Perspektive in Wartestellung

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Nur halb so stark wie üblich präsentiert die Berlinale den Nachwuchs. Aus 225 Einreichungen wurden nur sechs Filme für die „Perspektive Deutsches Kino“ ausgewählt – zum Beispiel „Die Saat“. | Foto © Kurhaus Production

In der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ präsentiert die Berlinale den Nachwuchs. Im Jahr ohne echtes Festival ist das schwierig, zu sehen sind die ausgewählten Filme erst im Sommer. Eine Vorschau.

Das Festival als Sprungbrett. Zu einem Publikum. Die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ gibt den jungen Filmetalenten diese Plattform. Wenn man noch keinen Namen hat, ist es doppelt schwierig, sich im Festivalgetöse so zu positionieren, dass das Publikum aufmerksam wird. Ohne Publikum wird es schwierig. Im 2021er Jahrgang der Berlinale konnte die Branche aus Marktvertreter und Presse die Filme sichten, das Publikum darf sich gedulden, auf den Sommer. 

Aus 225 Einreichungen wurden nur sechs Filme ausgewählt. In der Regel versammelt die Sektion in etwa die doppelte Anzahl an Arbeiten. Die Konzentration auf drei Spiel- und drei Dokumentarfilme wirkt trotzdem stimmig. Wobei sich nur ein Titel als waschechter Spielfilm zeigt. Darüber hinaus zeigt sich der junge deutsche Film von seiner internationalen Seite. Jonas Bak reist für „Wood and Water“ bis nach Hongkong und Yana Ugrekhelidzes „Instructions for Survival“ begleitet die Protagonisten aus Georgien bis ins Asyl in Belgien. Jide Tom Akinleminu ist in Nigeria geboren und in Dänemark aufgewachsen, studierte aber in Berlin an der DFFB. „When a Farm Goes aflame“ ist eine Reise über die Kontinente. In Salar Ghazis „In Bewegung bleiben“ verlassen einige Protagonisten ihre Heimat, die DDR, für eine Heimat in der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise Chile.

Auch ist dem Jahrgang an aktuellen gesellschaftlichen Aufgabenstellungen interessiert. Nicht nur beim Wechsel aus einer repressiven Staatsform in „In Bewegung bleiben“. Jonas Bak greift in „Wood and Water“ die Demonstrationen für Demokratie in Hongkong auf und stellt Bestrebung einer Gemeinschaft in Zusammenhang mit einer persönlichen Reise. „Die Saat“ von Mia Maariel Meyer nimmt die Gentrifizierung nur als Ausgangspunkt, um die Selbstbehauptung in Zeiten neoliberaler Optimierungen anzusprechen. In „Instructions for Survival“ von Yana Ugrekhelidze erleben wir den Kampf um die essentielle Identität eines Transmannes und seiner Familie. Die Brüder David Vajda und Saša Vajda greifen in „Jesus Egon Christus“ das trügerische Versprecher der Religion auf. Jide Tom Akinleminu möchte in „When a Farm Goes Aflame“ einfach seinen Vater kennen und verstehen lernen und lernt dabei eine wahrlich kosmopolitische Familie kennen.

Die Auswahl entstand dabei unter erschwerten Bedingungen, wie es die Sektionsleiterin Linda Söffker für den Berlinale-Blog auch anspricht. Das Sichten ohne sich direkt mit KollegInnen austauschen zu können, war eine Herausforderung. Nicht zu wissen, ob man das Auserwählte auch wird zeigen können, stellte noch einmal eine besondere Herausforderung dar. In einem Kino und überhaupt. Bisher hat auch nur ein Film einen Verleih, das ist „Die Saat“, der auch als einziger die Form eines Spielfilmes aufweist. Ich stelle die Aufwahl einfach mal vor:

 

Die „Perspektive Deutsches Kino“ nimmt ihren Titel als Programm: Sie will Perspektiven zeigen. Der Zustand unserer Gesellschaft zeigt die Regisseurin Mia Maariel Meyer („Treppe Aufwärts“) in ihrem zweiten Film „Die Saat“ [Trailer] auf. Wir leben in einer Gesellschaft der Leistungsoptimierung und Gentrifizierung. Dabei ist jeder Mensch austauschbar. Rainer (Hanno Koffler) ist gerade zum Bauleiter aufgestiegen, da wird er flugs degradiert, damit der Bau noch profitorientierter abgewickelt werden kann. Dabei hat er schon genug Sorgen. Seine Frau ist schwanger und kann nicht arbeiten. Gerade ist man aufs Land gezogen, weil man in der Stadt der Gentrifizierung zum Opfer gefallen ist. Seine 13-jährige Tochter Doreen (Dora Zygouri) fühlt sich verraten.

Das Drehbuch, dass Meyer zusammen mit Koffler schrieb, für ihn sein Drehbuchdebüt, setzt auf die Parallelen Vater und Tochter. Rainer kämpft um seinen Job, schiebt noch einen hinterher, kämpft für die anderen auf der Baustelle und droht daran zu scheitern. Doreen schließt mit der Nachbarstochter Freundschaft, bis diese sie in Schwierigkeiten bringt. Als Doreen nicht mitziehen will, wird sie gemobbt. „Die Saat“ baut Druck auf und erhöht ihn stetig. Dabei wird einem klar, dass das Leben so eigentlich nicht erstrebenswert ist, dass es so nicht weitergehen kann. Covid-19 hat die Produktion fast ausgebremst. Die Produktion war bereits seit Jahren in der Mache. Gedreht hat man trotzdem, von Ende Juli bis Anfang September 2020. Mit eigener Hygienebeauftragten.

 

Die Sektion fragt auch: „Gehen oder Bleiben?“ und „Wo wollen wir leben?“. Diese Frage stellte sich für die Tänzer*innen in der DDR ganz real und immer wieder. „In Bewegung bleiben“ [Trailer] von Salar Ghazi stellt uns eine Gruppe von Tänzer*innen vor, von denen gut die Hälfte aus ihrer Heimat „gegangen ist“. Im Fokus stehen die Überlegungen über ein Dafür oder Dagegen. Zu den Akteuren, die hier zu Wort kommen, gehören Birgit Scherzer, Steffi Scherzer, Klaus Dünnbier, Mario Perricone, Raymond Hiblert, Thomas Vollmer, Uwe Küßner, Sven Grützmacher, Mario Nätzel und Roland Gawlik. Roland Gawlik hatte damals eine VHS-Kamera ins Land geschmuggelt und damit die Truppe bei den Proben und privat aufgenommen. Auf dieses Material kann Salar Ghazi, der hauptberuflich als Editor arbeitet, zurückgreifen. Die  Berlinale hat ihn für ihren Video-Blog „Berlinale Meets“ angesprochen.

Die Tänzer*innen kamen teilweise aus einfachen Verhältnissen. Die DDR hat sie zu „Leistungsträgern“ gemacht, die das Land auch im Ausland repräsentieren sollten. Sie waren somit priviligiert. Das änderte nichts an der Tatsache, dass sie nicht frei in ihren Entscheidungen waren. Will man so leben? Wenn man die Chance hat, bei einem Gastspiel im Ausland einfach „dazubleiben“? Den Fall der Mauer 1989 konnte keiner vorhersehen. 1988 führte die Choreografin Birgit Scherzer an der Komischen Oper in Berlin, Hauptstadt der DDR, das Stück „Keith“ auf. Inspiration war das Album „Köln Concert“ von Keith Jarrett. Diese berühmte Konzertaufnahme war auch eine Lieblingsplatte von Ghazi. Über einen Freund hatte er Birgit Scherzer und ihre Familie kennengelernt und ihre Arbeit verfolgt. Das Stück wurde ein Erfolg, was gar nicht mal so selbstverständlich war.

20 Jahre später machte sich Salar Ghazi auf, die Mitwirkenden des Stückes „Keith“ nach ihrer Geschichte zu befragen. Außer ihn interessierte sich niemand für dieses Thema. Das hinderte Salar Ghazi nicht, an der Verwirklichung über 12 Jahre hinweg zu arbeiten und komplett ohne jegliche Förderung am Ball zu bleiben. Er machte das Beste daraus, war er doch in den Funktionen Regisseur, Kameramann, Cutter und Tonmann frei in seinen Entscheidungen, was die Form und die Länge betraf. Das Material, Interviewaufnahmen mit den Beteiligten, verknüpft mit den Privataufnahmen von Roland Gawlik, bestimmte die Form. 

Kapitelsetzungen takten das große Ganze, das die Lebensentwürfe, die Entwicklung und die Entscheidungsfindungen chronologisch und quasi in Parallelmontage aufbereitet. So erst wird ein vielschichtiges Bild daraus. Ghazi konnte den Akteuren die Zeit geben, ihre Geschichten mit all den Zweifeln und den Wissen um Verantwortung und dem Drang der persönlichen Entfaltung nach und nach einzubringen. Die Interviews ergänzen sich in der Montage, ergeben ein flüssiges Erzählen, das ist spannend, auch wenn man sich für Tanz nicht speziell interessiert.

 

Eine Mutter verlässt in „Wood and Water“ [Trailer] ihr Zuhause und reist um die halbe Welt. Anke ist nun Rentnerin, sie hat alle Zeit der Welt und doch ist diese Zeit endlich. Zumal ihr Mann bereits verstorben ist und die Kinder längst das Nest verlassen haben. Jonas Bak, wollte die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn erzählen, aber aus der Sicht der Mutter. Ihr Max ist nach Hongkong gezogen und kann auch für einen gemeinsamen Urlaub nicht zurückkehren. Bilder aus vergangenen Jahren zeugen von regelmäßigen Familienurlauben. Jetzt ist die Zeit einfach weiter gereist und Anke beschließt, diesem steten Fluß zu folgen. Und so landet sie in Hongkong.

Jonas Bak, geboren 1985 in Konstanz, verließ seine Familie, um seinen eigenen Weg zu gehen. Das ist der Lauf der Dinge. Er machte sich keine Gedanken, wie sehr er seiner Mutter gefehlt haben mag. Er ging für ein Regiestudium nach Edinburgh und später nach London und auch nach Hongkong. Nun besetzte er seine Mutter in der Rolle der Mutter, der ihr Kind fehlt und das was vergangen ist. Er führt sie aber in Situationen, die sie mit ihrer Offenheit gut meistert. „Wood and Water“ ist ein Vertreter des Slow Cinema. Bak arbeitet meditativ und mit Bedacht. Auch in der Bildsprache führt er das Publikum aus dem engen Inneren in das tosende Äußere. Vom Land in die Großstadt. Von der Reflektion im engen Rahmen des eigenen Umfelds in die Begegnung mit Fremden, die ebenfalls Sehnsuchte kennen, privater und politischer Natur. In Hongkong gehen die Leute gerade für die Demokratie auf die Straße. In diesen Begegnungen liegt eine Möglichkeit. 

 

Trailer: „Jesus Egon Christus“ [Trailer] ist ein Porträtfilm, ein Blick hinter die unbequemen Gesichter und die enervierenden Ticks von Suchtkranken. Die Regisseure David und Saša Vajda nennen es „Fictiondoku“, der Stil ist in der Tat dem Dokumentarischen abgeschaut. In dem Video-Blog der Berlinale, „Berlinale Meets“ kommen die beiden zu Wort.

Egon, gespielt von Paul Arámbula, wird in die kleine Gemeinschaft einer evangelikalen Einrichtung, irgendwo in der Nähe von Berlin, der Ort selbst spielt keine Rolle, durch die Zäsur des Haarescherens aufgenommen. Er fügt sich aber nicht ein. Zunehmend schert er aus. Der Blick der Kamera von Antonia Lange reagiert auf seine Bewegungen.

David und Saša Vajda haben diesen mittellangen Film selbst produziert. David, geboren 1989, hat in London Philosophie studiert. Saša Vajda ist der Ältere und studierte ebenfalls Philosophie, aber in Paris. Gemeinsam haben die beiden 2017 einen Kurzfilm, „Hunny Bunny“, gedreht. Für „Jesus Egon Christus“ recherchierten die beiden zwei Jahre lang in Methadonkliniken, in Fixerstuben und sie schauten sich dort um, wo sie selbst wohnten, in Berlin-Neukölln. Sie arbeiteten weitgehend, aber nicht ausschließlich mit Laiendarstellern und verließen sich auf Improvisation. Das Set machten sie zur Bühne. Die Kamera konnte diese Bühne im 360°-Kreis abdecken und so spontan reagieren.

In dieser Einrichtung, kahl, farblos, trist, gibt es keinen anderen Anreiz zu gesunden, als das Wort des Leiters, der sich selbst zum Priester erkoren hat. Egon glaubt an dessen Heilsversprechen, fällt aber zunehmend in eine Obsession mit einem Glauben, die ihm kein Heil bringen kann. Das macht es dem Publikum umso schwerer, diesen Kreuzgang mitzugehen. Dieser Film ist roh, schwierig und unbequem. Eine Wertung der Figuren bleibt aus. Aber eine Existenz, an der man sonst vorbeischaut, drängt sich hier unausweichlich ins Gesichtsfeld.

 

Eine Geschichte einer Flucht erzählt die Regisseurin Yana Ugrekhelidze in „Instructions for Survival“ [Ausschnitt]. In ihrem ersten Langfilm kehrt sie nach Tiflis, Georgien, ihrer Geburtsstadt zurück und stellt uns Alexander und Mari vor. Alexander, kurz Sasha, lebt im Verborgenen. Er kann nur illegale Jobs annehmen, er kann nicht aufs Amt, er kann nicht einmal in eine Arztpraxis. Er ist Transgender und das ist für die georgische Mentalität wohl schlimmer als wenn man ein Mörder wäre. Solche wie er werden nicht nur nicht geduldet, sie werden verfolgt und ermordet. Mit welcher Wucht der Hass zuschlägt, zeigt die Regisseurin in den ersten Minuten mit Fernsehaufnahmen. Hassverbrechen kennt das georgische Strafsystem nicht.

Sasha lebt seine Transidentität unter dem Radar, doch sogar seine Frau ist den Anfeindungen ihrer Familie ausgesetzt. Nur die Flucht ins westliche Ausland ist noch eine Option. Die Mittel, das Geld dafür aufzutreiben, sind begrenzt. Mari hat die Möglichkeit, sich als Leihmutter zur Verfügung zu stellen und nutzt diese, mit allen emotionallen Komplikationen. Ugrekhelidze und ihre Kamerafrau Jule Katinka Cramer begleiten das Paar über einen längeren Zeitablauf. Es sind Momentaufnahmen, eine Dramatisierung vermeiden sie. 

Bereits mit „Armed Lullaby“ widmete sich Yana Ugrekhelidze dem Themen Flucht und Vertreibung. Es war ihr Diplomfilm an der Kunsthochschule für Medien in Köln, Fachrichtung Film und Animation, und sie stellte ihn 2019 im Kurzfilmprogramm der Berlinale-Sektion Generation vor. Zur Zeit arbeitet sie wieder an einem Animationsfilm, der den Holodomor, die Tötung der Bevölkerung durch Aushungerung in der Sowjet-Ukraine in den 1930ern aufgreift. Yana Ugrekhelidze spricht in „Berlinale Meets“, dem Video-Blog der Berlinale, direkt zum Publikum.

 

Die persönliche Suche nach den Wurzeln und nach Familie beschäftigte Jide Tom Akinleminu bereits in seinem Film „Portrait of a Lone Farmer“. Er wollte ein Porträt von seinem Vater drehen. Seine Mutter, eine Dänin, hatte seinen Vater, einen Nigerianer, geheiratet und lebte auch in dem Land, bis sie, da war er 10, zurück nach Dänemark zog. Es folgte eine Fernbeziehung. Jide Tom Akinleminu wurde 1981 geboren, wuchs also seit 1991 in Dänemark auf. 2004 kam er nach Berlin, studierte hier an der DFFB und schloß sein Studium 2013 mit „Portrait of a Lone Farmer“ ab. Er war folglich 30 geworden, als er durch Zufall bei der Arbeit über seinen Vater erfuhr, dass dieser eine zweite Ehe in Nigeria eingegangen war. In „When a Farm Goes aflame“ [Trailer], eine wahrlich persönliche Dokumentation, versucht der Regisseur die Beweggründe und die Auswirkungen dieser Lebenslüge zu verstehen und darzustellen. Damit ist sein Film wie eine Zwiebel, die erst nach und nach Schichten frei gibt.

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