Empfehlungen für die Welt

,

So einige Filme wurden auf Festivals entdeckt. Aber wie entdecken Festivals eigentlich die Filme? Meenakshi Shedde kuratiert auf Festivals weltweit, seit 1998 ist sie Südasien-Delegierte der Berlinale. | Foto © Sabine Felber

243 Filme liefen dieses Jahr im Programm der Internationalen Filmfestspiele Berlin – eine Auswahl aus aller Welt. Um da den Überblick zu behalten, haben die Programmgestalter*innen Hilfe: Berater*innen wie die Filmkuratorin Meenakshi Shedde. Eine kurze Begegnung während der Berlinale.

Die Wahl ist getroffen. Manche mögen mit den Ergebnissen einverstanden sein, sich und ihre Wirklichkeit repräsentiert sehen. Anderen wird es nicht so gehen. Sie empören sich vielleicht sogar: „Der Wandel ist Schuld. Davor war wirklich alles besser.“

Es ist also der 23. Februar 2025, und die 75. Berlinale fand unter der neuen Intendantin Tricia Tuttle statt. Das ist eine Tatsache. In allen Wettbewerbsfilmen bis auf den ukrainischen Beitrag „Timestamp“ wurde geraucht. Auch das lässt sich beweisen. Der ganze Rest ist, wie erwähnt, Anschauungssache. Gefragt nach ihren Auswahlkriterien für die Filme, sagte Tuttle: „Es geht uns um schön gemachte, künstlerisch, ästhetisch, kulturell wichtige Filme – die unglaubliche Vielfalt der Kunstform Film.“

Bis auf die in Ghana lebende Festival- und Kulturberaterin Jacqueline Nsiah ist das diesjährige Auswahlkomitee neu besetzt: Die französische Programmgestalterin und Produzentin Mathilde Henrot, die irische Filmkritikerin Jessica Kiang und der ehemalige künstlerische Direktor des Jerusalem Film Festival, Elad Samorzik, bilden zusammen mit Nsiah das Team, das zusammen mit den Co-Direktor*innen Jacqueline Lyanga und Michael Stütz und natürlich Tuttle selbst die Filme für die Sektionen Wettbewerb, Perspectives und Berlinale Special auswählte. Ihnen standen Berater*innen und internationale Delegierte zur Seite, die bei der Programmgestaltung halfen. 

Eine von ihnen konnte ich zum Gespräch treffen. Meenakshi Shedde vertritt als freie Filmkuratorin den Raum Südasien. Sie sucht und empfiehlt Filme aus den Ländern Indien, Pakistan, Bhutan, Bangladesh, Sri Lanka, Nepal sowie Afghanistan. Das tut sie nun seit 27 Jahren! Shedde stammt aus Mumbai, besonders gut kennt sie den indischen Filmmarkt.

Meenakshi Shedde: In Indien werden mehr Filme produziert als irgendwo sonst auf der Welt. 2024 wurden ungefähr 17.000 Filme in 55 lokalen Sprachen beziehungsweise Dialekten von der indischen Regierungskommission zertifiziert. Davon waren circa 4.000 Featurefilme im Langformat. Verglichen damit: Nordamerika macht 500 bis 600 Filme pro Jahr. Dabei sind die Budgets für eine indische Filmproduktion oft kleiner als das Marketingbudget eines Hollywood Film. Das wirkt sich nicht auf die Qualität der Geschichten aus. Das indische Publikum mag die einheimische Filmkunst.

 

Wie findet sie in dieser schieren Menge an Filmen diejenigen, die sie der Berlinale empfehlen kann?

Meenakshi Shedde: Ich wache jeden Morgen auf und schaue in den Zeitungen, auf Social Media-Kanälen, in den mir zugesandten Nachrichten, einfach überall, ob jemand einen Film gemacht hat oder einen empfiehlt oder darüber nachdenkt, einen Film über ein interessantes Thema zu produzieren. Ich beschäftige mich jeden Tag damit. Und mache mir ständig Notizen und folge Empfehlungen.

 

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der Berlinale?

Meenakshi Shedde: Die Berlinale ist ein fantastisches Festival. Es zeigt nicht nur Spielfilme, sondern auch der Dokumentarfilm wird gefördert. Zum Beispiel vergab die Berlinale 2023 und 2024 den „Goldenen Bären“ jeweils an einen Dokumentarfilm. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass so etwas in Cannes passieren würde [Anmerkung: Shedde war 2023 Jurymitglied der Semaine de la Critique]. Ich schaue mir Feature-, Dokumentar-, Kurz- und Diplomfilme an. Zudem noch Animation und experimentelle Filme, da die Berlinale für all diese Formate Platz hat.
Als Journalistin schrieb ich seit 1984 unter anderem für „Variety“ über unterschiedliche Themenfelder, aber nicht über Film. 1998 bekam ich dann den Auftrag, für die größte englischsprachige Tageszeitung Indiens, „The Times of India“, vom Mumbai International Film Festival zu berichten. Da ich mich nicht als  Filmkritikerin sah, hatte ich sehr großen Respekt vor der Aufgabe. Und ich wollte unbedingt etwas anderes machen als die offiziellen Filmkritiker*innen bisher, die ausschließlich über Bollywood-Filme erzählten. Es liefen so viele fantastische Filme auf dem Festival, die in der Berichterstattung normalerweise keine Berücksichtigung fanden. Ich spürte eine Verantwortung dafür, dies zu ändern. Also berichtete ich über die ansonsten vernachlässigten Filme und gewann damit 1998 überraschend den National Film Award for Best Film Critic. Mit diesem Preis in der Tasche stand für mich fest: Ich muss dafür arbeiten, eine gute Filmkritikerin zu werden. Also fing ich an, qualitativ hochwertige Kritiken zu lesen und von den Texten zu lernen. Und ich wurde Mitglied der FIPRESCI (Fédération Internationale de la Presse Cinématographique).
Bei einem Festivaldinner sagte mir ein Tischnachbar: „Wir bekommen Hunderte Bewerbungen, und da ist so viel Mist dabei. Können Sie uns Filme empfehlen?“ Ich war eine junge Journalistin und dachte: Oh mein Gott! Das ist ein so großes Ding, auch verbunden mit sehr viel Arbeit.
Die Berlinale war damals das erste internationale Filmfestival, das verstanden hatte, dass dieser Job mit einer großen Verantwortung und viel mühevoller Arbeit einher geht. Vor 27 Jahren musste man noch VHS-Kassetten hin- und herschicken, mit den Filmemacher*innen analog korrespondieren und sich natürlich mit dem Festival abstimmen. Dafür bot mir die Berlinale einen jährlich begrenzten Arbeitsvertrag an.
Ende 1998 fing meine Arbeit als Delegierte Südasiens bei der Berlinale für die Sektion Forum an. Damals lernte ich über einen gemeinsamen Freund die wunderbare Dorothee Werner, die seit 1990 als Delegierte für die Ländergruppen Südasien und Afrika tätig war, kennen. Sie ist zu meiner wichtigsten Mentorin geworden. Alles, was ich über Filmfestivals weiß, lernte ich von ihr.

 

Meenakshi Shedde redet schnell, fast schon gehetzt, aber immer engagiert über ihre Themen. Sie lebt für und mit dem Medium Film. Das Toronto International Film Festival listet sie als wichtigste, unabhängige Kuratorin und Beraterin und somit als weltweit prägende Stimme für das südasiatische Kino. Aber Shedde liegt noch etwas ganz anderes am Herzen.

Meenakshi Shedde: Seit 25 Jahren war ich Jurymitglied bei mittlerweile 20 internationalen Filmfestivals. Das sind immer glamouröse Anlässe. Aber ich interessiere mich auch für Entwicklungsthemen. Insbesondere Wasser und Geschlecht beschäftigen mich sehr. Deshalb bin ich Vorstandsmitglied der in Mumbai ansässigen Non-Profit-Organisation Point of View. Als Journalistin ist es für mich nicht ausreichend, eine Filmkritikerin und unabhängige Filmkuratorin beziehungsweise Delegierte zu sein. Mein Leben als Grassroot-Reporterin erlaubt es mir, Plätze ohne Wasser oder Elektrizität kennenzulernen. Die Orte sind sehr inspirierend, und die Arbeit mit den Menschen dort befriedigt mich sehr.

 

An diesem Punkt könnten wir das Gespräch noch lange fortführen. Meenakshi Shedde lacht, winkt dem indischen Filmemacher Arjun Talwar zu. Genauso schnell, wie sie spricht, springt sie jetzt auf, verabschiedet sich. Weg ist sie, und ich kann mit Talwar über seinen wunderbaren Dokumentarfilm Listy z Wilczej (Letters from Wolf Street), der im Panorama der 75sten Berlinale lief, sprechen. Nämlich gleich hier.