Nachdenkliche Höhen

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Arjun Talwar dokumentiert den Alltag vom Balkon. Für die Szene posiert er mit einer Schmalfilmkamera, tatsächlich drehte er digital mit einer „Bolex 16“. Die „sieht nicht wie eine Fernsehkamera aus, sondern wie ein freundliches altes Ding. Das macht sie weniger furchteinflößend“, erklärt Talwar. „Die Leute müssen sich wohlfühlen, wenn man sie filmt.“ | Foto © Arjun Talwar/Uni-Solo Studio

Der indische Filmemacher Arjun Talwar dokumentierte das Leben in seiner Straße: In der Wolfstraße in Warschau zeigt sich der gesellschaftliche Wandel. „Letters from Wolf Street“ lief im Panorama der Berlinale. Ein Gespräch mit dem Regisseur und der Editorin Bigna Tomschin.

„Listy z Wilczej“ („Letters from Wolf Street“) von Arjun Talwar (Regie und Drehbuch) lief in der Sektion Panorama der 75. Berlinale. Der Film ist als dokumentarisches Format angekündigt. Das stimmt auch. Was dem Filmemacher und seinen wichtigen Kooperationspartner*innen gelungen ist, geht aber weit über das Dokumentarische hinaus. „Letters from Wolf Street“ erzählt von polnischen Lebenswelten, vielleicht sogar europäischen Verhältnissen und persönlichen Erfahrungen – gebündelt in einer Warschauer Straße, der Ulica Wilcza. Der aus Delhi/Indien stammende Filmemacher Arjun Talwar und die Schweizer Filmeditorin Bigna Tomschin lebten zusammen in dieser Straße, in einer Wohnung mit Balkon. All das gehört zur Entstehungsgeschichte des schlauen, amüsanten, vielschichtigen Filmkunstwerks.

Bereits die erste Szene (wir sehen die Nachbarin der beiden auf dem gegenüberliegenden Balkon zu verschiedenen Jahreszeiten Decken oder Laken ausschütteln) setzt den Ton der Filmerzählung. Die Off-Stimme von Arjun Talwar bringt die Nachbarin mit seiner eigenen Person in Beziehung. Nur sie beide würden das Ritual des Ausschüttelns auf dem Balkon teilen, hört man ihn in sehr gutem Polnisch sagen. Manchmal würden sie sich auch zuwinken. Über die Straße hinweg. Begegneten sie sich allerdings auf der Straße, gäbe es kein Zeichen des Erkennens von ihrer Seite. Eine der vielen Seltsamkeiten, die ein Fremder in Polen erlebt.

Themen wie Fremdheit und Zugehörigkeit, Nationalismus, Freundschaft, Trauer, Tod und Schuld, Liebe, Stadt- und Landleben werden in einem großen filmischen Bogen berührt. Trotz dieser Vielzahl an Bezügen, kratzt  der Film nicht etwas nur an der Oberfläche, sondern erkundet die Tiefen menschlichen Getrennt- und Zusammenseins. Das gelingt, weil die Protagonist*innen des Films intelligent gewählt, der Ich-Erzähler ein Menschenfreund und das Zusammenspiel zwischen Bildern, Schnitt und Musik kongenial gelöst ist. Zudem befördert der von Arjun Talwar und Bigna Tomschin gemeinsam erschaffene Off-Text „Letters from Wolf Street“ in stets nachdenkliche Höhen. Mit Esprit.

Arjun Talwar kam 2010 mit seinem Freund Aditya Mandayam aus Indien nach Polen, um an der weltbekannten Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater „Leon Schiller“ in Lodz Kamera zu studieren. Bewerben konnten sie sich auf Englisch. Sie mussten aber von Anfang an Polnisch lernen. Das war eine der vielen Studienbedingungen der Schule. Talwar schloss das Studium 2015 ab und wurde Filmemacher. Sein Freund schaffte diesen Schritt nicht. Er blieb in Polen, fand aber keinen Platz in der Fremde. „Letters from Wolf Street“ ist auch ein Abschiedsbrief, den Arjun Talwar direkt an den Freund richtet.

Ich führte das Interview mit Arjun Talwar (Regie, Kamera) zusammen mit seiner Partnerin Bigna Tomschin (Schnitt). Das entspricht der engen Kooperation der Gewerke, aber auch dem Zusammenspiel der beiden (die im Folgenden wie die Protagonist*innen des Films nur noch mit Vornamen genannt werden): Von der Filmidee über die Realisierung bis hin zu diesem Interview sind beide im ständigen Gespräch miteinander.

 

Wie entstand die Idee zu „Letters from Wolf Street“? Arjun hatte viele polnische Filme gesehen, die aber nie das Polen zeigten, das er erlebte. 2020 lebte er zusammen mit seiner Schweizer Partnerin Bigna in Warschau. Beide hatten schon einen Dokumentarfilm erfolgreich zusammen realisiert. So entstand die Idee, einen Film über ihr direktes Umfeld, die Straße, in der sie lebten, zu drehen. Als Fremder sah Arjun die teilweise skurrilen Alltäglichkeiten, die den Einheimischen gar nicht mehr auffielen. Es sollte gleichzeitig ein Porträt Polens und ein filmisches Selbstporträt werden …

Ende 2020 lief Arjun die Straße immer wieder auf und ab und hielt Ausschau nach Menschen, die interessant für die noch vage Filmidee sein könnten: „Der Postbote Piotr war uns von Anfang an aufgefallen. Ein außergewöhnlicher Mensch, der mit allen Leuten sprach, was uns eher unüblich erschien. in der von Zurückhaltung geprägten Atmosphäre der Straße. Er kannte die Bewohner*innen namentlich und half mir zum Beispiel, den Tanzlehrer kennenzulernen.“

Piotr weiß, dass die Ulica Wilcza auf einem Kilometer Länge und mit 15 Metern Breite (ja, das messen Piotr und Arjun aus!) alles bietet, was man zum Leben braucht: eine Polizeistation, ein Beerdigungsinstitut, einen Uhrenturm, eine Tanzschule, zwei Gemüsekioske, eine Fleischerei, einen Schuhmacher, eine Galerie, zwei Kirchen, neun Frisiersalons, einen Club und vier Restaurants, die asiatisches Essen zubereiten. Die mit diesen Orten verbundenen Menschen, tauchen in „Letters from Wolf Street“ in unterschiedlichen Situationen auf.

„Mein syrischer Freunde Feras und meine chinesische Studienkollegin Mo sollten auch in dem Film vorkommen. Und Oskar, den ich zufällig bei der Pride Parade auf der Straße kennenlernte. Er wirkte verloren. Oskar hatte so eine Parade noch nie gesehen. Im Film repräsentiert er das ländliche Polen.“ All diese Leute sprach Arjun ohne Kamera an. Er erklärte ihnen die Filmidee. „Ich mag es nicht, die Kamera einfach auf Leute zu richten.“

 

Apropos Kamera: Arjun benutzte für die Aufnahmen eine geliehene „Digital Bolex D16 Cinema Camera“ mit einem C-Mount. Das erlaubte ihm, mit alten Objektiven zu arbeiten. „Die Bolex sieht nicht wie eine Fernsehkamera aus, sondern wie eine freundliches altes Ding. Das macht sie weniger furchteinflößend. Und sie war nicht teuer. Immerhin drehte ich einen Low-Budget-Film. Zudem lädt die Kamera zu Gesprächen ein, weil sie eben so ungewöhnlich aussieht. Die Leute müssen sich wohlfühlen, wenn man sie filmt.“ Arjun weiß, wovon er spricht. Er filmt sich ja auch selbst mit der auf dem Stativ stehenden Kamera. Immerhin ist er der wichtigste Protagonist, der Ich-Erzähler des Films.

Mit der Bolex entstanden wunderschöne Bilder, die die komplexe Erzählung von Begegnung zu Begegnung trägt. Immer wieder sehen und hören wir die Straße und ihre Bewohner*innen zu verschiedenen Jahreszeiten. Die Geräusche der Straße wechseln oft.

 

Und die Musik? „Im Mai 2024 kam unser Freund, der professionelle Musiker Aleksander Makowski zum Projekt. Er ist kein ausgewiesener Filmkomponist, aber er kann jedes nur erdenkliche Instrument spielen. Es ist sehr viel Musik im Film, das hat gedauert. Bigna arbeitet während des Schnittprozesses mit Musik. Tango, polnische Lieder, Jazz, verschiedene kleine Stücke. Es sollte irgendetwas zwischen Tango und Jazz sein. Und Aleksander schrieb fantastische Stücke. Er hat dem Film eine musikalische Stimme hinzugefügt. Aleksander war auch einer der ersten Polen, dem wir den Rohschnitt zeigten. Seine Reaktion war natürlich sehr wichtig für uns. Es war schwer, vorher zu sagen, was polnische Menschen über den Film denken würden.“

Außer der Musik gibt es natürlich auch noch den Ton. Mo, die erwähnte ehemalige Studienkollegin von Arjun, wird sich darum kümmern. Gleichzeitig ist sie eine witzige Protagonistin des Films. So wie alle Menschen und Szenen im Film fast immer auch von der Komik des Alltags erzählen. Selbst eine Szene mit Arjun und polnisch-nationalistischen Fahnenschwingern ist eher lustig als bedrohlich. Das ist dem Blick des Filmemachers auf seine polnische Umgebung geschuldet. Nicht einmal Hass und eine brutal, rassistische Attacke (wir sehen ihn im Krankenhaus) lassen Arjun vom Projekt Polen abrücken. Anders als seinen Freund Aditya, den das Fremdsein in Polen ums Leben gebracht hat. Eine Therapeutin fragt Arjun, ob er die Zeichen der Verzweiflung des Freundes übersehen habe?

 

Wie kommen die vielen Schichten und Aspekte, die hier etwas lose von mir genannt wurden, nun aber zu einem zu Recht für die Berlinale ausgewählten Film zusammen? It’s the editing, stupid. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Arjun weiß, wie wichtig der Schnitt für den Film war: „Ganz oft wird der Schnitt in Berichten über den Film nicht erwähnt, obwohl er so viel des Films ausmacht. Ohne das Talent von Bigna wäre der Film so nicht möglich gewesen.“

Auch der Voice-Over-Text wurde beim Schnitt von Bigna und Arjun gemeinsam verfasst. „Da wir uns so gut kennen, konnten wir währen des ganzen Prozesses immer über unsere Ideen sprechen.“

„Beim Schnitt war es dann so, dass sobald Bigna an einer Szene arbeitete – vielleicht sogar schon einen Off-Text auf Grundlage eines vorherigen Gesprächs in die Untertitel schrieb –, ich mir das anschaute. Manchmal veränderte ich den Text noch etwas, oder ich ließ ihn so, wie er war. Manchmal inspirierte mich das Gelesen dazu, etwas komplett anderes zu schreiben. Es war ein ständiges Hin und Her. Es war nicht so, dass irgendetwas zuerst da war (Bild oder Text), alles wuchs organisch zusammen. Aber natürlich war alles schon gefilmt, bevor der Voice-Over-Text geschrieben wurde.“

Das schlussendliche Schneiden des Films dauerte vier bis fünf Monate. Zu dieser Zeit gab es nur noch ganz wenige Szenen, die nachgefilmt werden mussten. Bigna: „Das konzeptuelle Nachdenken über den Schnitt passierte während der Dreharbeiten. Meine Arbeit als Editorin beginnt damit, dass ich mit dem Regisseur zusammensitze und über seine Vorstellungen spreche. Was sind die Emotionen, die gezeigt werden sollen? Was genau ist die Szene? Warum ist sie wichtig? Was denkst du? Und das schreiben wir dann  auf. Und erst wenn wir das alles verstanden haben, fängt der eigentliche Schnitt an. Weil man erst dann die Emotionen herausarbeiten kann, über die man vorher gesprochen hat. Arjun und ich trafen uns morgens, sprachen über die Szenen, sahen sie uns vielleicht im Rohschnitt an. Und dann brauchte ich ein bisschen Zeit alleine, um Dinge auszuprobieren. Wenn Arjun eine starke Idee hatte, zum Beispiel für einen Übergang zwischen zwei Szenen, mischte er sich selbstverständlich ein.“

Beim Filmen achtete er frühzeitig darauf, dass es von jedem Protagonisten genug Szenen gab, so dass die einzelnen Geschichten einen Anfang und ein Ende finden konnten. Arjun: „Für den Schnitt und die Filmarbeiten war es eine gute Situation, dem Drehort so nahe zu sein. Ich hatte am Anfang schon auf dem Friedhof gefilmt. Dann dachten wir, dass die Szene dort nicht gut genug war. Und so konnte ich noch einmal dorthin gehen und filmen.“ Oder wenn Bigna beim Schnitt merkte, dass etwas fehlte, konnte sie Arjun losschicken, um unkompliziert das fehlende Material zu erstellen. „Es gab ganz viele Gespräche, die wir darüber führten, was wir noch brauchten, um genau diese Geschichte zu erzählen. So haben wir auch an allen Emotionen im Film gearbeitet, um exakt die richtigen Bilder dafür zu finden.“

Im Dezember 2020 fingen die Dreharbeiten zu „Letters from Wolf Street“ an. Eine Finanzierung war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht in Sicht. 2022 erregte der Pitch des Films beim Internationalen Dokfest in Amsterdam die Aufmerksamkeit der Dokumentarfilm-Redaktion von ZDF/Arte. Das „rettete das Projekt finanziell“, sagt Bigna. Und im Februar 2025 lief der Film auf der Berlinale. Das ist eine Erfolgsstory, die viel über die Kraft der Psyche, Belastungen auszuhalten, erzählt. Und über das Glück, Menschen zu treffen, die gemeinsam einen großartigen Film schaffen können, der jetzt hoffentlich ein breites Publikum finden wird.