German noir

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In den 1960ern hatte das Fernsehen noch keinen „Tatort“, umso stärker lockte das Verbrechen ins Kino. Die Edgar-Wallace-Verfilmungen zeigten zwar ein biederes Weltbild, doch die Bildsprache erinnert an größere Zeiten, und die Musik ging neue Wege. Szene aus „Der Frosch mit der Maske“ (1959). | Foto © Rialto

1959 war’s vorbei mit Heimatfilmen und leichten Komödien im Wirtschaftswunder-Deutschland. Das Kino hatte den Krimi wiederentdeckt. Fast 40 Filme wurden nach den Romanen von Edgar Wallace gedreht und zogen mehr als 100 Millionen Menschen in die Lichtspielhäuser. Noch heute gehören sie zur Popkultur.

Vor 150 Jahren wurde Edgar Wallace geboren. Der hat den modernen Thriller erfunden, schrieb unter anderem mehr als 175 Bücher und war zu seinen Lebzeiten einer der erfolgreichsten Autoren Großbritanniens. Doch in seiner Heimat ist er nahezu vergessen, schreibt die Deutsche Presse-Agentur. Ganz anders in der deutschen Bundesrepublik: „Ein wahrer Boom setzt in den späten 50er Jahren ein, der über ein Jahrzehnt andauert. Beinahe 40 Filme mit Starbesetzung entstehen in der Bundesrepublik, die ein Millionenpublikum in die Kinos locken. […] Es sei unbestritten, dass Edgar Wallace’ Geschichten zur deutschen Kultur gehörten, heißt es vom Anaconda Verlag. In der Komödie ,Der Wixxer‘ aus dem Jahr 2004 werden die Wallace-Filme auf die Schippe genommen.“  

Was fehlt: Filmadaptionen der Krimis hatte es seit den 1920er-Jahren gegeben, das Fernsehen hatte Edgar Wallace schon in den 1950ern wiederentdeckt – in beiden deutschen Staaten. Doch erst im Kino wird er zur Sensation. 1959 kommt „Der Frosch mit der Maske“ in die Kinos – und wird zum Überraschungserfolg mit langer Wirkung.

Das popkulturelle Phänomen erkundet Andreas Böhme in der „WAZ“:  „Kein Wunder, dass sofort der nächste Wallace-Roman Film verfilmt wird. Über 30 weitere werden in den nächsten Jahren folgen, zeitweise werden vier Stück pro Jahr gedreht. Titel wie ,Die toten Augen von London’, ,Die Gruft mit dem Rätselschloss’ oder ,Die Bande des Schreckens’ zeigen eindeutig, dass die Zeit der Heimatfilme in den deutschen Kinos vorbei ist. Bis Ende der Reihe sind mehr als 100 Millionen Menschen für die Wallace-Filme in die Kinos geströmt, und als die Filme später ins Fernsehen kommen erzielen sie Rekord-Einschaltquoten. [Produzent Horst] Wendlandt öffnet den Deutschen der 60er-Jahre ein Fenster in die weite Welt. Nach England. Zumindest in ein England, wie man es sich zwischen Kiel und Konstanz damals vorstellt. Dass dort – abgesehen von ein paar Außenaufnahmen für den ersten Film – nie nicht gedreht wird, merkt kaum jemand. Neu ist die Mischung aus britischem Krimiflair, Horrorelementen und Slapstick – gewürzt mit einer Prise Erotik. Die deutschen Wallace Filme sind für jene Zeit recht freizügig. Vor allem aber sind sie blutig und brutal und werden mit der Zeit immer brutaler. Mag das Unheimliche sich manchmal auch auf Geisterbahn-Niveau bewegen, die Gewalt wird genüsslich und oft in langen Szenen ausgespielt. […] Bei aller Vorhersehbarkeit sind die Edgar-Wallace-Filme aber mehr als simple Krimis. Da gibt es für die damalige Zeit gänzlich ungewöhnliche Einstellungen, in denen aus dem Mund heraus oder durch die Löcher der Wahlscheibe eines Telefons gefilmt wird. Und solange sie in schwarz-weiß gedreht werden, erinnern sie in ihrer Bildsprache mit ihrem Einsatz von Licht und Schatten in wirklich guten Momenten entfernt an die deutschen Krimi-Klassiker der Vorkriegszeit wie ,M – eine Stadt sucht einen Mörder’ oder ,Nosferatu’. Vor allem aber setzen sie akustisch neue Maßstäbe. Peter Thomas, der später mit der Titelmelodie zu ,Raumpatrouille’ bekannt werden wird, erschafft mit Jazz-Elementen, elektronischen Effekten und eingestreuten Schreien und Wortfetzen eine Klangwelt, die das Unheimliche noch unheimlicher macht.“ 

Eine lange Bildergalerie zeigte vor zehn Jahren „Der Spiegel“ dazu.  

Und auch die Wissenschaft beschäftigte sich vor vier Jahren eingehend mit „Deutschlands längster Kinofilmreihe“. In „Paradigma – Studienbeiträge zu Literatur und Film“ erklärte Mitherausgeber Andreas Blödorn den Zeitgeist:
„1959 – das war nicht nur das Jahr der beginnenden Reihe an Edgar Wallace-Filmen, sondern zugleich das ,wunderbare Jahr’, ,in dem die deutsche Literatur Weltniveau erreichte’ […]. Im Kino waren noch eskapistische Heimatfilme mit Bildern wiederhergestellter ‚heiler Welten‘ […], vor allem aber unterhaltsam-kurzweilige Komödien […] sowie Musik- und Revuefilme erfolgreich, in denen sich alles um glückliche Paarfindungen drehte, die Sonne schien und das Meer möglichst blau war […]. Zu den anspruchsvolleren Filmen gehörten 1959 der Antikriegsfilm ,Die Brücke’ sowie der justizkritische Film ,Rosen für den Staatsanwalt’, aber – zumindest dem Ansatz nach – auch Fritz Langs ,Der Tiger von Eschnapur’ und ,Das indische Grabmal’, das Biopic ,Die Wahrheit über Rosemarie’ (Nitribitt), die Vicki-Baum-Neuverfilmung ,Menschen im Hotel’ und die zweiteilige Verfilmung von Thomas Manns ,Buddenbrooks’. Nicht vergessen werden darf für die bundesdeutsche Filmlandschaft 1959, dass sich neben dem Kino das Fernsehen sichtbar zum neuen Massenmedium entwickelte. […] Statt Heimatidylle und Schlagerromantik präsentierten die Wallace-Filme, die sich in ihrer Anfangszeit noch eng an die Buchvorlagen des britischen Kriminalschriftstellers hielten, damit indirekt auch die Kehrseite des Wirtschaftswunders: Nicht selten ging es in diesen Filmen letztlich darum, wie Geld auf kriminelle Weise den Charakter verdirbt, und waren es dabei junge Frauen, die im Mittelpunkt standen – als unwissende Erbinnen eines großen Vermögens, heiß umkämpft nicht nur älteren Männern, die an ihr Geld wollten, sondern auch von den Inspektoren, die sie davor bewahren, sie retten (und schließlich heiraten) sollten.“

Die Filme lassen sich also „auch als mentalitätsgeschichtliches ‚Sittengemälde‘ der bundesrepublikanischen 1960er Jahre lesen.“