Tage des einsamen Streamens …
… erwarten die Filmkritiker im Land. Denn heute beginnt die 71. Berlinale. Aber irgendwie nicht so richtig. Ein Überblick des Bedauerns.
„Ohne Kinos, Publikum, roten Teppich oder Stars. Kritiker dürfen online schauen“ – die „Taz“ hat wenig Freude an der diesjährigen Berlinale: „Derweil fehlt all das, was die Berlinale sonst ausmacht: das Treiben am Potsdamer Platz, die Hysterie, die sich beim gemeinsamen geballten Dauergucken einstellt, die Begegnungen am Rande, selbst die üblichen Bären und großflächig verteilten Plakate in der Stadt. Auch der spontane Austausch untereinander fehlt …“ Das Fazit schon vor dem Start: „Es wird ein Durchhaltefestival gewesen sein. Auf einer Reise ins Ungewisse.“
„Stellen Sie sich vor, es ist Berlinale und niemand geht hin. So ist es gekommen.“ Auch die „Frankfurter Rundschau“ vermisst die echten Filmfestspiele: „Auf den ersten Blick sieht das Programm fast aus wie immer: 166 Filme aus 59 Ländern feiern Premiere, davon 15 im Internationalen Wettbewerb. Das ist etwas weniger als sonst, aber hat man sich das nicht immer heimlich gewünscht? Doch nun kommt die Schattenseite: All diese Filme drängeln sich auf einem Zeitraum von nur fünf Tagen; jeder einzelne Beitrag ist nur 24 Stunden lang für die Tagespresse zu sehen. Schlechter Akkreditierte müssen sich an noch engere Zeitfenster halten. Zwei Wettbewerbsfilme fehlen komplett: Dominik Grafs Kästner-Verfilmung ,Fabian oder Der Gang vor die Hunde‘ und Daniel Brühls Berliner Sozialsatire ,Nebenan‘ könnten am kommenden Freitag zu den ersten Bären-Gewinnern zählen, die nur die Jury gesehen hat – bis zwischen dem 9. und 20. Juni (hoffentlich) noch einmal alles in Berliner Kinos vorgeführt wird. Es wird ein Alptraum. […] Wer denkt sich denn so etwas aus? Online-Festivals gibt es nun schon seit dem letzten Frühling. […] Und was erleben wir? Eine Irrealität? Die Geburt eines virtuellen Monsters, des Nicht-Festivals im Internet? Das Verhältnis dieser Berlinale zu ihrem kostbarsten Gut, der Öffentlichkeit, erscheint so widersprüchlich wie die Corona-Politik, die es überschattet. Gleichzeitig Ja und Nein zu sagen, hat noch niemals funktioniert.“
Keine gemeinsame Feier des Kinos, kein Frieren in der Schlange. „Was bleibt vom großen Filmfestival, wenn niemand kommt?“ fragt „Die Zeit“ und antwortet selbst: „Ganz sicher die Nostalgie“: „Das Unglaubliche an der Berlinale war ja immer, dass man Filmliebe plötzlich sehen konnte. Man konnte sehen, wie im vergangenen Jahr fast 480.000 Menschen durch die Regenkälte zu den Verkaufsstellen pilgerten (auch wenn man mittlerweile die Karten auch gut online kaufen kann) und geduldig vor den Festivalkinos warteten, bis die Türen sich öffneten. Man sah die Freaks, die eine Woche Urlaub genommen hatten, die Pensionisten, die das Programm mit farbigen Leuchtstiften markierten, und die jungen Leute, die auf aufgeweichten roten Teppichen in ihre Smartphones tippten, dass sie nun einen 180-Minüter aus der mongolischen Steppe sehen würden.“ Andererseits: „Das nun beginnende Festival schließt den Kreislauf eines Jahres, das für die Filmbranche desaströs war. Zahllose Filme wurden verschoben, neu terminiert, erneut verschoben, dann zum Teil als Stream veröffentlicht. Die Berlinale 2020 fand vom 20. Februar bis zum 1. März statt. Und obwohl zu dieser Zeit schon die ersten Corona-Todesfälle in Italien gemeldet wurden und es auch in Deutschland schon Infektionen gab, schaute man eher mit Scheuklappen Richtung Süden. Es würde schon nicht so schlimm werden. In den letzten Festivaltagen sprach sich das damals neue Festivalduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek jeden Tag mit dem RKI ab, ob es denn weitergehen könne.“
„Was fehlt, ist das Publikum“, meint auch Andreas Kilb in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. „Nicht das breite, allgemeine Kinopublikum, das ohnehin nicht nach Berlin gefahren wäre und von den Siegerfilmen vielleicht aus den Fernsehnachrichten oder einem Beitrag in einer Kultursendung erfahren wird. Nein, das konkrete, das wirkliche Festivalpublikum fehlt dieser Berlinale, die Leute, die morgens um acht vor dem Ticketcounter und abends um elf vor dem rappelvollen Kino stehen, die Menschenmengen am roten Teppich, die Autogrammjäger vor den Hotels, die Bildersüchtigen, die Pilger der Kinematographie. Und der Applaus: der Jubel, der alles verändert, der eine Vorführung zum Ereignis, ein Branchengerücht zur Wahrheit, ein unbekanntes Talent zum Genie der Stunde macht. Das Klatschen der Hände, das Leuchten der Augen, sie fehlen am meisten, weil sie die Routine des Audiovisuellen, die auch das Kino längst im Griff hat, für einen Augenblick unterbrechen, für den einen, unvergesslichen Film.“
„Tristesse und Geisterstunde“ sieht auch der RBB am Potsdamer Platz.
Der Deutschlandfunk hat die Wehmut der Feuilletons zusammengetragen.