„Oscars“ 2022: Netflix oder Apple?

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Der beste Film des Jahres ist ein Remake: „Coda“ ist ein anrührender Film, aber gewiss nicht die ganz große Filmkunst. Ohnehin waren die Filmkünste in diesem Jahr aus der Gala verbannt, weil sowas eh niemanden interessiere. | Foto © Apple

Zum ersten Mal gewann ein Streamer den „Oscar“ für den besten Film. Wichtiger als das Medium sind aber die Preisträgerinnen: Die Hauptpreise für Film und Regie gingen an Frauen. Die diesjährige „Oscar“-Gala war eine Feier der Diversität und ein Absage an Kino. 

Am Sonntag war „Oscar“-Nacht, und alle Gewinner und Nominierten sehen Sie hier [auf Englisch].

Am Freitag sah in der „Frankfurter Rundschau“ Daniel Kothenschulte „Hollywood am Scheideweg“, gar „das Ende einer Ära“: „Während die Academy of Motion Picture Arts and Sciences endlich über ein prächtiges Filmmuseum in Los Angeles verfügt, dürfte es seine begehrten ,Oscars‘ im großen Stil an die möglichen Totengräber des Kinos, die Streamingdienste, verteilen. Die Frage ist nur, ob Netflix oder Apple am Ende mit dem Hauptpreis nach Hause gehen.“

Die Netflix-Produktion „The Power of the Dog“ führte zwar mit zwölf Nominierungen, doch das hatte sich schon neulich bei den „Baftas“ in Großbritannien als trügerisch erwiesen. Da war der Neowestern achtmal nominiert, gewann aber immerhin als bester Film und für die beste Regie. „Dennoch dürfte der Hauptpreis an den Film einer Regisseurin gehen. Mit der Apple-Produktion ,Coda’, den Siân Heder nach eigenem Drehbuch inszenierte, hat sich ein kleiner Film, nur dreimal nominiert, in die Favoritenrollen geschoben. Die Coming-of-Age-Geschichte über eine 17-Jährige, die als einzig Hörende in einer Familie von Gehörlosen eine Gesangsausbildung anstrebt, ist in der US-Presse so etwas wie der ,Favorit der Herzen’ geworden.“

Inzwischen ist’s raus: Apples „Coda“ gewann den „Oscar“ als bester Film. Da wäre es also, das Ende einer Ära: Der bekannteste Filmpreis der Welt, schlechthin die Ikone des Kinos, geht an eine Streaming-Produktion! Doch so dramatisch wie manches Feuilleton scheint das die Academy of Motion Picture Arts and Sciences eh nicht zu sehen: Ihren Mitgliedern hatte sie die Kinokunst zur Entscheidung ja selber nur als Stream präsentiert, berichtete „Blickpunkt Film“.

Interessanter als das Medium sind die Entscheidungen. Ein vor drei Wochen noch chancenloser Außenseiter hat den Hauptpreis gewonnen, berichten Hanns-Georg Rodek und  Elmar Krekeler im Live-Blog der „Welt“, sind aber nicht weiter erstaunt: „Es ist etwas, das sich allmählich bei den ,Oscar’ einnistet: Es gibt einen Großfavoriten – und dann kommt kurz vor Schluss ein Außenseiter (wie ,Moonlight’) und verdrängt ihn. Netflix ist wieder gescheitert – trotzdem hat zum ersten Mal ein Streamer den ,Besten Film’ gewonnen, in diesem Fall Apple TV. Im Übrigen ist dies ein halber französischer Oscar: ,Coda’ ist ein Remake von ,Verstehen Sie die Béliers?’, und alle wichtigen Leute hinter der Kamera sind Franzosen. Es könnte auch der Film sein, den vor seiner Krönung von den wenigsten Menschen gesehen worden ist.“

Und wo wir schon dabei sind: Wie hieß doch noch gleich die Coming-of-Age-Geschichte über eine 18-Jährige, die als einzig Hörende in einer Familie von Gehörlosen eine Musikausbildung anstrebt, und die 1998 als bester fremdsprachiger Film für den „Oscar“ nominiert war? 

Auch seine beiden anderen Nominierungen konnte „Coda“ einlösen, berichtet der NDR: Die Regisseurin Siân Heder erhielt die Auszeichnung für das beste adaptierte Drehbuch, Troy Kotsur wurde als bester Nebendarsteller ausgezeichnet. „Er ist der erste männliche gehörlose Schauspieler mit einem ,Oscar’.“ 

Als bester internationaler Film wurde „Drive My Car“ von Ry?suke Hamaguchi aus Japan ausgezeichnet. 

Für den großen Favoriten war der „Oscar“-Abend eine Enttäuschung: Von zwölf Nominierungen blieb „The Power of the Dog“ nur ein einziger Gewinn – „der immerhin Filmgeschichte schreibt. Die neuseeländische Filmemacherin Campion wurde mit ihrem Psychodrama erst als dritte Frau der Filmegeschichte als beste Regisseurin ausgezeichnet. Sie ist die erste, die überhaupt zweimal in dieser Kategorie nominiert war. Vor ihr wurden erst Katheryn Bigelow und Chloé Zhao als beste Regisseurinnen gewürdigt.“

Ergiebiger lief der Abend für das  Fantasy-Drama „Dune“ von Denis Villeneuve, mit zehn Nominierungen auch ein Favorit. Sechs „Oscars“ gewann der Film, nur halt in den sogenannten „technischen Kategorien“, die im allgemeinen weniger interessieren: Bildgestaltung, Szenenbild, Montage, Musik, Ton und Visuelle Effekte. Manche sagen „Filmkünste“ dazu. Dass sie dieses Jahr in den ersten Meldungen doch ein wenig mehr Beachtung fanden, liegt allein an den Personalien: Der Komponist Hans Zimmer stammt aus Frankfurt am Main, im VFX-Team wurde Gerd Nefzer ausgezeichnet. Es ist schon sein zweiter „Oscar“ – den ersten hatte er vor vier Jahren für seine Arbeit an „Blade Runner 2049“, ebenfalls unter der Regie von Denis Villeneuve, erhalten.

„Meister der Naturgewalten“ nennt ihn die „Berliner Zeitung“, wo Harry Nutt schreibt: „Unter Filmleuten, die für cineastisches Zauberwerk zuständig sind, stellt man sich technikbesessene Nerds vor, die seit früher Kindheit an Spaß an flackerndem Licht und der Erzeugung von skurrilen Geräuschen haben. Bei dem 57-jährigen Gerd Nefzer [Anmerkung der Redaktion: Laut Wikipedia ist er 56 Jahre alt] verlief die Karriere indes schwäbisch familiär. Weit davon entfernt, sich früh einer Vision zur Fabrikation des Glamours hinzugeben, trat der gelernte Landwirt und Agrartechniker Gerd Nefzer zunächst in das Unternehmen seines Schwiegervaters ein. Dieser hatte 1968 die Firma VFX gegründet, die für Filmaufnahmen umgerüstete Autos und Waffen verlieh. Beim bloßen Mietservice aber blieb es nicht lange. In den 1980er-Jahren bauten die Nefzers die VFX-Sparte Effects auf, die bald nach 1989 eine Dependance in Potsdam-Babelsberg etablierte. […] Die handwerkliche Präzision, mit der die Nefzers Explosionen und andere Pyrotechniken umsetzten, muss überzeugt haben. Die Nefzers arbeiteten für Quentin Tarantinos ,Inglorious Basterds’ ebenso wie für Wes Andersons Film ,Grand Budapest Hotel’. Und als Steven Spielberg für ,Bridge of Spies’ die Glienicker Brücke an der Berliner Stadtgrenze zu Potsdam als eine Art stählernen Hauptdarsteller in Szene setzen wollte, ließ er sich von Nefzer zeigen, wie man das macht. Er sei kein Computermensch und halte nichts von digitalem Wetter, hat Nefzer immer wieder beteuert. Und so stürmt und brennt es in ,Dune’, als handle es sich um eine aus den Fugen geratene analoge Welt – in fernen Galaxien.“

Hoffnungen hatten auch die Regisseurin Maria Brendle und die Produzentin Nadine Lüchinger. Ihr „Ala Kachuu – Take and Run“ war für den besten Kurzfilm nominiert. Der Titel ist das kirgisische Wort für Brautraub. Der sei in Kirgistan zwar verboten, aber trotzdem weit verbreitet, erzählte Brendle dem SWR. „Mit ihrem Film will Brendle auf die Rechte von Frauen aufmerksam machen. ,Ich will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Ausbildung und ein selbstbestimmtes Leben für viele Frauen auf dieser Welt immer noch keine Selbstverständlichkeit sind’, sagte Maria Brendle. Allein die Nominierung helfe ihr dabei, ist sie überzeugt.“

Einen kleinen Skandal hatte die Gala auch wieder. Chris Rock machte einen schlechten Witz auf Kosten von Jada Pinkett Smith. Deren Gatte Will Smith schritt auf die Bühne und verpasste Rock eine Ohrfeige. Zum Nachsehen im Liveblog von der Preisverleihung beim Redaktionsnetzwerk Deutschland. Für „Moviepilot“ hat der Ausraster eine Vorgeschichte.

„Eine Feier der Diversität“ nennt Daniel Kothenschulte die „Oscar“-Verleihung in der „Frankfurter Rundschau“: „Niemand sollte den bekanntesten Filmpreis der Welt mehr ,zu weiß’ nennen können. Die 94. Ausgabe war die bislang diverseste, beginnend mit dem Nebenrollen-Oscar für Ariana DeBose als Anita in ,West Side Story’: Als erste queere Latina in der Oscar-Geschichte zitierte sie in ihrer Dankesrede die integrativen Botschaften der berühmten Liedtexte […]. Und endend mit dem Hauptpreis für einen Film, der seine wichtigsten Dialogszenen in Gebärdensprache inszeniert: ,Coda’, das kanadische Remake des französischen Films ,Verstehen Sie die Béliers’ über das Gesangstalent des einzigen hörenden Mitglieds einer gehörlosen Familie, war zum heimlichen Favoriten aufgestiegen.“ Jedoch: „Es ist ein sympathischer, aber doch künstlerisch wenig origineller, ja formelhaft erzählter Coming-of-Age-Film, der vieles übertreibt und wo immer es geht auf höchste Emotionalisierung setzt. Wer das Kino liebt, musste erleben, wie einer der besten Filme der Saison leer ausging: ,Licorice Pizza’ unterlag sogar beim Drehbuch gegenüber Kenneth Branaghs ,Belfast’.“

Auch Jenni Zylka hadert in der „Taz“ mit der Entscheidung für „Coda“: „Der Film ist ein nötiger und wichtiger Triumph für die Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit Handicap, konventionell und schlicht ist er dennoch. Inwiefern die Wahl der Mitglieder mit der Sichtungssituation zusammenhing, wird man (mal wieder) nicht ausreichend analysieren können: Einen langsamen, bildlich opulenten und herausfordernden Film wie ,The Power of the Dog’ im bequemen Zuhause via Netflix anzuschauen, macht etwas aus. […] Und ob Hans Zimmer, der Preisträger des Musik-,Oscars’, die vielen Ideen des ,Dune’-Scores wirklich selbst kreiert hat, lässt sich kaum nachprüfen – die Praxis US-amerikanischer Filmmusiker*innen, für kleines Salär und ohne Namensnennung sogenannte ,Ghostwriter’ zu beschäftigen, ärgert die Branche schon lange. Dass die Streamer zudem kaum Lizenzgelder an Kom­po­nis­t*in­nen zahlen, verschlimmert deren Situation.“

Zum ersten Mal ist eine Streaming-Produktion als bester Film ausgezeichnet worden. Lediglich in den USA hatte Apple den Film mitsamt großer Kampagne in die Kinos gebracht. „Sehr bedauernswert“ findet das Christian Bräuer, Vorsitzender der AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater: „Was sich in der Verleihung der ,Oscars’ heute Nacht leider wieder gezeigt hat: Um die Siebte Kunst und ihre Rezeption im Kino geht es bei den ,Oscars’ immer weniger. Das hat damit begonnen, dass Filme nominiert werden, die in allererster Linie für Streamingdienste und deren Plattformen produziert wurden und setzt sich mit der Herabstufung einzelner Gewerke wie Ton, Filmmusik, Szenenbild oder Make-up fort, deren Verleihung in diesem Jahr voraufgezeichnet wurde. Jahrzehntelang waren die Oscars ein Leuchtturm für die Kunstform Kino. Es schmerzt zu sehen, dass die Academy diese Bedeutung so fahrlässig aufs Spiel setzt.“

„Ein Desaster“ war die Preisverleihung für Tyler Huckabee im „Relevant“ [auf Englisch]. „Als die Akademie ankündigte, dass sie acht Auszeichnungen aus der Fernsehübertragung der ,Oscars’ entfernen würde, war die allgemeine Reaktion fassungslos. Führungskräfte von ABC argumentierten, dass Kategorien wie ,bester Schnitt’ und ,beste Filmmusik’ den Durchschnittsbürger einfach nicht ansprechen würden, sodass diese Auszeichnungen vor der Ausstrahlung verliehen und in Clips ausgestrahlt würden, die über die gesamte Show verteilt seien. Aber wisst ihr, wer sich gerne Auszeichnungen für Dinge wie den besten Schnitt und die beste Filmmusik ansieht? Leute, die die ,Oscars’ anschauen! […] Dass ,Dune’ im Dolby Theatre Geschichte schrieb, während die Zuschauer albernem Geplänkel auf dem roten Teppich ausgesetzt waren, war geradezu beleidigend. Und es war ein Zeichen für das, was kommen sollte. Im besten Fall lenken die Oscars die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Handwerk, einen großartigen Film zu machen, indem sie die Künstler und Experten ins Rampenlicht rücken, die darin hervorragende Leistungen erbringen. […] Das ist zumindest die Idee.“ 

Dass es anders kam, hat für Huckabee Gründe: „Die ,Oscars’ wurden auf ABC ausgestrahlt, das sich im Besitz von Disney befindet, das – durch seine verschiedenen Besitztümer – für Auszeichnungen für ,Encanto’, ,Luca’, ,West Side Story’, ,Raya und der letzte Drache’ und mehr angetreten war. ABC fand mysteriöserweise keine Zeit, Denzel Washington zu zeigen, der Samuel L. Jackson einen Preis fürs Lebenswerk überreicht, schaffte es aber, nicht nur eine, sondern zwei ,Encanto’-Lieder zu senden, von denen eines nicht einmal für den besten Song nominiert war. Die Dankesrede des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi wurde gekürzt, offensichtlich, damit wir einen vollständigen vorab aufgezeichneten Werbespot für das Academy Museum of Motion Pictures bekommen konnten […].“

Für die „Taz“ hat sich Klaudia Lagozinski den besten animierten Kurzfilm angeschaut.  „The Windshield Wiper“ [Trailer] fängt in bunten, kurzen Szenen viele Facetten der Liebe ein. „Der spanische Filmemacher und Künstler Alberto Mielgo führte bei der farbgewaltigen Collage moderner Liebe Regie. Er verwebt sowohl optisch als auch thematisch das Digitale mit dem Analogen: Scheinbar banale Chatnachrichten werden vor das Bild eines Satelliten, der über die Erde schwebt, geworfen; der Match aus dem Supermarkt wartet später im Film mit einem Rosenstrauß vor einer graffitibesprühten Eingangstüre zu einem Altbau. […] Statt durch stringente Handlung entsteht der rote Faden in ,The Windshield Wiper‘ durch die ambivalente Stimmung der kurzen, teils nur wenige Sekunden langen Einstellungen.“

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