Weltkultur der langen Arbeitszeiten

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Auf dem Podium (von links): Ita Zbroniec-Zajt, Daniel Locicero, Agnieszka Kokowska (Übersetzerin), Maciej Maciejewski, Piotr Sliskowski, Erika Addis, Piotr Niemyjski und die Moderatorin Genevieve Trainor. | Foto © Witek Szydlowski/Camerimage

Um Arbeitsicherheit und Überstunden ging es bei einem Panel auf dem Camerimage. Die polnische Filmgewerkschaft ZZF und Crew United hatten eingeladen. Filmschaffende berichteten über die Situation in Ländern rund um die Welt.

Zur Einstimmung ein paar Zahlen: 176 Filmschaffende wurden zwischen 2000 und 2020 bei Arbeitsunfällen schwer verletzt oder getötet (wobei die Liste der englischsprachigen Wikipedia nicht mal vollständig ist).  Die Ursachen liegen anscheinend auch im System: In Großbritannien hatte die Gewerkschaft Bectu vor fünf Jahren nach Arbeitszeiten und Produktivität in der Branche gefragt. 9 von 10 befragten Crew-Mitgliedern gaben an, sich wegen Übermüdung bei der Arbeit oder auf dem Arbeitsweg unsicher gefühlt zu haben. Für 28 Prozent der Befragten meinten, dass schwere Unfälle durch extreme Übermüdung verursacht worden seien. In Polen fragte die junge Filmgewerkschaft Zwi?zek Zawodowy Filmowców (ZZF) [auf Polnisch] nach der Arbeitssicherheit. Überlange Drehzeiten gehörten auch hier zu den mistgenannten Gründen für Unfälle. 

„Who needs sleep?“ [hier auf Vimeo] hatte der verstorbene DoP und Filmemacher Haxell Wexler schon 2006 gefragt. Seither hat sich offenbar wenig verändert: Die „Long Hours Culture“ ist ein globales Problem. Mindestens 12 Stunden am Tag, bis zu 60 Stunden die Woche wird in fast allen Ländern gedreht.

Zu Bestandsaufnahme und Ausblick luden ZZF und Crew United am vorigen Donnerstag beim Camerimage im polnischen Torun. Moderiert von Genevieve Trainor, berichteten auf dem Podium Filmschaffende aus eigener Erfahrung über die Arbeitsbedingungen mehreren Ländern rund um die Welt. Vorausgeschickt wurden die obigen Untersuchungen und Statistiken, „die Filmemacher*innen kennen sollten.“

Per Video war Hikmat El-Hammouri zugeschaltet, Gewerkschaftssekretär bei Verdi. In einer Art Keynote schilderte er die Lage in Deutschland  und lobte den Tarifvertrag. Nach jahrelangem Ringen seien endlich 12 Stunden als maximale Arbeitszeit am Tag festgeschrieben. Und immerhin zwei Drittel der Produktionen wendeten den Tarifvertrag an, sagte El-Hammouri.

Nun, da drückt sich die Produzentenallianz, die bei den Tarifverhandlungen auf der anderen Seite des Tisches sitzt, vorsichtiger aus. Auch El-Hammouri gab indirekt zu erkennen, dass seine Schilderung eher ein Ideal beschrieb: Es gebe kaum Betriebsräte und zu wenig Kontrolle der tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Und so schloss er auch mit einem Appell: Verdi brauche die Solidarität aller Filmschaffenden.

Dazu ein kurzer Querverweis: Vor sieben Jahren forderte eine Online-Petition, dass öffentlich-rechtliche Sender und Filmförderungen auf Tariftreue verpflichtet werden sollten. Gerade mal 1.712 Unterschriften wurden erreicht. Etwa zehnmal so viele Filmschaffende sind in den Berufsverbänden organisiert. 

Das Problem der Arbeitszeiten war allen auf dem Podium bekannt. Und die gefährden immens die Sicherheit beim beim Dreh, meinte Daniel Locicero  („Dunkirk“, „Mission: Impossible – Fallout“), einer der meistbeschäftigten Kampfchoreografen und Actiondarsteller in Hollywood. In seinen Fallbeispielen erwähnte er natürlich auch den Western „Rust“, bei dem die DoP Halyna Hutchins, zu Tode kam. Die Situation in Polen schilderte Stuntkoordinator Maciej Maciejewski („Der Pianist“), der  sein Gewerk im Vorstand der ZZF vertritt.

Für den internationalen Vergleich war das Podium gut besetzt. Piotr Sliskowski, Präsident der Polish Society of Cinematographers (PSC), arbeitet in Polen und Großbritannien. In Schweden und Polen lebt Ita Zbroniec-Zajt und kennt als DoP die Unterschiede zwischen beiden Ländern. In Schweden dauert der Drehtag 9 Stunden – einschließlich Vor- und Nachbereitung. In Polen gibt es keine Regeln, aber gesunden Menschenverstand, meinte Zbroniec-Zajt. „Aber bei den Crews selbst fehlt es da noch an Bewusstsein“. Die DoP berichtet von einem Dreh mit übermüdeter Crew: In den Nächten zwischen den Drehtagen hatten die als Zweitjob an Werbefilmen gearbeitet.

Dass Crews in Polen nicht selten Doppelschichten schieben, weiß auch Tomek Morawski, zugeschaltet per Video, der im Vorstand der Polish Producers Alliance (KIPA) [auf Englisch] sitzt. Als Produzent hat er mehr als 70 Werbefilme und 50 Musikvideos (etwa für Radiohead) gedreht, und war unter anderem Produktionsleiter bei „Mr. Jones“ und Herstellungsleiter bei „EO“, der dieses Jahr den „Preis der Jury“ in Cannes gewann. Auch für ihn beschränkt sich das Thema Sicherheit nicht nur auf Stunts: „Wir schauen zu wenig auf die Produktionscrew, die meist Überstunden macht. Und selbst in den Pausen stellen wir ihnen ja noch Fragen.“ Da könne ja keiner richtig abschalten. 

Ähnlich beschrieb es auch Piotr Niemyjski, der als DoP in Polen und Japan dreht (sein jüngster Film, „The Perfect Number“ lief im Wettbewerb des diesjährigen Camerimage). Seine Situationsbeschreibung ist auch hierzulande bekannt:„Die Jungen wollen nicht mehr zum Film – die Arbeit ist nicht attraktiv für das wenig Geld.“ 

Es gebe oft zu wenig Zeit zur Vorbereitung – die Sicherheit komme zu kurz. „Normalerweise schaffen wir’s, aber das ist dünnes Eis. Und das soll nicht sein.“ Dazu seien auch die Anforderungen an die Produktionen gewachsen, merkte Niemyjski an: Besonders Produktionen, die bei den Streamern landen wollen (also ziemlich viele), sollen visuell attraktiv sein. „Also schreiben die Autor*innen möglichst viele Actionszenen ins Drehbuch.“ 

Wie läuft’s in Japan? Da schmunzelte der DoP: „Es gibt Gerüchte über Regelungen. Aber die sind nicht bestätigt.“

In Australien hingegen gelten hohe Sicherheitsstandards, berichtete Erika Addis, Präsidentin der Australian Cinematographers Society (ACS). Dort konzentriere man sich stärker auf Themen wie Diskriminierung und Mobbing – also „was dort um den Dreh herum passiert “ und welche Auswirkungen der Produktionsdruck aufs Arbeitsklima hat. Aber auch auf die Sicherheit: Die Branche in Australien habe erkannt, dass Schlafmangel das größte Risiko ist. Daraufhin sei eine Produktion konsequent mir Acht-Stunden-Drehs gefahren worden, berichtet Addis: Das Ergebnis: eine höhere Produktivität und ein gutes Klima am Set.

Wie kann es weitergehen? Denn auch darum sollte es bei der Diskussion gehen. Generell einig war man sich, dass mehr Daten gesammelt werden müssen. Die Gewerkschaft ZZF, die Filmschaffende aller Berufe vertritt und ein Jahr nach ihrer Gründung schon mehr als 1100 Mitglieder hat, startet mit Aktionen im Bereich Sicherheit: Unfälle und Situationen mit Unfallgefahr werden registriert und analysiert, um sie in Zukunft besser vermeiden zu können. Zusätzlich starte die Stunt-Sektion mit Bildungsmassnahmen, kündigte Maciej Maciejewski als Sektionsleiter in der ZZF an. 

Als eine weitere Initiative stellte Irena Gruca-Rozbicka den „Fair Film Award“ vor, den die Berufsverbände in Deutschland 2010 in Leben gerufen hatten, und seit dem zweiten Jahr von Crew United betreut und weiterentwickelt wird. Bei dem Preis bewerten die Filmschaffenden selbst die Arbeitsbedingungen bei den Projekten, an denen sie mitgewirkt haben. Arbeitszeiten und Sicherheitsstandards gehören zu den Kriterien. Ausgezeichnet wird (auch das ist selten) die Produktionsabteilung.

Die Filmgewerkschaft ZZF will den Preis auch für Polen übernehmen und in Zusammenarbeit mit Crew United veranstalten. Es wird natürlich an den lokalen System angepasst und mit allen Organisationen diskutiert, betonte Gruca-Rozbicka, bei Crew United die europäische Entwicklung der Plattform verantwortlich. „Wir wollen die Fairness feiern, als einen positiven Gedanken der uns weltweit verbindet. In Polen und in vielen anderen Ländern brauchen wir nicht nur Regulationen, aber auch Vorbilder.”