Cinema Moralia – Folge 75: Getrennt marschieren, vereint schlagen
Über den Napoleonismus des Kinos, die Tugend der Gewaltenteilung, das Meisterwerk von Abel Gance und klassisches Hollywood – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 75. Folge
Jean-Luc Godard: »Was würden Sie antworten, wenn jemand, der sich mit dem Kino nicht auskennt, Sie fragt: „Wie definiert man einen Menschen, der sich Regisseur nennt? Ist er ein Arbeiter oder ein Künstler, was ist seine Besonderheit?«
Fritz Lang: »Wissen Sie, ich mag die Bezeichnung Künstler nicht. Ein Künstler ist ein Mensch, der viel arbeitet und sein Handwerk versteht. Auch ein großer Chirurg ist meiner Meinung nach ein Künstler. Ich selbst arbeite ebenfalls viel und mag meinen Beruf.«
JLG: »Ich sehe das etwas anders. Van Gogh war ein wichtigerer Mensch als der Tischler, der die Staffelei gebaut hat, auf der van Gogh malte.«
FL: »Da haben Sie völlig Recht. Das ist ein hervorragendes Beispiel, und ich hatte Unrecht.«
JLG: »Also, Sie würden sich eher als Tischler sehen .
FL: »Nein, nicht als Tischler, aber als Arbeiter.
JLG: »Die meisten Leute glauben nicht, dass Kino Arbeit ist.
FL: »Das Publikum denkt immer, es sei das reine Vergnügen, dabei ist es harte Arbeit. Aber wissen Sie, wir beide haben etwas gemeinsam. Ich glaube, Sie sind ein Romantiker, genau wie ich. Aber ich weiß nicht, ob das heutzutage gut ist.
JLG: »Heute ist das eher schlecht.
(Auszug aus dem Gespräch, dass Jean-Luc Godard 1964 mit Fritz Lang unter dem Titel »Le dinosaure et le bébé« für das französischer Fernsehen führte.)
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»Das Kino ist eine Flamme, ein Licht, man muss begeistern … Napoléon ist Prometheus. Es handelt sich in dem Film nicht um Moral oder Politik, sondern um Kunst« – dies schrieb Abel Gance 1927 bei der ersten Vorstellung seines Films NAPOLEON. Dieser sollte ein lebendiges Zeichen für die Zukunft sein. »Aus dem Zuschauer einen Akteur machen, ihn in die Handlung einbringen, ihn den Rhythmen der Bilder aussetzen.« Gance erfand dafür eine eigene neue Kinosprache: Überlagerung der Bilder, Polyvision mit dreigeteilter Leinwand, dem »triple écran«. 1925 begann er mit NAPOLEON.
Der Film mit Albert Dieudonné in der Titelrolle – passender Name – ist gewaltig: Ein Abriss französischer Geschichte, filmisch orchestriert, visionär gesteigert und verdichtet. Fünfstündig war er nur der erste von fünf geplanten Filmen über das Leben Napoleons. Er umspannt seine Jugend bis zum Beginn des Italienfeldzugs.
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Eléonore de Montesquiou, 1970 geboren in Paris mit estnischen Wurzeln ist Filmemacherin und lebt in Berlin. Ihre Filme behandeln den Raum zwischen privater und offizieller Geschichtsschreibung, persönlicher und nationaler Identität. In der Filmmaker’s Choice des Berliner Arsenal (www.arsenal-berlin.de) stellt sie am kommenden Montag Gances Film vor. Er läuft dort in 18 Bildern pro Sekunde, statt 24, daher ohne Musik. Das wird eine besondere Erfahrung, fünf Stunden Stille. Dabei ist doch die Musik erhalten. Der Deutsche Arthur Honegger hat sie komponiert.
Gance war das wichtig. Er betonte, und das dürfte auch Honegger fasziniert haben, die nichtlineare, nichttheatralische Struktur von Film. Den Rhythmus der Bildfolgen, das Beschleunigen, Verlangsamen, die Unaufhaltsamkeit des fortschreitenden Prozesses, fasste Abel Gance in die magische Formel vom Film als »Musik aus Licht.«
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Zu den vielen interessanten Anekdoten, die sich um diesen legendären Film ranken, gehört die, dass ausgerechnet der deutsche Stahlindustrielle Hugo Stinnes, der ein paar Jahre zuvor noch Granaten gebaut hatte, mit denen Franreichs Truppen an der Weltkriegsfront »ausbluten« sollten, Abel Gance‘ Film finanzierte: Stinnes, kulturell desinteressiert und aliterarisch, gründete im Jahr 1923 die »Westi-Film« auf Grundlage der Idee eines »Europäischen Filmsyndikats«. So sollte der beginnenden Übermacht von Hollywood begegnet werden. Die Bildung des deutsch-französischen »Pathé-Westi Consortium« war der erste Schritt zur Verwirklichung europäischer Zusammenarbeit im großen Stil. Erste Großprojekte waren drei Monumentalfilme nach französischen Romanvorlagen: »Les Miserables« nach Victor Hugo, »Michael Strogoff« nach Jules Verne, und »Jocaste« nach Anatol France, dann das »Napoleon«-Projekt von Abel Gance. Der Zusammenbruch des Stinnes-Konzerns
1925 machte den meisten Projekten ein Ende.
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Schade, dass Montesquiou nicht mit dem Philosophen Montesquieu verwandt ist.
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Wer irgend Zeit hat, vorher am Freitag nach Mainz zu fahren, sollte sich eine Veranstaltung am dortigen »Institut für interkulturelle Studien« nicht entgehen lassen. Es geht darin um das Verhältnis des klassischen Hollywood zur kontinentaleuropäischen Philosophie. Es gibt Vorträge die viel Kurzweil versprechen, wie den über »Disney und die kritische Theorie«, oder zum Verhältnis von Kracauer und Badiou zu Charlie Chaplin. Sehr gespannt sind wir auch auf den Vortrag, der endlich Aufklärung über alle Anekdoten und Gerüchte zur Beziehung zwischen Terrence Malick und Heideggers Denken verspricht. Nächste woche wissen wir mehr. Wer darauf nicht warten will, der findet hier [http://www.fb05.uni-mainz.de/mediendramaturgie/] weitere Infos.
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Und wer wäre eigentlich der Napoleon des Kinos? Kubrick?
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.