Das Kino am Lido 

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Mit „Weißes Rauschen“ eröffnete eine Netflix-Produktion das älteste Filmfestival der Welt. Einen „Goldenen Löwen“ gab’s schon vor vier Jahren. Im Umgang mit den Streamern gibt sich Venedig entspannt. | Foto ©  Netflix

In Venedig läuft wieder das älteste Filmfestival der Welt. Und das hat auch mit 90 Jahren den anderen noch einiges voraus.

Das älteste Filmfestival der Welt wird 90. Am Mittwoch starteten die Internationalen Filmfestspiele in Venedig  [auf Englisch]. In der „Frankfurter Rundschau“ freute sich Daniel Kothenschulte: Venedig bringe Aufwendiges mit minimalistischen Independentfilmen unter einen Hut. „Die Spannbreite des Kinos, das hier gefeiert wird, könnte nicht größer sein: Mit Noah Baumbach das Glück des Filmemachers, der nach 30 Jahren im Geschäft erst im Schoß eines Weltkonzerns seine erste Großproduktion realisieren kann. Mit Frederic Wiseman die Freiheit des 92-jährigen Dokumentaristen, der an die Tür zum Spielfilm klopft. Und schließlich die Souveränität des Jafar Panahi, der noch kurz vor seiner Inhaftierung der Diktatur ein Schnippchen schlägt.“ 

Baumbachs erste Großproduktion eröffnete das Festival. „Weißes Rauschen“ ist die Adaption des gleichnamigen Roman von Don DeLillo aus dem Jahr 1985. Der Weltkonzern dahinter heißt Netflix, verrät Dominik Kamalzadeh im „Standard“: „Das erklärt zwar die eine oder andere Anbindung an den Streamingstil, doch insgesamt erweist sich der Film durchaus als wendig, er scheut auch vor großformatigen Wimmelbildern und abenteuerlichen Verfolgungsjagden durch Wälder und Flüsse nicht zurück. Als Zwitter zwischen Kino und Autorenfernsehfilm ist er vielleicht gerade deshalb der geeignete Opener für ein Festival, das all das abmessen will, was gegenwärtig alles als Film gilt: Nach Venedig wird er auch das New York Film Festival einleiten – die erste Arbeit, der jemals diese Ehre zuteilwird.“ 

Auch die anderen Berichte beschäftigt die Eröffnung mit Netflix. Der SWR stellt das sogar in die Überschrift, obwohl es doch gar nicht so überraschend ist, wie gleich darauf erklärt wird: „Keine Kino-Produktion, sondern ein Streaminganbieter eröffnet also das älteste Filmfestival der Welt. Schon vor sieben Jahren hatte das Festival für Furore gesorgt, als es als erstes großes Event seiner Art eine Netflix-Produktion ins Programm nahm. Mit ,Roma’ erhielt nur drei Jahre später die erste Streaming-Produktion den ,Goldenen Löwen’. Aus der Branche hagelte es immer wieder Kritik für den Einbezug von Streaminggrößen, doch in Venedig lässt man sich nicht beirren. Während in Cannes Netflix & Co. noch ausgeschlossen bleiben und keinen guten Ruf genießen, ermöglichte [Festivalleiter Alberto] Barbera im vergangenen Jahr später vielfach ausgezeichneten Filmen wie ,The Power of the Dog‘ eine Premiere in Venedig. Netflix kann in diesem Jahr gleich vier Filme im Wettbewerb des Festivals in Venedig platzieren. Auch Amazon ist mit zwei Spielfilmen vertreten.“

Cannes mag größer sein, Berlin politischer und Toronto mehr Stars haben. „Doch für alle, die den alten Filmzauber lieben, kommt nur das Filmfestival von Venedig in Frage“, schwärmt Scott Roxborough bei der Deutschen Welle. Das liege wohl zum einen an der Geschichte, zum anderen auch an der Kulisse: „Kritiker und Filmfans fahren mit den Vaporettos zu den Vorführungen und passieren dabei die atemberaubendste Skyline, die Europa zu bieten hat.“ Vor allem aber: „Am Lido ging es schon immer ein wenig kultivierter zu als in Cannes. Wenn Venedig einen kommerziell erfolgversprechenden Film einlädt, dann hat er meist einen Arthouse-Charakter. So wie Denis Villeneuves ,Dune’ im vergangenen Jahr – ein Sci-Fi-Epos, das dennoch intim und nachdenklich anmutete. Oder der Gewinner des ,Goldenen Löwen’ 2019, ,Joker’, eine Comicverfilmung, die mehr an Martin Scorseses ,The King of Comedy’ erinnert als an frühere Darstellungen von Batman auf der Leinwand. Die großen Hollywood-Studios wissen das und bieten Venedig in der Regel ihre anspruchsvolleren Filme an, von denen sie hoffen, dass sie eine Chance auf den ,Oscar’ haben. Und unter der Leitung des langjährigen künstlerischen Leiters Alberto Barbera hat Venedig gezeigt, dass es weiß, wie man ,Oscar’-Preisträger auswählt. Die Gewinner des besten Films ,Nomadland’ von Chloe Zhao, ,The Shape of Water’ von Guillermo del Toro, ,Spotlight’ von Regisseur Tom McCarthy und ,Birdman‘ von Alejandro G. Iñárritu wurden alle auf dem Lido uraufgeführt, ebenso wie vier der letzten fünf Gewinner der besten Regie.“

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beschreibt Maria Wiesner, „wie Netflix in Venedig das Kino erobert“. Den Titel könnte man überm Foto vom Roten Teppich erstmal romantisch verstehen, gemeint ist aber wohl das Gegenteil, nämlich „die komplizierte Gemengelage […], in der sich Filmfestivals derzeit befinden, wenn sie das Kino feiern wollen, sich dabei aber irgendwie zum Vormarsch der Streamingdienste verhalten müssen. In Cannes hat man diese schon durch die Wettbewerbs­regeln ausgeschlossen, in Venedig fährt man seit Jahren eine entspanntere Festivalpolitik.“ Und da hat Netflix seitdem mächtig beeindruckt, räumt die Autorin ein. Weil sie für die Filmkunst aber auch „die Magie des Kinobesuchs“ braucht, schließt sie mit einem nostalgischen Rückblick. Doch auch bei ihr bleibt dieses Kino nur noch auf der Silberscheibe erhalten: „Des Komponisten Ennio Morricone gedenkt eine kleine Freiluft-Ausstellung in der Einkaufsstraße. Zwischen den kleinen Bars erinnern großformatige Filmbilder an Western mit Clint Eastwood und Claudia Cardinale, für die Morricone seine unverwechselbare Musikbegleitung schrieb. Einige Väter bleiben mit ihren Kindern stehen, erklären, wer der Mann auf den Bildern ist. Und man hofft, dass sie zuhause noch einen DVD-Player haben, um ihnen diese Klassiker zu zeigen – denn die sind selten auf Netflix zu finden.“

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