Neropa: NEutrale ROllen PArität für mehr Rollenvielfalt
„Das Beste an einem Film ist sich mit den Figuren identifizieren zu können.”
Geena Davis, US-amerikanische Schauspielerin. GDIGM.
Ein schöner Gedanke! Und bei der Masse an Film- und Fernsehfilmen, die Jahr für Jahr in Deutschland produziert werden, sollte auch für alle etwas dabei sein. Oder etwa nicht?
Die Ausgangslage: Deutlich weniger Frauenfiguren
In Deutschland leben 51 % Frauen und 49 % Männer, im deutschen Fernsehen wird dieses Verhältnis aber nicht annähernd gespiegelt.
Abbildung 1 zeigt die Hauptcasts von je drei ARD und ZDF Sendereihen (erstausgestrahlte Filme, 20.15 Uhr) aus dem Jahr 2015:
Das sind die Durchschnittswerte für jeweils 31 – 40 Filme. Eine generelle Männerlastigkeit ist evident, einzig in der Herzkinoreihe gibt es eine fast ausgeglichene Verteilung: 49 zu 51. Reicht das als Gegengewicht zu den männerstrotzenden Krimis?
Männerdominierte Casts sind kein neues Phänomen, siehe dazu auch FilmMittwoch im Ersten: „Nur Fiktion”? und Zweimal werden wir noch wach.
Die folgende Abbildung zeigt alle Filme der sechs 2015er Reihen, in deren Hauptcasts ein Geschlecht mindestens doppelt so häufig vorkommt wie das andere:
Mehr als ein Viertel der 208 Filme hatten mindestens doppelt so viele Männer- wie Frauenrollen im Hauptcast, davon 18 zwischen drei und sechsmal so viele. An der Spitze stehen DIE SEELEN IM FEUER (ZDF, 1 F – 11 M) und NACKT UNTER WÖLFEN (0 F – 15 M).
Insgesamt gab es aber nur vier Filme, die ein 2 bis 3-faches Frauenübergewicht hatten, darunter findet sich jedoch kein Herzkinofilm, es scheint also möglich zu sein, ein Geschlecht schwerpunktmäßig ins Zentrum zu stellen ohne das andere außen vor zu lassen, – im Gegenteil, für diesen Sendeplatz weist die Analyse 5 männerlastige Filme aus.
Selbstverständlich spricht nichts gegen Filme, die Geschichten mit einem großen Männerrollenübergewicht erzählen oder gegen Filme, die nur von Männern handeln. Nur, wo bleibt der Ausgleich?
1000 Frauen- gegenüber 1400 Männerrollen sind alarmierend. Und das sind nur die Hauptcasts, dazu kommen noch die kleinen, nicht im Abspann genannten Rollen, die – oft namenlos – häufig als Männer im Drehbuch stehen (Busfahrer, Nachbar, Gerichtsvollzieher usw). Und es wurden außerdem nur 6 Filmgruppen untersucht, es gibt ja noch weitere Sendeplätze für Fernsehfilme und andere fiktionale Formate. Wenn wir also die kompletten Casts betrachten und das gesamte Programm von ARD und ZDF – inklusive der zahllosen (Krimi-)Wiederholungen, auch auf den Dritten Programmen und den ZDF-Nebenkanälen – dann können wir davon ausgehen, dass jedes Jahr ein Übergewicht von mehreren Tausend fiktionalen Männerfiguren über das öffentlich-rechtliche Fernsehen in die heimischen Wohnzimmer gestrahlt wird.
Als zweite Bevorzugung von Männern ist die Altersdiskriminierung von Frauen zu sehen. Die nächste Grafik zeigt die Altersverteilung der im Hauptcast besetzten Schauspielerinnen und Schauspielern für die 32 erstausgestrahlten ARD Mittwochsfilme 2014:
Ein ähnliches Bild lieferten die Tatorte 2013 und die ZDF Fernsehfilme der Woche 2013, auch dort waren die Schauspielerinnen im Hauptcast deutlich jünger als ihre Kollegen, ihr Zenit war mit 40 überschritten, der der Schauspieler erst bei 50 bzw. 55.
Zum Vergleich: in Deutschland lebten am 31.12.2014 insgesamt 41,4 Mio. Frauen und 39,8 Männer. Die stärksten Gruppen sind die 46 bis 50- und die 51 bis 55-Jährigen, bei beiden Geschlechtern.
Zwischenfazit
Es ist nicht Aufgabe des Fernsehens, in den Besetzungslisten oder Filmstoffen ein 1 zu 1-Abbild der Bevölkerung zu liefern.
Allerdings, wenn die Hälfte der Bevölkerung immer wieder wesentlich seltener und meist jünger vorkommt als die andere Hälfte ist das auch nicht mit dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vereinbar.
Weniger Frauen bedeuten weniger potenzielle Identifikationsfiguren, weniger berufliche Vielfalt bedeutet weniger Vorbilder und Anregungen für Mädchen und junge Frauen in ihrer Berufswahl, die Geschichten werden einseitig und ärmer (ich nenne das Männer reden, Frauen hören zu – Männer agieren, Frauen sehen schön aus).
Diese ungünstige künstliche Realität wird natürlich nicht nur über die fiktionalen Formate verbreitet, auch Talkshows mit ihren Panels, Dokumentarfilme und die Sportberichterstattung zeigen eine ähnliche bis teilweise noch stärkere Männerzentriertheit.
Darüberhinaus muss auch über Filminhalte und Geschlechterstereotype gesprochen werden. Aber jetzt geht es darum, die Repräsentanz von Frauen im fiktionalen Fernsehen zu erhöhen, und zwar schnell, unkompliziert, ohne großen Aufwand und ohne grundsätzliche Veränderung der Plots – denn dann wird es am ehesten gemacht.
Das Ergebnis kann zu ungewohnten Seherfahrungen führen („Nanu, seit neuestem gibt es ja ständig Frauen in den Filmen!“), es kann spannende oder zumindest interessante Auswirkungen auf die Dynamik zwischen Figuren haben, und vor alllem liefert es dem gesamten Publikum ein wesentlich vielschichtigeres Frauenbild als es einzelne Protagonistinnen in einem männerlastigen Cast vermögen. Frauen werden neue, normale Berufe haben bzw. über eine Tätigkeit definiert (Hausmeisterin, die wartende Frau an der Bushaltestelle) und nicht mehr nur über ihre Beziehung zu einer anderen Figur (Ehefrau, Mutter, Geliebte, Tochter).
Mein Vorschlag: Neropa – Neutralerollenparität
Neropa ist ein Besetzungstool beziehungsweise eine Vorgehensmethode, auf die eine Produktion sich zu Beginn festlegt. So geht es weiter:
1. Die Verantwortlichkeit für die Durchführung von Neropa wird einem Team übertragen, bestehend z.B. aus Caster/in, Regisseur/in, Produzent/in und Redakteur/in.
2. Vor dem ersten Teamtreffen überprüft jede/r für sich die Rollenliste des Films, und markiert, welche Rollen im Drehbuch männlich und welche weiblich sind – ohne etwas zu ändern, d.h. Journalist 1 ist männlich, denn er heißt nicht Journalistin 1, ebenso ist Dr. Meier, Biologe als männlich zu kennzeichnen.
3. Im zweiten Schritt werden alle Rollen, die jedes Geschlecht haben könnten, als neutral gekennzeichnet. Auch das machen alle aus dem Team einzeln für sich.
4. Das erste Teamtreffen: Die Verantwortlichen vergleichen ,ihre’ Listen und einigen sich auf die Neutralen Figuren.
5. Diese werden nun im Wechsel als Frauen bzw. Männer festgelegt, begonnen wird mit einer weiblichen Figur.
6. Fertig! Die endgültige Rollenliste steht, die Besetzungsarbeit kann beginnen.
Die nächste Abbildung erläutert dies an einem fiktiven Beispiel: Die linke und die mittlere Liste zeigen die Vorarbeit, und die rechte Liste das Ergebnis der Teameinigung: die beiden Spalten geben die endgültigen Rollengender wieder.
in der Liste sind weibliche Rollen hellblau und männliche rosa gekennzeichnet, die neutralen Rollen hellgrün. Dunkelgrün sind die größeren Rollen, für die ein Rollentausch vorgeschlagen wird.
Neropa kann auch angewandt werden, wenn zu Beginn die Besetzung der Hauptrollen bereits feststeht. Sie macht auch Sinn, wenn nur 4 oder 5 ,neutrale Rollen’ ermittelt werden, die vorher männlich waren.
Bei Neropa, bei der Ausweisung der ,neutralen’ Rollen geht es um das Durchbrechen geschlossener Systeme, um die Schaffung von mehr Frauenfiguren, denn diese sind seit Jahren und vermutlich Jahrzehnten unterrepräsentiert. Deshalb können im Drehbuch bereits vorhandene Frauenrollen nicht als ,neutral’ gekennzeichnet werden.
Die Neropa-Methode spart viel Zeit, denn wenn die Verantwortlichen sich auf die neutralen Rollen geeinigt haben gibt es keine weiteren Diskussionen. Es steht nun fest, dass jede Rolle sowohl weiblich als auch männlich besetzt werden kann, und das sture F – M – F – M – Prinzip wird angewendet, was auch gleichzeitig bedeutet, dass bei einer ungerade Zahl neutraler Rollen (ob 3 oder 13) auf jeden Fall mehr weibliche Rollen geschaffen werden.
Je mehr Produktionen mitmachen, umso deutlicher wird sich das Fernsehbild ändern. Frauen werden vielseitiger vorkommen, sie werden häufiger einen Beruf haben und der prozentuale Anteil von Nur-Ehefrauen / Nur-Müttern, von halbbekleideten Mädchen und Frauen, von Prostituierten und Gewaltopfern wird zurückgehen. Vermutlich werden die Frauen auf dem Bildschirm auch älter.
Natürlich gibt es auch namenlose Rollen, die ein bestimmtes Geschlecht haben müssen, z.B. die Bettnachbarin auf der Wöchnerinnenstation, die Teilnehmer einer Bischofskonferenz oder beim Männergebet in einer Moschee, der Kabinennachbar in einer Samenbank, die beste Freundin, der Trauzeuge, den der Bräutigam schon seit Jungeninternatstagen kennt, der Bergmann unter Tage oder die Teilnehmer*innen an einem Sportwettbewerb…. Aber wenn diese Methode erst einmal ernsthaft und offen angewendet wird lässt sich bestimmt feststellen, dass es wesentlich mehr Rollen gibt, die genauso gut eine Frau sein könnten, als dies bisher bei Drehbuchbesprechungen aufkam. Da ist es ja meist auf die Initiative einer Casterin oder eines Casters zurückzuführen, wenn der berühmte Taxifahrer zu einer Taxifahrerin umgeschrieben wird.
Der erste Schritt ist also, die vielen kleinen neutralen Rollen paritätisch zu besetzen. Der zweite Schritt ist, auch über die größeren Rollen zu sprechen. Da gibt es ja seit vielen Jahrzehnten erfolgreiche Rollenwechsel-Vorbilder (siehe auch Berliner Theatertreffen 2015. Und Rollentausch). An dieser Stelle zwei potenzielle Beispiele der Gegenwart:
1. der Wiesbaden-Tatort WER BIN ICH? mit Ulrich Tukur vom 27.12.2015, in dessen Vorspann 9 Männer und 2 Frauen genannt wurden. Hier war das Geschlecht vieler Hauptrollen vorgegeben, da es reale Personen bzw. etablierte Krimifiguren waren. Aber was hätte eigentlich dagegen gesprochen, die beiden Polizisten Kugler und Kern zu Polizistinnen zu machen? Es hätte auch dramaturgisch reizvoll sein können, den drei Kommissar-Buddies zwei Ermittlerinnen gegenüberzustellen.
2. Die Serie WEISSENSEE. Mit welchen Figuren hätte sich Geena Davis da identifizieren können? Im Zentrum stehen zwei Brüder und deren Vater, ihre Kolleg*innen sind Männer. Drei der wichtigeren Frauen waren Alkoholikerinnen (Dunja, Vera und Nicole), die kränkelnde Mutter Marlene ist meist still im Hintergrund und Underdog Julia lange im Knast bevor sie jung stirbt. Erst in der letzten Staffel kam eine stärkere, autonome Frauenfigur dazu, die westdeutsche Lisa. Wie hätte die Serie ausgesehen, wenn es nicht um zwei Brüder sondern um Bruder und Schwester gegangen wäre? Und / oder wenn deren Mutter Marlene eine anfangs überzeugte ranghohe Stasimitarbeiterin gewesen wäre, und nicht der Vater?
Aber zurück zum Anfang, dem Neropa-Check der kleineren Rollen. Das geht auch schneller und verursacht weniger Diskussionen. Ich sage nicht „keine Diskussionen“, denn es wird Besetzungsneuland betreten, wenn regelmäßig und grundlegend das Geschlecht der Rollen, aller Rollen!, in einem Drehbuch thematisiert wird, wenn auch nur kurz.
Eine Auseinandersetzung mit dem Rollenungleichgewicht könnte auch in Drehbuchklassen der Filmhochschulen stattfinden, ebenso kann Neropa unmittelbar nach Abschluss eines Buches angewendet werden, sinnvollerweise in einem Team aus mehreren Leuten. Denkbar wäre auch, dass Drehbuchsoftware einen statistischen Gendercheck für Rollen enthält, große Ungleichgewichte sind vielleicht auch Nachlässigkeit und keine bewusste Entscheidung? (das wäre z.B. ein gutes Feature für das Programm DramaQueen).
Einschätzung
„Ich glaube NEROPA würde ein hervorragendes Hilfsinstrument für die Verbesserung der Geschlechterverteilung bei Film- und Fernsehbesetzungen sein. Es hat das Potenzial, besonders auch die Chancen für ältere Schauspielerinnen zu verbessern, deren Karrieren sich wenn sie älter werden aufgrund des zurückgehenden Rollenangebots ausnahmslos verschlechtern.
Im Vereinigten Königreich treten seit vielen Jahren Schauspielerinnen wie Emma Thompson für ein “gender blind casting“ ein, aber die Situation verbessert sich nur sehr langsam. Allerdings, wenn wir Produzent*innen und Sender überreden können, diesen guten methodischen Vorschlag als Norm anzuwenden, dann bin ich überzeugt, dass wir eine spannende Verbesserung beobachten werden. Viel Glück!“
Jean Rogers, Schauspielerin.
Jean ist seit über 20 Jahren gewähltes Ratsmitglied von EQUITY UK; 2004-2014 war sie Vizepräsidentin. Aktuell ist sie Mitglied im Equity und im TUC Women’s Committee und der Gender Equality Steering Group der Internationalen Schauspielföderation FIA.
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Dieser Artikel ist die Kurzfassung eines Textes, der im Blog SchspIN unter dem Titel „Das Besetzungstool Neropa“ erschienen ist.
Gut gebrüllt Löwe, Neropa find ich Klasse!