Cinema Moralia – Folge 75: Getrennt marschieren, vereint schlagen

Albert Dieudonné in Napoléon (Abel Gance, 1927)

Über den Napo­leo­nismus des Kinos, die Tugend der Gewal­ten­tei­lung, das Meis­ter­werk von Abel Gance und klas­si­sches Hollywood – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kino­ge­hers, 75. Folge

Jean-Luc Godard: »Was würden Sie antworten, wenn jemand, der sich mit dem Kino nicht auskennt, Sie fragt: „Wie definiert man einen Menschen, der sich Regisseur nennt? Ist er ein Arbeiter oder ein Künstler, was ist seine Beson­der­heit?«

Fritz Lang: »Wissen Sie, ich mag die Bezeich­nung Künstler nicht. Ein Künstler ist ein Mensch, der viel arbeitet und sein Handwerk versteht. Auch ein großer Chirurg ist meiner Meinung nach ein Künstler. Ich selbst arbeite ebenfalls viel und mag meinen Beruf.«

JLG: »Ich sehe das etwas anders. Van Gogh war ein wich­ti­gerer Mensch als der Tischler, der die Staffelei gebaut hat, auf der van Gogh malte.«

FL: »Da haben Sie völlig Recht. Das ist ein hervor­ra­gendes Beispiel, und ich hatte Unrecht.«

JLG: »Also, Sie würden sich eher als Tischler sehen .

FL: »Nein, nicht als Tischler, aber als Arbeiter.

JLG: »Die meisten Leute glauben nicht, dass Kino Arbeit ist.

FL: »Das Publikum denkt immer, es sei das reine Vergnügen, dabei ist es harte Arbeit. Aber wissen Sie, wir beide haben etwas gemeinsam. Ich glaube, Sie sind ein Roman­tiker, genau wie ich. Aber ich weiß nicht, ob das heut­zu­tage gut ist.

JLG: »Heute ist das eher schlecht.
(Auszug aus dem Gespräch, dass Jean-Luc Godard 1964 mit Fritz Lang unter dem Titel »Le dinosaure et le bébé« für das fran­zö­si­scher Fernsehen führte.)

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»Das Kino ist eine Flamme, ein Licht, man muss begeis­tern … Napoléon ist Prome­theus. Es handelt sich in dem Film nicht um Moral oder Politik, sondern um Kunst« – dies schrieb Abel Gance 1927 bei der ersten Vorstel­lung seines Films NAPOLEON. Dieser sollte ein leben­diges Zeichen für die Zukunft sein. »Aus dem Zuschauer einen Akteur machen, ihn in die Handlung einbringen, ihn den Rhythmen der Bilder aussetzen.« Gance erfand dafür eine eigene neue Kinosprache: Über­la­ge­rung der Bilder, Poly­vi­sion mit drei­ge­teilter Leinwand, dem »triple écran«. 1925 begann er mit NAPOLEON.
Der Film mit Albert Dieudonné in der Titel­rolle – passender Name – ist gewaltig: Ein Abriss fran­zö­si­scher Geschichte, filmisch orches­triert, visionär gestei­gert und verdichtet. Fünf­stündig war er nur der erste von fünf geplanten Filmen über das Leben Napoleons. Er umspannt seine Jugend bis zum Beginn des Itali­en­feld­zugs.

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Eléonore de Montes­quiou, 1970 geboren in Paris mit estni­schen Wurzeln ist Filme­ma­cherin und lebt in Berlin. Ihre Filme behandeln den Raum zwischen privater und offi­zi­eller Geschichts­schrei­bung, persön­li­cher und natio­naler Identität. In der Filmmaker’s Choice des Berliner Arsenal (www.arsenal-berlin.de) stellt sie am kommenden Montag Gances Film vor. Er läuft dort in 18 Bildern pro Sekunde, statt 24, daher ohne Musik. Das wird eine besondere Erfahrung, fünf Stunden Stille. Dabei ist doch die Musik erhalten. Der Deutsche Arthur Honegger hat sie kompo­niert.
Gance war das wichtig. Er betonte, und das dürfte auch Honegger faszi­niert haben, die nicht­li­neare, nicht­thea­tra­li­sche Struktur von Film. Den Rhythmus der Bild­folgen, das Beschleu­nigen, Verlang­samen, die Unauf­halt­sam­keit des fort­schrei­tenden Prozesses, fasste Abel Gance in die magische Formel vom Film als »Musik aus Licht.«

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Zu den vielen inter­es­santen Anekdoten, die sich um diesen legen­dären Film ranken, gehört die, dass ausge­rechnet der deutsche Stahl­in­dus­tri­elle Hugo Stinnes, der ein paar Jahre zuvor noch Granaten gebaut hatte, mit denen Fran­reichs Truppen an der Welt­kriegs­front »ausbluten« sollten, Abel Gance‘ Film finan­zierte: Stinnes, kulturell desin­ter­es­siert und alite­ra­risch, gründete im Jahr 1923 die »Westi-Film« auf Grundlage der Idee eines »Europäi­schen Film­syn­di­kats«. So sollte der begin­nenden Übermacht von Hollywood begegnet werden. Die Bildung des deutsch-fran­zö­si­schen »Pathé-Westi Consor­tium« war der erste Schritt zur Verwirk­li­chung europäi­scher Zusam­men­ar­beit im großen Stil. Erste Groß­pro­jekte waren drei Monu­men­tal­filme nach fran­zö­si­schen Roman­vor­lagen: »Les Misera­bles« nach Victor Hugo, »Michael Strogoff« nach Jules Verne, und »Jocaste« nach Anatol France, dann das »Napoleon«-Projekt von Abel Gance. Der Zusam­men­bruch des Stinnes-Konzerns
1925 machte den meisten Projekten ein Ende.

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Schade, dass Montes­quiou nicht mit dem Philo­so­phen Montes­quieu verwandt ist.

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Wer irgend Zeit hat, vorher am Freitag nach Mainz zu fahren, sollte sich eine Veran­stal­tung am dortigen »Institut für inter­kul­tu­relle Studien« nicht entgehen lassen. Es geht darin um das Verhältnis des klas­si­schen Hollywood zur konti­nen­tal­eu­ropäi­schen Philo­so­phie. Es gibt Vorträge die viel Kurzweil verspre­chen, wie den über »Disney und die kritische Theorie«, oder zum Verhältnis von Kracauer und Badiou zu Charlie Chaplin. Sehr gespannt sind wir auch auf den Vortrag, der endlich Aufklä­rung über alle Anekdoten und Gerüchte zur Beziehung zwischen Terrence Malick und Heideg­gers Denken verspricht. Nächste woche wissen wir mehr. Wer darauf nicht warten will, der findet hier [http://www.fb05.uni-mainz.de/medi­en­dra­ma­turgie/] weitere Infos.

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Und wer wäre eigent­lich der Napoleon des Kinos? Kubrick?

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurzkri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.