Ticket buchte. Da wurden die Plätze streng von oben rechts nach unten links vergeben. Da wußte das Ticketsystem mitunter noch nicht einmal, wenn ein Sitzplatz wegen einem Wandvorbau nicht vergeben werden sollte. Das Ticketsystem war der gemeinsame Aufreger diese Berlinale und ich hoffe inständig, dass sich die Festivalleitung die Kritik anhört und es nächstes Jahr besser macht.

Zum einen: nicht jeder besitzt ein Smartphone. Das ist einfach so. Damit fällt die Möglichkeit weg, kurzfristig noch eine weitere Vorführung zu besuchen. Gleichzeitig wurde eine Drohung ausgesprochen, dass wenn man Tickets nicht wahrnimmt und nicht rechtzeitig zurückgibt (auch das natürlich auf dem Online-Weg), man im Wiederholungsfall gesperrt wird. Bei öffentlichen Vorführungen bekam man eh nur die Tickets, die das Berliner Publikum, die mit einem zusätzlichen Tag Vorlauf buchen konnten, übrig gelassen hatten. Spontan sein, das ging eher nicht. Und dann hat natürlich jeder Mensch so seinen Lieblingsplatz im Kino. Es gibt Leute, die lieber vorne sitzen, es gibt Leute, die lieber hinten sitzen. Es gibt Leute, die gerne am Gang sitzen und so weiter. Es war abzusehen, dass mit der automatischen Platzzuweisung jeder irgendwie unzufrieden sein würde.

Für mich hatte dieser Umstand eine Überraschung bereit: Ich machte Bekanntschaft mit dem Inklusionsbüro. Auch so etwas besitzt die Berlinale. Zum Glück. Ich sags mal so, ich sitze immer ganz vorne im Saal und das aus Gründen. Gründen, für die ich bisher keinen Lappen brauchte. Alles in den vorderen Reihen wäre für mich okay, aber wenn das Ticketsystem mich eventuell nach hinten setzt (und das hätte es ja getan), dann hätte ich halt eine sehr verschwommene Berlinale erlebt. Nach meiner Anfrage bei der Inklusionsstelle durfte ich meine Vorführungswünsche vorbringen und nach Verfügbarkeit sicherten die Kollegen und Kolleginnen mir meine Tickets. Sie hielten sogar Rücksprache, ob denn auch alles gut läuft. Ich fühlte mich rundum gesehen und betreut. Dafür muss ich einfach mal ein Danke aussprechen. 

Der Gewinner, der „Goldene Bär“ des Wettbewerbs führte uns in die Erntezeit auf einer Pfirsichplantage in Katalonien. „Alcarràs“ von Carla Simón, it ein persönlicher Film, so wie ihr Vorgängerfilm „Friedas Sommer“ es schon war. In ihrem Erstlingswerk erzählte sie von einem Kind, dass nach dem Tod ihrer Mutter zu den Großeltern kommt. „Alcarràs“, benannt nach dem Handlungsort, erzählt von einer Großfamilie, die nach dem Tod des Großgrundbesitzers ihre Plantage verliert. Was einst mit Handschlag gesichert war, gilt in unserer Zeit, in dem nur schriftliche Verträge zählen, nicht mehr. Der Vater, der die Plantage von seinem Vater übernommen hat, ist ein Sturkopf. Statt Pfirsichbäume Solarpanele, nicht mit ihm. Carla Simón geht auf die Notwendigkeit des technischen Fortschritts nicht ein. Solarpanele sind ja in unserer Energie- und Klimakrise sicherlich nicht falsch. Aber genau diesen Zwiespalt muss die Familie aushalten. Simón, deren Großvater eine ebensolche Plantage geführt hatte, kann also aus ihrer Biographie schöpfen. Sie suchte ich Laiendarsteller aus der Gegend und sie schrieb ein vielschichtiges Ensembledrama. Jede Figur, jede Generation, hat ihre eigenen Probleme. „Alcarràs“ erzählt vom Verlust und dem Abschied von etwas, was gewesen ist. Simón vermittelt uns in einem so luftig wirkenden Sommerfilm, was Menschen an Traditionen festhalten lässt und stellt schon die Frage, wie wir zu akzeptieren lernen, dass sich Dinge ändern. „Alcarràs“ wird im Laufe des Jahres bei Piffl Medien in unsere Kinos gebracht.

„Friedas Sommer“, der erste Teil der als Trilogie angelegten Reihe von Carla Simón, lief 2017 im Generation-Programm der Berlinale. Ich gebe zu, diese Sektion besuche ich besonders gerne. Es sind nicht nur Filme für Kinder, sondern Film, die Kinder ernst nehmen, Probleme aufgreifen, für die es keine einfachen Lösungen gibt, die fordern und durchaus auch mal zu viel sind. Einer meiner Lieblingsfilme ist in dieser Sektion gelaufen: „An Cailín Ciúin“ (mit dem internationalen Titel „The Quiet Girl“). Der Regisseur Colm Bairéad drehte sein Langspielfilmdebüt in irischer Sprache, nicht Gälisch. Er adaptierte eine Kurzgeschichte von Claire Keegan aus dem „New Yorker“: Cáit ist neun Jahre alt und hat mehrere Geschwister. Zu Hause geht es drunter und drüber, die Mutter steht kurz vor der nächsten Niederkunft. Da wird sie für den Sommer zu fernen Verwandten gegeben. Sie kommt zu Leuten, die ihr fremd sind und in eine ihr fremde Umgebung. Doch der Umgang ist ein ganz anderer, sie erfährt Zuwendung und blüht auf. Es ist eine sehr leise, sehr behutsame Annäherung in beide Richtungen. „The Quiet Girl“ gewann auf der Berlinale den großen Preis der internationalen Generation Kplus-Jury und gerade am letzten Wochenende den Hauptpreis der Irish Film and Television Academy. Unter anderem, Colm Bairéad wurde zum besten Regisseur ernannt und Catherine Clinch, die die Rolle des Mädchens spielt, wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Die Preise für die Kameraarbeit, den Schnitt und das Produktionsdesign gingen ebenso an diese Produktion. Das Berlinale-Team um die letztmalige Sektionsleiterin Maryann Redpath hatte den richtigen Riecher. 

Im 14plus-Programm zeigte zum Beispiel „Stay Awake“ von Jamie Sisley von den Schwierigkeiten von Kindern, die weit mehr gefordert werden, als ertragbar ist. Sisley hatte bereits vor ein paar Jahren einen Kurzfilm mit dem gleichen Titel gedreht. „Stay Awake“ erzählt von zwei Brüdern, die sich um ihre Mutter kümmern, die von Medikamenten abhängig ist. Die Mutter verspricht Besserung, sogar einen Entzug will sie machen, aber die Realität ist härter und das ganze Leben der Jungs dreht sich nur um die Sorge, die Mutter immer wieder irgendwo aufzugabeln und ins Krankenhaus zu bringen. Der Akzeptanz und die Loslösung muss hier in beide Richtungen stattfinden und Jamie Sisley beschönigt nichts. Die Generation 14plus Jugendjury bedachte den Film mit einer lobenden Erwähnung.

Aus Deutschland kommt der Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“. Günther Kurth und Tine Kugler haben Kalle aus Marzahn-Hellersdorf, Wohnort Allee der Kosmonauten, über mehrere Jahre begleitet. Bei Kalle handelt es sich um einen Jungen mit guten Anlagen, wie eine Polizistin, bei der er wohl regelmäßig landet, bestätigt. Das Filmteam versucht aufzuzeigen, wie schwierig bis unmöglich es ist, seinem „Milieu“ zu entrinnen. Doch die Produktionsgeschichte wäre weit spannender als die Beobachtungsstudie, die zwangsläufig große Lücken aufweist. Kalle wird als Täter eingeführt, aber erst spät darf er erklären, was genau er getan hat, wofür er mehrere Jahre in den Bau musste. Das lässt im besten Fall ratlos zurück.

Eine ukrainische Produktion überzeugte mich absolut. „Terykony“ lief im Generation-Programm Kplus. „Terykony“ heißt auf Deutsch „Taubes Gestein“. So bezeichnet man in der Bergmannssprache Gestein, das nicht mehr weiterverwertet werden kann. Mit Shiluetten in einer Staubwolke von Stein und Geröll setzte die Kamera an und stellt sich dann auf eine Gruppe Kinder scharf. Der Regisseur Taras Tomenko hebt hier die Nastya hervor, die sechs Jahre alt war, als ihr Zuhause zerbombt wurde und ihr Vater starb. Sie lebt in Toretsk, 82 Kilometer von Donetsk entfernt. Seit Beginn des Krieges gibt es keine Arbeit mehr. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Zwar malt mal mitunter noch Blümchen auf die Einschießlöcher in den Mauern, aber nichts kann davon ablenken, dass hier der Tod regiert. Nastya sind sich diesem Umstand fatal bewußt. Nastya träumt sich mit Clips auf dem Handy in eine andere Welt und hofft darauf, Arbeit zu finden. Der Krieg in der Ukraine ist hier bereits Alltag. Die Kamera merken die Kinder, die wir durch ihren Alltag begleitet, gar nicht mehr. Das Land, Bildgestaltung Misha Lubarsky, ist schön und dystopisch zugleich. Was mit diesen Kindern ist, kurz nach Abschluß der Berlinale, man möchte es sich nicht ausmalen.

Die Härte des Krieges greift auch der ukrainische Film „Klondike“ auf und damit wechsele ich in das Programm Panorama. „Klondike“ von der ukrainischen Regisseurin Maryna Er Gorbach könnte ein Familienfilm sein. Könnte. Sie erzählt von Irka und Tolik, die ihr erstes Kind erwarten. Wahre Ereignisse haben diesen Film inspiriert. Ein fehlgeleiteter Granateneinschlag reißt dem Haus des Paares die Front weg. Fortan folgen wir einem Kammerstück mit Ausblick. Toliks Kumpel, Separatisten, wollen das wieder in Ordnung bringen, wozu es nie kommt. Irka müsste längst in die Stadt, die Geburt des Kindes steht unmittelbar bevor. Aber sie will nicht. Ich gebe zu, was für mich zuerst irrational anmutete, steht hier für eine Haltung, die wir inzwischen täglich, wenn auch nur über die Fernsehbilder sehen können. Das Haus des Paares steht direkt an der Grenze. Als dann ein Flugzeugsessel im Hof liegt und Rauchschwaden am Horizont zu sehen sind, verortet sich „Klondike“ in der Zeitgeschichte. 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Linie Malaysia-Airlines abgeschossen, die Weltöffentlichkeit blickte auf. Und seitdem? Maryna Er Gorbach bleibt in dem familiären Rahmen des Paares. Irkas Bruder ist Nationalist und wirft dem Schwager immer wieder vor, sich politisch nicht zu positionieren. Irka, mit einer erschreckenden Wucht gespielt von Oxana Cherkashyna, ist die Frau, die Mutter, die unter Schmerzen Leben gebirt, während um sie herum nur Unmenschlichkeit herrscht. „Klondike“ ist zum Teil schwer anzusehen. Aber seit dem Abschluss der Berlinale ist das nicht einfacher geworden. Wahrlich nicht.

Ebenfalls im Programm des Panoramas wurde die Dokumentation „Myanmar Diaries“ gezeigt. Mynamar ist einer dieser Brennpunkte, auf die unser Blick immer wieder fällt, und den wir immer auch wieder aus dem Blick verlieren. Verantwortlich ist hier das The Myanmar Film Collective, das Team aus den Koproduktionsländern Niederlande und Norwegen entschied sich solidarisch, ebenfalls anonym zu bleiben. Handyaufnahmen zeigen die Ereignisse vor Ort nach dem Militärputsch vor einem Jahr im Februar 2021. Demonstrationen wurden zerschlagen, die Bevölkerung grundlos schikaniert. Die Willkür hatte Methode. Handyaufnahmen dokumentieren, soweit es geht. Filmische Szenen, in denen die Mitwirkenden, ohne sich erkennen zu geben, geben Aufschluß auf das Lebensgefühl, die Angst, die Unsicherheit. „Myanmar Diaries“ ist so kompakt wie eindringlich, ein Weckgucken ist nicht möglich. Dafür gab es zu recht den Dokumentarfilmpreis der Berlinale und Amnesty International prämierte den Film ebenso.

In „Liebe, D-Mark und Tod“, ein weiterer sehenswerter Dokumentarfilm, der übrigens noch dieses Jahr von Rapid Eye Movies in unsere Kinos gebracht wird, geht es nicht nur um türkische Musik. Cem Kaya erzählt ein Stück deutsch-türkische Zeitgeschichte. Er erzählt von den ersten Gastarbeitern, die über das Anwerbeabkommen 1961 ins Land kamen und wie sie sich ein Stück Heimat aufgebaut haben und folgt dieser Spur zu den nachfolgenden Generationen. Dabei ist die Musik nicht nur ein roter Faden, sondern auch der Mittelpunkt. Besonders wenn man sich in der Musik gar nicht auskennt, bekommt man einen Crashkurs, wie sich Musiker und Musikerinnen auf den Markt einließen und wie weit sich die Produktion nach Deutschland verlagerte, um ihr Publikum direkt zu bedienen. Cem Kaya verwebt mehrere Stränge und führt sie zielsicher zusammen, dabei weiß er sowohl zu unterhalten, als auch zu vermitteln.

Nicht nur auf türkische Musik blickte die diesjährige Berlinale. Ebenfalls im Panorama stellt Lutz Pehnert sein Porträt der Liedermacherin Bettina Wegner vor. Im Gespräch unter Kollegen und Kolleginnen stellte ich fest, dass Bettina Wegner nicht jedem ein Begriff ist. Auch ihr Lied „Sind so kleine Hände“, das sie jahrelang nicht öffentlich singen wollte, weil man sie immer nur mit diesem einen Lied in Zusammenhang brachte, ist scheinbar nicht (mehr) allgemein bekannt. „Bettina“ lässt ihre Protagonistin reden, über ihr Elternhaus, über ihr musikalische und ihre politische Heimat, über Heimat überhaupt. Dabei hat Pehnert ihr Lied „Gebote“ als roten Faden genommen. „Aufrecht stehen, wenn andere sitzen“, „lauter schrein, wenn andre schweigen“, „nie als andrer zu erscheinen“. Das sind drei der Gebote, nach der Bettina Wegner sich ausrichtet und die vor allem eins zeigen: Haltung, Bewußtsein. Auch wenn es heißt, Widerstand zu leisten und vom DDR-System in Produktion geschickt zu werden. Ihre Lieder sind eingängig, ihre Liedtexte mitunter politisch. Trotz allem.

Politik, politisches Leben, politisches Geschehen in unserer Zeit hier in Deutschland, das greift der Dokumentarfilm „Eine deutsche Partei“ auf, der im Berlinale Special gezeigt wurde und bei dem Verleih Majestic im Laufe des Jahres ins Kino kommen wird. Der Regisseur Simon Brückner durfte mit seinem Team und der Kamera die AFD begleiteten. Bis das ins Kino kommt, würde es keine Rolle mehr spielen, sagt einer am Anfang. Trotzdem sind nicht alle Beteiligten von der Anwesenheit der Kamera begeistert. Kommentiert wird nichts. Nur beobachtet. Vielleicht im Schnitt und insgeheim frage ich mich, wie viel Material es gab und was eventuell nicht frei gegeben worden ist. Es wäre zu einfach, wenn ich sage, die Mitwirkenden demaskieren sich selbst. Mitunter merkt man die Schere, die sie im Kopf selbst ansetzen, weil sie es vor Kamera tun. „Eine deutsche Partei“ ist ein Film, über den man sich im Anschluß stundenlang unterhalten kann. So viel ist sicher.

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