Chancen für die Filmkultur

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Festivals und Kinos sind natürliche Verbündete, meinen Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz. Es brauche Strukturen, damit beide enger zusammenarbeiten können. | Foto © Kenneth Hujer

Die Kinos suchen ihr Publikum, die Festivals hingegen können nicht klagen. Selbst in Zeiten von Pandemie und Lockdown sind neue hinzugekommen. Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz untersuchten in einem Sammelband*, wie die Festivals die Krisen meisterten – und welche Chancen und Perspektiven sie für die Filmkunst zeigen.

[*Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz (Hg.): „Filmfestivals – Krisen, Chancen, Perspektiven“. Edition Text + Kritik, 2022. Mehr zum Thema gibt’s auf der Website zum Buch, die weiter ausgebaut werden soll.]

Über das beeindruckende Wachstum, den anhaltenden Wandel der Festivallandschaft und welche Funktionen Filmfestivals heute übernehmen, darüber hatten wir bereits vor drei Jahren gesprochen. Dann kam Corona. Die Kinos mussten schließen, die Festivals standen zunächst vor ähnlichen Problemen, fanden dann schnell alternative Wege. Aber ist ein Festival ohne Kino überhaupt vorstellbar?
Tanja C. Krainhöfer:
Zweifelsohne ist das Kino ein natürliches Habitat eines Filmfestivals, aber wenn kein Kino zur Verfügung steht, bedienen sich Festivals anderer Orte, um stattfinden zu können und so ihre Anliegen oder ihren Zweck zu erfüllen. Dies wurde während der Pandemie mehr als deutlich: kein Hinterhof war zu klein, kein Parkdeck zu hoch, keine Industriehalle zu abwegig und selbst die Herausforderungen, virtuelle Räume zu beziehen, wurden selten gescheut. Was jedoch wesentlicher ist, ist die Haltung, die der Festivalsektor in der Pandemie bewiesen hat. Es ging darum Zugänge zur Filmkultur zu schaffen. Die damit verbundenen Bestrebungen haben sich bis heute noch weiter ausdifferenziert und mit Sicherheit werden sich noch weitere Optionen erschließen – onsite wie online.
Joachim Kurz: Andererseits muss man schon feststellen, dass ein Kinoraum für ein Festival der Idealzustand ist und nach Möglichkeit – sofern vorhanden – genutzt werden sollte. Weil es nur im Kino optimale Bedingungen zur Projektion eines Films gibt. Es wäre definitiv sehr wünschenswert, dass Filmfestivals in ländlichen Räumen ohne Kino die Gemeinden so sehr begeistern, dass bei ihnen die Idee wächst, dass ein Kino am Ort vielleicht doch keine so schlechte Idee wäre – und zwar nicht nur als Kultur-, sondern auch als Begegnungsort.

Die Festivals haben unmittelbar auf den Lockdown vom 22. März 2020 reagiert. Könnten Sie die Reaktionen dieser Phase noch einmal rekonstruieren?
Tanja C. Krainhöfer: Ja, die erste Ankündigung kam wenige Tage später aus Frankfurt: „Das Lichter Filmfest verlagert einen Teil seines Programms auf eine Online-Plattform. Um die Kultur dahin zu bringen, wo wir gerade die meiste Zeit verbringen: In die eigenen vier Wände.“ Zur gleichen Zeit etwa richteten die Kurzfilmtage Oberhausen im Vorfeld zu ihrer Online-Edition einen Blog ein, um öffentlich das „Nachdenken über Gesellschaft“ zu ermöglichen. Es folgte förmlich ein virtuelles Fest deutscher Filmfestivals unterschiedlichster Organisationsgrößen und Profile, wie das Filmkunstfest MV und die Kurzfilmtage Thalmässing, das Dokfest München und das FiSH Filmfestival in Rostock, das Trickfilm-Festival Stuttgart und das Japanische Filmfest Nippon Connection, die sich in kürzester Zeit neu erfanden. Die kollektive Filmfestivalgemeinschaft trieb in wenigen Wochen Entwicklungen von mehreren Jahren voran, die nicht nur auf dem Festivalsektor deutliche Spuren hinterließen.
Joachim Kurz: Auf der anderen Seite gab es Festivals, die manchmal einfach nicht mehr die Zeit oder die Ressourcen hatten, um schnell genug umzustellen: Die Diagonale etwa in Graz wurde vom ersten Lockdown kurz vor dem Start erwischt und hatte keine Zeit mehr für Anpassungen und Umstellungen. Und es sei auch daran erinnert, dass beispielsweise das Filmfest München 2020 komplett abgesagt wurde. Das Filmfestival in Cannes, das im ersten Jahr der Pandemie ausschließlich für Unternehmen und Filmschaffende online in Form eines digitalen Marktes stattfand. Gerade im ersten Jahr der Pandemie lassen sich vor allem drei Reaktionen ausmachen: Absagen, zeitliche Verschiebungen oder digitale Editionen, die teilweise auch in Kombination mit der physischen Ausgabe stattfanden. Und es gibt ein paar ganz wenige Festivals, die während der Pandemie dennoch physisch stattfinden konnten – das Fünf Seen Filmfestival etwa, das von seiner zeitlichen Verortung im Sommer profitierte.

Die Festivals hatten offenbar wenig Berührungsängste, ihr Programm in den virtuellen Raum zu verlagern. Bei den Kinobetreibern gilt dies noch immer für viele als Tabubruch, während es beispielsweise in Großbritannien längst üblich ist, auch Home Cinema anzubieten, wie die britische Arthouse-Kinokette „Curzon“ zeigt. Wie erklärt sich das?
Joachim Kurz: Es gibt eine Reihe von Festivals, die Streamingangebote schon vor der Pandemie erprobt und genutzt haben zunächst vor allem als Industrieformat, dann auch für Festivalbesucher. Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sind da ebenso ein Beispiel wie das Dok.Fest München oder das Internationale Trickfilm-Festival Stuttgart (ITFS) oder auch DOK Leipzig mit seinem Engagement auf der Plattform DAfilms.com. Was dabei auffällt: Häufig handelt es sich um Festivals, die auf Formen und Gattungen spezialisiert sind, die im Kino überwiegend marginalisiert sind: Kurzfilme sowie künstlerische Experimental- und Animationsfilme und teilweise auch Dokumentarfilme. Hier liegt natürlich ein Vorteil darin, dass die Rechteinhaber*innen in diesen Bereichen längst verstanden haben, welche Rolle Festivals bei der Filmauswertung spielen.
Bei Spielfilmen ist das Bild komplexer und ambivalenter: Filme, die mit großen Erwartungen an eine breite Publikumsresonanz verknüpft sind oder die bei den großen Festivals wie Cannes oder der Berlinale gefeiert wurden, bekommt man selten bis nie für Online-Ausgaben. Dass die Weltvertriebe auch bei solchen Titeln zu Beginn der Pandemie aufgeschlossener waren, erklärt sich aus der völligen Verunsicherung der Anfangszeit der Pandemie, als beispielsweise Cannes als zentraler Marktplatz nahezu komplett ausfiel.
Filme, die auf ein kleineres, genau umrissenes Publikum abzielen, sich beispielsweise an die LGBTQIA+-Community richten, sind eher für eine parallele Online-Auswertung offen. Denn bei rund 2.000 Filmen, die jedes Jahr allein in Europa produziert werden, gibt es eine ganze Reihe von Werken, die andernfalls ihre Sichtbarkeit gänzlich einbüßen.
Was man aber auch feststellen muss: Hybride und duale Angebote sind zwar ein spannendes Modell, aber letzten Endes muss jedes Festivals aufgrund seines individuellen Profils entscheiden, ob parallel zur eigentlichen Präsenzveranstaltung eine kostenintensive Online-Edition überhaupt sinnvoll ist. Ein Festival, das auf den Diskurs abzielt, der Community einen Raum geben will oder überwiegend lokal verankert ist, wird sich möglicherweise besser auf die Begegnung und das Gemeinschaftserlebnis fokussieren und andere Instrumente nutzen.

Im Jahr 2021 fanden von 321 Festivals 259 auch wieder physisch statt. Kommt es also doch auf die echte Begegnung an?
Joachim Kurz: Natürlich sind die Begegnung und der Austausch ein zentraler Wesenskern eines Filmfestivals. Aber nicht allein durch Corona haben sich die Formen der Begegnung verändert, sie sind vielgestaltiger und hybrider geworden. Wir alle kennen das aus dem Alltag: Wir treffen uns mit Freunden, chatten mit entfernteren Bekannten, die wir womöglich sogar nur über das Internet kennen, finden Menschen, die ähnlich ticken und sich für ähnliche Dinge interessieren wie wir. Das ist Segen und Fluch zugleich, weil wir auch merken, dass nichts über die persönliche Begegnung geht. Und gerade nach der Phase, die hinter uns liegt, gibt es einen Hunger nach realen Begegnungen, echtem Austausch und persönlichen Kontakt. Das ist mit Sicherheit die große Stärke der Festivals (und auch der Kinos) dies zu ermöglichen.
Tanja C. Krainhöfer: Während der Pandemie haben die Festivals einen beachtlichen Gestaltungswillen und Umsetzungsfähigkeit bewiesen, auch Konzepte für digitale Begegnungsformate zu entwickeln. Dabei wurde einiges entwickelt, das nicht nur im Bereich Industry-Veranstaltungen durchaus zukunftsfähig ist. Aber vieles, was den Reiz und die Qualität eines Festivals ausmacht, lässt sich bisher noch nicht digital nachbilden. Doch wenn ich mich beispielsweise an Formate wie den großen 20-Uhr-Talk des Dokfest München erinnere, ein Konzept basierend auf Zoom-Talks mit den Film-Teams, kombiniert mit Fragen und Statements des Publikums via Chat, wurde es auf einmal möglich, dass so die ganze Nation miteinander diskutierte. Allein wenn man bedenkt, wo sich die jungen Generationen heute aufhalten, werden solche Konzepte früher oder später zum Alltag gehören. Hier stehen wir schlichtweg noch am Anfang.
Wichtig war dabei der Schritt in Richtung Demokratisierung der Zugänge. Es ist heute nicht mehr vertretbar, gesellschaftliche Gruppen aus Gründen mangelnder Mobilität oder Ressourcen wie Zeit oder Finanzmittel von Räumen der eigenen Repräsentanz, des Diskurses, der kulturellen Unterhaltung und Bildung auszuschließen. Das bedeutet, wenn es deutschlandweit drei Möglichkeiten pro Jahr gibt, zeitgenössisches iranisches Kino zu sehen, dann kann es doch nicht sein, dass mir als Iranerin in Lübeck dieser Zugang verwehrt ist, weil das Iranische Filmfest nun mal gerade in München stattfindet.

Ihr Buch entstand unter dem Eindruck der Pandemie. Mittlerweile haben sich weitere Krisen eingestellt – Klima-, Energie- und Wirtschaftskrise sowie globale Konflikte … Wären die Antworten heute noch dieselben?
Joachim Kurz: Die Beiträge schildern den Stand der Entwicklungen von 2020 bis 2022. Gleichzeitig war es unser aller Ziel, auch der Autor*innen und Gesprächspartner*innen, nicht nur die Lösungsansätze aus der Zeit der Pandemie nachzuzeichnen, sondern vielmehr die grundlegende Wandlungsfähigkeit wie kreative Lösungsvielfalt der Filmfestivals darzustellen und ihr Bestreben, den Blick nach vorne zu richten. Dabei haben uns auch die Fragen zu etlichen weiteren Herausforderungen, zum Beispiel demographischen Wandel oder soziale Gerechtigkeit geleitet und was es bedarf, um als Festival diesen Aufgaben gewachsen zu sein. Und mehr noch: Was kann vielleicht die gesamte Film- und Kinobranche von den Strategien lernen, die die Festivals nicht erst seit Corona entwickelt haben? Das hat uns interessiert und wir konnten erfreulich viel durch die Gespräche mit den Macher*innen lernen.
Tanja C. Krainhöfer: Allein der Blick auf den Filmfestivalsektor in den vergangenen 20 Jahren verrät, dass sich dieser als Gesamtheit nicht nur gegen zahlreiche Widerstände behauptet hat (Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Kinosterben, Digitalisierung und so weiter), sondern von den Entwicklungen der klassischen Medien emanzipiert und sich förmlich selbst ermächtigt hat, Filmkultur zu feiern. Dabei ist der gesamte Sektor ständig im Wandel, ein Experimentierfeld und Labor, das die Filmwirtschaft leider noch viel zu wenig für sich zu nutzen versteht. Dabei sprengen sie zunehmend ihre originären Konzepte, um offene Fragen zu beantworten. Während mancher beklagt, dass Dokumentarfilme zu selten zu sehen sind, launcht das Dokfest München ein eigenes VoD-Angebot. Während man über den kulturellen Mangel im ländlichen Raum debattiert, bringt das Filmfest Max Ophüls Preis sein Programm und die Macher parallel zum Filmfestival in die Fläche. Während viele sagen, man kann das Metaverse nicht Zuckerberg überlassen, experimentieren das ITFS, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und sogar der Goldene Spatz mit einem eigenen VR-Hub.
Ungeachtet dieser individuellen Initiativen konnten wir aber auch drei übergeordnete Trends ausmachen, die den Filmfestivalsektor insgesamt als Trendsetter ausweisen: Digitalisierung, Dezentralisierung, Nutzung alternativer Orte – und hier sind die Entwicklungen auch erst der Anfang.

Laut der Einleitung Ihres Buchs gibt es 70 Festivals allein in Berlin. Das reicht allerdings von der Berlinale bis zu Veranstaltungen einzelner Kinos, die eher einer größeren Filmreihe gleichen. Lassen sich da überhaupt allgemeingültig Aussagen machen? Und: Sind die Interessen und Anforderungen dieselben?
Tanja C. Krainhöfer: Selbstverständlich entspricht die Berlinale nicht achtung berlin, obwohl beide exzeptionelle filmische Positionen des aktuellen Filmschaffens präsentieren. Und das Jüdische Filmfestival Berlin | Potsdam sowie das Human Rights Film Festival stellen kein Community Filmfestival dar, sondern bilden vielmehr Plattformen für gesellschaftspolitische Diskurse und das Interfilm – Internationales Kurzfilmfestival Berlin wie Fracto Experimental Film Encounter Filmfestival verleihen als letzte Bastionen einer ansonsten weitgehend verdrängten Filmkultur Sichtbarkeit, aber sprechen doch ganz unterschiedliche Zielgruppen an. Alle anders, keines gleich und doch eint sie das, was Georg Seeßlen im Vorwort den utopischen Kern nennt. Ein Festival hat einen Grund, ein Anliegen, es hat das Ziel, etwas zu bewegen, zumeist die Welt zu bewegen und zu verändern. Deshalb sieht jedes Filmfestival anders aus, hat sein eigenes Design, das Inhalt und Kontextualisierung transportiert. Hat seine individuellen Interessen und Anforderungen.
Dies hat sich während der Pandemie sehr deutlich dargestellt. Es gab nicht die One-strategy-fits-all-Lösung. Aber was sie wesentlich von der Mehrheit der Kinos unterschieden hat, sie waren getrieben von einem Anliegen, das stärker wog als die wirtschaftlichen Abwägungen.

Drei Jahre später sind die Kinos wieder offen, aber sie kämpfen. Es wird gar ein großes Kinosterben vorausgesagt. Die Festivals hingegen zeigen sich optimistisch – obwohl die Zahlen auch dort noch zurückliegen. Was läuft bei ihnen anders?
Tanja C. Krainhöfer: Es ist mit Sicherheit zu früh, um hier fundierte Aussagen zu treffen. Fakt ist, dass das Fünf Seen Filmfest im vergangenen August die zweitbesten Besucherzahlen seit Bestehen feiern konnte und dass jüngst das Filmfestival Max Ophüls Preis mit seiner Gesamtauslastung bei 72,8 Prozent fast wieder auf dem Vorpandemie-Niveau lag. Kleinere Festivals im Herbst haben sich hingegen viel schwerer getan. Für das Kino liegen die Zahlen des ersten Quartals noch nicht vor, aber was mir hier in München begegnet, sind ausverkaufte Kinosäle nicht nur bei „Avatar“, sondern ebenso bei „Triangle of Sadness“, „She Said“, „The Banshees of Inisherin“ wie bei „Die Frau im Nebel“ – und das selbst am Sonntagnachmittag um 16 Uhr.
Joachim Kurz:  Zunächst einmal ist es etwas grundsätzlich anderes, ein zeitlich begrenztes Festival von vielleicht 14 Tagen zu organisieren oder einen Kinobetrieb Tag für Tag zu gestalten. Hinzu kommen andere Trends wie die generelle Eventisierung und die Verlagerung der Zuschauerinteressen auf wenige Leuchtturmveranstaltungen. Da sind Festivals prinzipiell im Vorteil. Zudem sehen wir auch in anderen Kulturbereichen, dass große Veranstaltungen besser besucht sind, als vermeintlich kleine.
Hinzu kommt noch etwas anderes, das gerne übersehen wird: Die Kinos sind direkt abhängig von der Attraktivität der Filme, die einen offiziellen Kinostart erhalten sowie von der Strategie der Verleiher. Festivals hingegen können aus einen viel größeren Pool an Filmen auswählen, gezielt kuratieren und damit die Bedürfnisse des Publikums genau bedienen können. Dies hat auch Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter der Berlinale, vor Kurzem in einem Interview in der „Berliner Zeitung“ hervorgehoben: „Filmfestivals sind heutzutage wichtiger für die Kinolandschaft als je zuvor, weil sie unabhängig vom Markt sind. In der Entscheidung, welche Filme wir zeigen, sind wir komplett frei.“
Tanja C. Krainhöfer: Dabei ist ein Festival nicht nur programmatisch flexibler, sondern auch räumlich. Nicht allein wegen der wegbrechenden Kinos und anderer Spielorte, wie das Multiplex im Sony Center oder der Friedrichstadt-Palast, dehnt sich die Berlinale nicht nur in die Kieze der Stadt aus, sondern zieht nun auch ins Umland wie in diesem Jahr nach Potsdam.

Vieles, was heute Festivals ausmacht, haben früher einmal gute Programmkinos geleistet. Das heißt doch: Ein Interesse nach solchen Angeboten wäre da?
Joachim Kurz: Das Interesse ist auf jeden Fall da, das sehen wir allein durch das anhaltende Wachstum der Filmfestivallandschaft, aber auch anderer alternativer Kinoveranstaltungen. Allerdings müssen wir den Blick bei den Kinos ein wenig weiten, denn die Programmkinos haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend von dem wegbewegt, was sie früher einmal waren. Klar spielen Programmkinos noch die bekannten Namen, aber hätte eine Größe des Independent-Kinos wie Jim Jarmusch heute zu Beginn seiner Karriere noch eine Chance, in den Programmkinos? Ich habe da so meine Zweifel.
Vieles von dem, was Programmkinos einst ausmachte, wird heute von den Kommunalen Kinos und Filmhäusern übernommen, während manche Programmkinos eigentlich nur noch als Abspielstätten für Wohlfühl-Arthouse-Filme fungieren, also konfektionierte Waren vergleichbar mit Mainstream-Produktionen vorführen. Das hängt auch damit zusammen, dass das Arthouse-Publikum gemeinsam mit den Programmkinos gealtert ist. Und offensichtlich mag man diesem älteren Publikum nichts Wagemutiges und Innovatives zumuten und glaubt, das jüngere Publikum sowieso nicht mehr zu erreichen. Diesbezüglich können Kommunale Kinos und Filmkunsthäuser, die befreit sind vom Druck privatwirtschaftlicher Interessen, viel freier und kreativer agieren und experimentieren. Nur müssten sie finanziell viel besser ausgestattet sein.
Tanja C. Krainhöfer: Dass dies tatsächlich möglich ist, zeigen kommunale Kinos wie das „City 46“ in Bremen, das nicht nur ein Programm mit zahlreichen unterschiedlichen Formaten anbietet, sondern gezielt kuratierte Filme, oftmals begleitet von Gesprächs- und Diskurs-Angeboten. Teil des Konzepts sind zudem eigene Reihen, um thematische Schwerpunkte zu vertiefen, Raum für Filmfestivals, aber auch ein eigenes Kinder- und Jugendprogramm einschließlich eines umfangreichen Angebots zur Vermittlung von Medienkompetenz. Jedoch vor allem der enge Austausch mit der Stadtgesellschaft bei der Programmarbeit spiegelt sich nicht nur in einer erstaunlich generationsübergreifenden Publikumsresonanz wider, sondern ebenso in zahlreichen Kinoprogrammpreisen.

Schon lange vor Corona wurde regelmäßig vor dem Kinosterben gewarnt. In den ersten 20 Jahren dieses Jahrtausends sind die Kino-Standorte in Deutschland von 1071 auf 905 sukzessive gesunken. Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung im Hinblick auf die aktuellen Krisen?
Joachim Kurz: Das ist im Moment wirklich schwer vorherzusagen. Bis vor kurzem nahm ich sehr viel Angst in der Kinobranche wahr und viele Kinomacher*innen blickten äußerst pessimistisch in die Zukunft und speziell auf das Jahr 2023. Dazu trug vor allem die Verunsicherung durch den Ukraine-Krieg und die rasante Inflation bei, die ja auch die Kinobetreiber*innen betraf. Nun dreht sich gerade die Stimmung ein wenig: Die Kinos laufen zunehmend wieder besser, die angekündigte “Kulturmilliarde” wird auch den Lichtspielhäusern dabei helfen, die Teuerung bei den Energiekosten zu kompensieren. Und wenn dann noch starke Titel in den Kinos starten, könnte es sein, dass die befürchtete Katastrophe ausbleibt.
Tanja C. Krainhöfer: Aber was sich viel entscheidender auswirken wird, ist doch der massive disruptive Wandel, in dem sich die Medien- und damit auch die Kinobranche befindet. Wenn wir das Kino ansehen, so verliert es seit Jahren an Kinobetrieben ebenso wie an Reichweite, am meisten unter den jüngeren Generationen. Die Pandemie hat den Zulauf zu den Streamern zudem befördert. Gleichzeitig verschwindet der physische Home-Entertainment-Markt, also die DVD und Blu-ray, Pay-TV-Anbieter versuchen mittels eigener Streaming-Programme zu überleben und das Fernsehen bedient fast nur noch Zuschauer von über 60 Jahren. Parallel richten sich die Major-Studios in ihrer Day-and-date-Releasestrategie ein, die Streaminganbieter veredeln ihr Programm mit einer vierwöchigen Vorab-Kinoplatzierung, während staatliche Plattformen wie Salto, die französische Antwort auf Netflix und Co, nach zwei Jahren schon ihrem Ende entgegensehen.
Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wo Filmkultur zukünftig noch stattfinden wird? Nicht zuletzt die mit der Digitalisierung verbundene Demokratisierung der Produktions- und Distributionsbedingungen hat uns in die glückliche Lage versetzt, einen unbegrenzten Zugang zu Produktionen weltweit zu erhalten. Man möchte meinen, wir leben in einem goldenen Zeitalter des Bewegtbildes in all seiner Vielfalt. Wo aber werden diese Filme zukünftig zu sehen sein? Angesichts der ungewissen Zukunft des Kinos gewinnt das dezentrale Netz an Filmfestivals mit seinen rund 450 Akteuren als Förderer und Bewahrer der Filmkultur noch mehr eine unverzichtbare Bedeutung.

Damit werden die Filmfestivals aber auch zu den Totengräbern des anspruchsvollen Kinos, oder?
Joachim Kurz: Wir sollten uns dringend davon verabschieden, Festivals und Kinos immer als Opponenten zu betrachten, sondern viel eher als natürliche Verbündete. Ohne Kinos fehlen den Festivals die bestmöglichen Rahmenbedingungen. Und ohne Festivals wird es den Kinos kaum gelingen, neue Zuschauergruppen zu erschließen, alte zu binden und den Kulturort Kino insgesamt aufzuwerten.
Tanja C. Krainhöfer: In unserem Buch plädieren wir in Form einer vorläufigen Bilanz für eine weitergehende Neubewertung des Filmfestivalsektors als Akteur der Filmwirtschaft und eine entsprechende Neugestaltung seiner Rahmenbedingungen. Einen zentralen Aspekt für die Zukunftssicherung der Filmkultur sehen wir in der Implementierung und Förderung von Strukturen für eine enge wie systematische Kooperation von Filmfestival und Kinos. Dabei sollten Formen der Zusammenarbeit nicht allein auf punktuelle Highlights reduziert werden, sondern Teil der strategischen Programmarbeit auch in Hinsicht auf die heute stark ausdifferenzierten Publika über das gesamte Jahr erfolgen. Dass dieser Position auch mit dem Programmpunkt „Filme, Festivals & Kinos: Gemeinsam die Film-Community stärken“ auf der CinemaVision, der Konferenz der drei Kinoverbände in Deutschland Rechnung getragen wird, stimmt uns optimistisch, dass dies auch gelingt.

Zur Person:
Tanja C. Krainhöfer studierte Produktion und Medienwirtschaft an der HFF München. Sie ist Gründerin der interdisziplinären Forschungsinitiative Filmfestival-Studien. Sie berät Festivals bei ihrer strategischen Positionierung und Entwicklung sowie Akteur*innen aus dem öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Bereich bei ihrer Zusammenarbeit mit diesen.
Joachim Kurz gründete 2003 das Online-Portal „Kino-Zeit“, das er bis heute als Herausgeber und Chefredakteur leitet. Er ist Festivalkurator und -macher, Autor mehrerer Bücher und Juror bei verschiedenen Festivals sowie Juryvorsitzender bei der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW).

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