Gedanken in der Pandemie 51: Kalkutta liegt am Ganges, und Kairo liegt am Nil …
Liebe, Musik und Politik: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 51.
„Wir leben derzeit unter dem virologischen Imperativ. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Übertragen wir also diesen biblischen Spruch auf die Pandemiesituation! Es kann doch das Leben nicht nur darauf begrenzt sein, dass wir überleben. Zum Leben gehört eben sehr viel mehr. Und das eindimensionale Fixieren auf das, was virologisch richtig oder falsch ist, kann es nicht sein.“
Michael Wolffsohn, Historiker
„Der Hecht,
Er macht der Pläne viel.
Ich werd, so sagt er, besuchen
den Ganges und den Nil,
den Tajo und den Tiber dann
und darauf den Jangstekiang.
Ich werde, da ich ungebunden,
gut nutzen meine freien Stunden.“
Robert Desnos
Wir haben gut reden und regeln und lockern mit Corona. Aber wie läuft es damit in den anderen, ärmeren Regionen der Welt?
Indien mit seinen 1,3 Milliarden Menschen hat der Lockdown auf die schwerste Probe seit der Unabhängigkeit gestellt. Zum Beispiel: Dharavi. So heißt ein Slum im indischen Bombay. „Slumdog Millionär“ wurde dort gedreht. Auf einem Quadratkilometer leben dort 270.?000 Menschen, also etwa 60-mal so viele wie in einer deutschen Großstadt. Die Behörden kennen nicht einmal die genaue Zahl der Einwohner. Im Slum teilen sich acht oder zwölf Menschen eine aus Müll zusammengenagelte Hütte, vielleicht drei mal drei Meter groß. Die Verhältnisse sind so dicht, dass der berühmte Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ aus Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ (1944) noch eine ganz andere Bedeutung bekommt: In einer Situation, in der jeder erstmal auf sich selbst achten muss, ist der andere zunächst nur eine weitere Last.
Wie hält man dort einen Lockdown mit Ausgangssperren aus? Ein eigenes Zimmer ist ein Luxus, den sich dort die wenigsten leisten können. Wie soll man sich aus dem Weg gehen? Wie soll man ein sauberes Klo finden? Die Hände mit Wasser und Seife waschen? Lächerlich. Tag und Nacht eingesperrt in der stickigen Enge, wer soll das aushalten?
Zugleich die Frage, ob Covid-19 mehr Opfer kosten wird, oder die Anti-Corona-Politik, die Millionen Tagelöhner in den Abgrund treibt?
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Die Seuche kenne keine Unterschiede – so lautet einer der vielen Sätze aus der Corona-Phrasendreschmaschine. Stimmt aber nicht.
Während Corona in den meisten Teilen der Welt die Krankheit der Armen ist, ist sie in Afrika die Krankheit der Reichen. Auch nach Südafrika brachten es Skiurlauber aus Italien mit und steckten ihresgleichen an. Das Erbe der alten Apartheid-Geografie wirkt bis heute fort. Und so war die relativ strikte Trennung zwischen reich, mittelreich, eher arm und ganz arm, und die zwischen Weiß, Schwarz, Indischstämmig und gemischt tatsächlich ein Grund, zusammen mit dem schnell eingeführten Lockdown, warum sich das Virus in Südafrika bisher eher moderat ausgebreitet hat, und in jedem Fall längst nicht so rapide, wie viele düstere Vorhersagen kürzlich noch behauptet hatten.
Ein weiterer Grund: Die Erfahrung der dortigen Menschen mit Seuchen. In Afrika, schrieb die „SZ“ vor einigen Tagen, sei die Stimmung „eher zuversichtlich“. Die Regierungen täten viel, um Corona in den Griff zu kriegen.
Mehr als zehn Millionen Tote prophezeite Bill Gates, der eben auch nicht mit allem recht hat, dem Kontinent, wenn nicht rasch gehandelt werde. Fast zwei Monate später gibt es offiziell 193.000 Fälle, 5.234 Tote und 85.000 Genesene (Stand: 8. Juni 2020).
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Zuviel Optimismus wäre aber auch falsch. Die niedrigen Zahlen kommen nämlich auch daher, dass die meisten Afrikaner sehr jung sind. Weil gesunden Menschen unter 60 Jahren (egal, was die Virologen und manche Gesundheitspolitiker aus übertriebenem Sicherheitsdenken heraus behaupten) genau wie in Europa von Corona keine Gefahr droht, und im afrikanischen Durchschnitt gerade mal zwei Prozent der Menschen der Bevölkerung über 65 Jahre sind, sind die Zahlen weniger schön.
Zudem können sie auch daher kommen, dass das Virus in Afrika später eintraf als in Europa. Und dass in manchen Ländern, etwa Kongo oder Somalia, kaum getestet wird.
Die Zeit nutzen aber viele Staaten. In Kenia produzieren Fabriken Zehntausende Masken am Tag, Somalia hat das erste selbstgebaute Beatmungsgerät vorgestellt, in Südafrika soll bald eine Serienproduktion beginnen.
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In der Stadt Oran wütet die Pest. Das Fieber greift um sich. Menschen sterben. Ein Entkommen gibt es nicht, denn die Stadt wird hermetisch abgeriegelt. „Es hat auf der Welt genauso viele Pestepidemien gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet.“ So heißt es in dem Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Auf literarische Weise zeichnet der Autor hier den Prototyp der Epidemie – Szenen der Katastrophe, und wie der Mensch ihr begegnet. Der Regisseur und Dramaturg Dirk Diekmann hat eine Hörspielfassung dieser dramatischen Geschichte erstellt. Diese hat der Schauspieler Stefan Hunstein für die „vhs.daheim“ eingelesen. Damit entführt er das Publikum in eine Welt, die gerade gleichermaßen fremd wie vertraut erscheint.
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Heute vor 75 Jahren starb der französische Lyriker, Surrealist und Radioavantgardist Robert Desnos einen Monat nach seiner Befreiung im KZ Theresienstadt.
Maike Albath hat im Deutschlandfunk ein Kalenderblatt verfasst.
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Der Historiker Michael Wolffsohn kritisiert im Deutschlandfunk eine Reduzierung auf den Kampf gegen Corona. „Weniger zitieren und mehr reflektieren, das wäre eigentlich meine Aufforderung gewesen. Und das wäre in der Moderne auch notwendig.“
Wolffsohn mokiert sich über die Unfähigkeit der Religionen, eine spirituelle Antwort auf die Pandemie zu finden: „ […] alles wohlgemeint, aber letztlich an den Bedürfnissen der Menschen vorbei: Der Papst hat sozusagen in Ein-Mann-Vorstellungen – sehr eindrucksvoll, optisch auch wunderbar inszeniert – in Rom ein Gebet veranstaltet. Er ging durch die menschenleere Stadt und hat gebetet. Aber warum betet man? Hilft beten, reflektieren? Beten alleine ist zu viel Appell. Das ist sozusagen das Zitat des Rituals – und damit erreicht man die Menschen nicht mehr. […] Es ist eben aus der religiösen Institution, egal ob jüdisch, christlich oder muslimisch, eigentlich nichts Theologisches gekommen, sondern mehr Virologisches. Und das sollten besser die Virologen machen.“
Zugleich kritisiert Wolffsohn den „virologischen Imperativ“: „Es kann doch das Leben nicht nur darauf begrenzt sein, dass wir überleben. Zum Leben gehört eben sehr viel mehr. […] Wir müssen uns als Menschen damit abfinden, dass unsere Existenz ständig gefährdet ist. Und das haben wir eben oft vergessen, wir verdrängen den Tod. Und insofern wäre es eben für die institutionalisierten Religionen eine große Chance gewesen – die besteht immer noch –, uns auf diesen Gedanken zurückzuführen.
Nicht im Sinne einer Miesepetrigkeit oder des ständigen Appells „Gedenket unserer Sterblichkeit!“, sondern in diesem Sinne: „Ihr müsst euch auch jenseits des Genusses, der Lebensfreude, die ja etwas Wunderbares ist – das Leben ist wunderschön –, auch immer fragen: Wie lebe ich heute, wenn ich möglicherweise morgen schon tot bin? Und wenn ich tot bin, was ist dann? Ist nur das Nichts? Komme ich zu Gott oder komme ich nicht zu ihm? Gibt es ihn?“
Also, diese Seinsfragen jenseits der Vergnügungsfragen zu stellen, das ist die Aufgabe der Religion; und nicht, Vollzugsorgan und auch noch Lieferant von Ideologien der jeweiligen Politik. […] Und das eindimensionale Fixieren auf das, was virologisch richtig oder falsch ist, kann es nicht sein. Und erst recht deshalb nicht, weil ja auch die Spezialisten, also die Virologen untereinander uneinig sind. Das ist in der Wissenschaft überhaupt nichts Neues, das gehört zur Wissenschaft: A sagt A und B sagt B – und dann entwickelt sich vielleicht als Richtiges C. Aber das weiß man erst hinterher. Und das erleben wir jetzt: Wir sind in einer totalen Experimentsituation.“
Er glaube, dass Virologen „so fixiert sind“ sagt der rechtskonservative jüdische Historiker, der einst an der Bundeswehrhochschule in München lehrte: „Ich bin, chronologisch gesprochen, ein ,68er’, und zu meiner Zeit sprach man viel von ,Fachidioten’. Das kann man freundlich und weniger freundlich interpretieren. Der Spezialist ist Spezialist und eben kein Generalist. Und es gibt vielleicht auch unter den Virologen einige Generalisten.“
Das tatsächlich Gebrochene des menschlichen Daseins werde „in der öffentlichen Reflexion uns sozusagen eine eindimensionale Verhaltensvorschrift empfohlen. Ja, nicht einmal im Sinne von Freiheitsunterdrückung – alles bestens gemeint –, aber es fehlt mir die Reflexion der konkreten Situation in Bezug auf das generelle Sein. Sprich: Wie ist das möglich? Obwohl wir so viel wissen, sind wir von einem Mini-Mini-Mini-Virus weltweit momentan abhängig. Das sind doch elementare Fragen!
Die Einsicht, dass wir trotz unseres vielen Wissens so viel nicht wissen. Und das bedeutet nun wiederum: Wir sollten uns nicht konzentrieren auf die Eindimensionalität, sondern die Vieldimensionalität, denn wir brauchen eben auch die Seele. Und für die Seele ist die Religion eher zuständig als die Virologie und die Politik.“
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Gut 7 Millionen Fälle bis heute, etwa die Hälfte ist bereits genesen, gestorben sind zirka 400.000 Menschen. Dunkelziffern bleiben dunkel, sind also nicht mitgerechnet.