Gedanken in der Pandemie 43: Was ist das dann noch für ein Leben?
Freiheit, Identität und Kultur: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 43.
„Oder wir nehmen uns alle ein Beispiel an Robert Bressons Filmen, wo die Leute immer nur einzeln an einer Wand entlanggehen …“
Dominik Graf
„Ich glaube schon, dass das Geschichtenerzählen, dass Kultur, dass unser Beruf systemrelevant ist. Es ist einfach so: Zum täglichen Überleben braucht man keine Kinofilme, zumal keine neu produzierten, es gibt ja wahnsinnig viele Filme, die man sich erst noch anschauen kann. Also, man kann es für eine Zeit lang ohne Filme aushalten, aber irgendwann dann nicht mehr. Denn was ist das dann noch für ein Leben?“
Hans Christian Schmid
„People in free societies don’t have to fear the pathology of the state. We create our own frenzy, our own mass convulsions. The frenzy is barely noticeable most of the time. It’s simply how we live.“
Don DeLillo
So ganz kann ich tatsächlich nicht verstehen, was einige daran stört, dass jetzt die Fußball-Bundesliga wieder ihren Spielbetrieb aufgenommen hat. Die Affekte gegen Millionäre und Spitzenverdiener sind in dem Zusammenhang eh vor allem populistisch.
Ein Spiel mit Fans ist viel, viel besser, gar keine Frage. Schon alleine deshalb, weil die Fans eine Mannschaft aufbauen, aufpeitschen, also sie motivieren können, weil das Publikum einen Mehrwert ausmacht und sich das alles auf die Zuschauer überträgt. Gar keine Frage.
Aber so schlimm ist das Spiel ohne Zuschauer im Stadion jetzt auch nicht. Das deutsche Classico zwischen Dortmund und München zeigte am Dienstagabend, wie hervorragend die Qualität der Spieler und der Mannschaften auch dann ist, wenn die Millionen nur an den Fernsehbildschirmen zuschauen und nicht als Zehntausende im Stadion.
Natürlich weiß jeder Fußballfan am besten, dass die sogenannten Geisterspiele nicht dasselbe sind, wie richtiger Fußball. Aber es ist besser als nichts. Vor allem aber ist die Aufnahme des Spielbetriebs eine Hoffnung und eine Chance für viele andere. Mir scheint, das wird im Augenblick manchmal übersehen.
In dem Moment, in dem die Fußballspiele einigermaßen klappen, ohne dass es zu größeren Corona-Incidents in der Bundesliga kommt, wird man auch anderes wieder erlauben. Zum Beispiel Filmdrehs ohne Abstandsvorschriften.
Abgesehen davon glaube ich halt auch, dass Fußball Kultur ist. Anders als Filme, klar, aber nicht nur Filme und Oper sind Kultur.
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In den letzten zwei Tagen standen ziemlich gute Texte zu der enormen Belastung für Filmemacher in der „Süddeutschen Zeitung“.
„Film braucht Intimität“ – unter dem Titel gab es gestern ein sehr konstruktives Gespräch zwischen Caroline Link, Dominik Graf und Kilian Riedhof, den ich ehrlich gesagt überhaupt nicht kenne. Der scheint aber gut vernetzt zu sein, denn er durfte sich bereits vor einem Monat zu Wort melden, als die „FAZ“ auf ihrer Fernsehseite vor allem Fernsehmacher zum Thema gefragt hatte. Das war entsprechend auch insgesamt langweiliger gewesen.
Relativ lustig war dagegen nun Dominik Grafs Vision, wie man unter Umständen einen Kuss auf Abstand denen könnte: „Wenn ich hier am Rosenheimer Platz einen Kuss inszeniere, bei dem ich die Schauspieler zwei Meter voneinander weg positioniere, muss ich die Kamera am Weißenburger Platz aufstellen, damit es so aussieht, als würden die halbwegs eng voreinander stehen. Es dauert ein halbe Stunde, um das einzurichten, der Schärfenzieher wird wahnsinnig, und am Ende würden die Zuschauer doch merken, dass da was nicht stimmt.“
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Noch spannender war der heutige Text in der „SZ“ von der immer toll schreibenden Johanna Adorjan auf der Seite 3. Mehr eine sehr intensive Momentaufnahme, sehr wohlwollend fast ohne steile Thesen. Adorjan spricht da mit drei Beteiligten bei der Verfilmung von „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ über die Reemtsma-Entführung vor unglaublichen 24 Jahren. Sie spricht mit dem Regisseur Hans-Christian Schmid mit der Schauspielerin Adina Vetter und mit der Casterin Suse Marquardt.
Vor allem Suse Marquardts Statement hat mich erschreckt. Denn im „SZ“-Text heißt es: „Suse Marquardt weiß nicht, ob sie mit ihrer Firma die nächsten drei Monate finanziell überlebt. Ihr Gehalt ist davon abhängig, dass gedreht wird.“
Noch ein sehr sehr schönes Zitat: „Natürlich, es gibt jetzt Wichtigeres, als Filme zu machen. Wirklich?“
Ich weiß, was Adorjan meint.
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Das Fußballspiel habe ich im „Magnet“ gesehen, einer der ohne jede Übertreibung besten Fußballkneipen dieser Republik.
Beim Gang aufs Klo habe ich dort das Graffiti entdeckt „Freiheit stirbt mit Sicherheit“. Der Spruch ist nicht neu. Mir fiel dann das alte Sponti-Motto ein: „Die Freiheit die ich meine, kommt nicht von alleine.“
Die Freiheit, die ich meine, bewährt sich dann, wenn sie nicht selbstverständlich ist. Wenn Freiheit unter Beschuss steht; wenn Gesundheit gegen Freiheit steht; wenn Sicherheit gegen Freiheit steht – dann erst stellt sich die Frage: Ist uns unsichere Freiheit lieber als unfreie Sicherheit? Und ist uns ungesunde Freiheit lieber als unfreie Gesundheit?
Hier erst trennen wir uns. Hier erst trennt sich, je nach Betrachtungsweise, die Spreu vom Weizen.
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Es ist vermutlich eine Berufskrankheit und womöglich sogar sowas wie eine persönliche Verschwörungstheorie: Jedenfalls habe ich, seit ich diesen Blog schreibe, immer wieder mal das Gefühl des Déjà-vu, den Eindruck, eine ganze Menge Leute lesen ihn und schreiben einfach von hier ab. Zum Beispiel als jetzt die sogenannte „Spiegel-Datenanalyse“ zu deutschen Talkshows veröffentlicht wurde. Das unglaublich überraschende Ergebnis: Junge Menschen kommen kaum vor, Gäste ab 50 sind die Mehrheit, und fast immer sind es Männer. Diese Beobachtungen hat man an diesem Ort bereits Anfang Mai nachlesen können. Aber schön, dass es der Spiegel ist jetzt noch mal nachgerechnet hat.
Spiegel Leser mehr wissen – also teilt uns der „Spiegel“ auch noch mit, dass Migranten und Ostdeutsche in den Runden auch kaum vorkommen.
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Auch das ist wahrscheinlich richtig. Allerdings stellt sich hier nun auch eine grundsätzliche Frage: Inwieweit sollten oder müssten Talkshows eigentlich die Zusammensetzung der Gesellschaft perfekt und vollständig abbilden? Wer das glaubt und fordert, hat womöglich eine etwas naive Vorstellung von Talkshows. Denn Talkshows sind nicht etwas dazu da, etwas abzubilden. Sie sind, wenn sie politisch sein wollen, oder gesellschaftlich und kulturell relevant, nicht Abbild einer Gesellschaft, sondern Abbild einer Streit-Konstellation. Und da geht es um ganz andere Dinge. Es geht um politische Konflikte; es geht um das Verhältnis zwischen konkurrierenden Elementen, beispielsweise zwischen Politik und Wissenschaft oder zwischen Kultur und Politik oder zwischen Wirtschaft und Kultur. Es geht insofern immer bis zu einem bestimmten Grad um einen Antagonismus. Tatsächlich glaube ich, dass es bei bestimmten Themen zwar ziemlich schlimm ist, dass nur Männer reden oder das Eltern in keiner Weise vertreten sind. Ich fand es aber noch viel schlimmer, dass Anne Will immer vor allem Politiker einlädt, dass die Gäste bei Markus Lanz komplett überaltert sind, und dass Menschen unter 40 und erst recht unter 30 in allem Showns während der Corona-Zeit so gut wie gar nicht vorgekommen sind.
Jetzt auch noch Ostdeutsche und Migranten auszuzählen – da fängt es dann an, ein bisschen problematisch zu werden. Denn die Frage ist ja auch immer, als was eine Person in einer Talkshow sitzt, als Vertreter welcher Gruppe. Und dann natürlich, inwiefern diese Person womöglich auch verpflichtet sein soll, oder dafür zumindest vom Publikum und den Medienbeobachtern in Haftung genommen werden kann, eben diese Gruppe zu repräsentieren.
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Uns selber, dem Publikum, sollte klar sein, dass auch unser jeweiliger Blick auf bestimmte Personen ein Framing ist. Wenn wir zum Beispiel eine Frau in einer Talkshow sehen, ist dann alles in Ordnung, weil wir aufstöhnen können: Ach, endlich eine Frau!
Dabei macht es ja einen großen Unterschied, ob wir sie als Vertreterin „der“ Frauen wahrnehmen, also aller Frauen, oder womöglich doch eher als Vertreterin bestimmter Frauen – nämlich der Kinderreichen oder der Kinderlosen, der Mütter oder der Berufstätigen, oder ob wir vielleicht sagen: Sie ist jetzt eigentlich nicht als Frau hier in der Sendung, sondern für ihre Partei, etwa die Grünen oder die FDP, von denen nach meiner sehr oberflächlichen Zählweise vergleichsweise überdurchschnittlich viele Frauen in den Talkshows gesessen sind. Sie können aber auch als Lobbyisten und Vertreter einer bestimmten Lobbyorganisation, also für eine Gewerkschaft, für die Künstler oder für einen Unternehmerverband eingeladen sein. In allen diesen Fällen ist die Frau auf dem Bildschirm vielleicht gar nicht in erster Linie Frau. Sondern in erster Linie Vertreterin der genannten Gruppen.
Und jetzt haben wir noch gar nicht danach gefragt, ob diese Frau nun aus dem Osten kommt oder aus dem Westen?
Ist also Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wirklich eine Frau im Sinne der Talkshow-Repräsentanz? Oder ist sie womöglich viel eher eine FDP-Politikerin? Oder eine Vertreterin der Freiheits- und Bürgerrechte? Oder eine Westdeutsche? Oder eine Juristen, die den Bayerischen Verfassungsgerichtshof repräsentiert? Und ist Annalena Baerbock jetzt eine Grünen-Chefin oder eine Frau oder beides? Und ist sie dann auch noch Ostdeutsche?
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Das sind die Fallstricke der Identitätspolitik. Sobald man Identität, also Gruppenzugehörigkeit überhaupt wichtig findet, überwältigt sie das Individuelle, und erstickt es zunehmend.
Zugleich lässt sich zu jeder Identität noch eine und eine zweite Parallel-Identität finden. Und eine Gegenidentität. Und immer weiter.
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Wonach „Der Spiegel“ überhaupt nicht fragt, das ist zum Beispiel, ob jemand einer Religionsgemeinschaft angehört? Und wenn ja, welcher?
Man kann zum Beispiel ziemlich sicher sein, dass die Atheisten und Konfessionslosen in Talkshows permanent unterrepräsentiert sind, denn es handelt sich immerhin um über 40 Prozent der Deutschen. Aber selbst dann, wenn Menschen dort nicht als Kirchenvertreter sitzen, gehören sie im Fall von Politikern fast immer irgendeiner Religionsgemeinschaft an. Politiker, die das nicht tun, bekommen sehr schnell Schwierigkeiten mit der Öffentlichkeit. Dafür sind die Religionsgemeinschaften, die christlichen vor allem, nämlich zu gut organisiert. Ist ein Politiker religionslos, beginnt schnell eine kleine feine Hexenjagd – die natürlich nicht so heißen darf, und die nicht nur auf Hexen also Frauen, sondern auch auf Hexeriche zielt und die dafür sorgt, dass Konfessionslose in der Politik nicht hochkommen.
Ich erinnere mich noch, als in meiner Jugendzeit Björn Engholm einmal für kurze Zeit SPD-Vorsitzender war. Ganz ganz schnell ist Björn Engholm der 50 Jahre seines Lebens als Konfessionsloser gut gelebt hat, irgendeiner Kirche beigetreten, ich glaube, der evangelischen, und hat in den Zeitungen irgendwas erzählt, dass er ja eigentlich immer schon an Gott … und überhaupt …
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Es heißt immer: Es gab keine Alternativen zu den Pandemie-Eindämmungs-Maßnahmen. Und gerade wir Deutschen tendieren dazu, uns selbst auf die Schulter zu klopfen und zu behaupten, die Regierung habe alles richtig gemacht. Deutschland ist wieder mal Weltmeister. Nun auch im Pandemie-Eindämmen. Und daran gibt es auch überhaupt nichts zu kritisieren. Man blickt dann auf die anderen Länder mit ihren meistens höheren Todeszahlen.
Auf dem ersten Blick scheint die Evidenz also genau für diesen Eindruck zu sprechen.
Ich glaube allerdings, dass es ganz so einfach nicht ist. Wenn wir genauer hinschauen, sehen wir nämlich, dass eine ganze Reihe von anderen Ländern ziemlich ähnliche Maßnahmen initiiert hat. Manche von ihnen noch viel strenger als in Deutschland. Es wird ja auch von Politiker-Seite immer gerne behauptet, der Lockdown sei gar kein richtiger Lockdown gewesen und ein Shutdown habe nie stattgefunden. Lassen wir diesen Streit um Wörter mal dahingestellt. Ich glaube zumindest, dass es für die Gastwirte und die Kinobetreiber schon ein ziemlich richtiger Lockdown gewesen ist, der nach wie vor nicht ganz zu Ende ist.
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Aber warum haben die Maßnahmen in Deutschland soviel mehr Erfolg gehabt, als andernorts? Das ist mit den Maßnahmen selbst nicht zu erklären. Auch nicht mit dem Zeitpunkt der Maßnahmen. In Italien zum Beispiel gab es weitaus frühere und weitaus radikalere Ausgangssperren.
Mein Verdacht ist, dass die Gründe er im Kulturellen und Sozialen liegen.
Man muss hier sehr aufpassen, dass man nicht auf irgendwelche kulturellen Klischees reinfällt. Aber in den Ländern des Südens von Europa leben mehr Menschen und auch mehr Generationen unter einem Dach. Dort sind die Familien größer. Ich glaube auch, dass hier die Neigung, dem Staat Gehorsam zu schenken viel geringer ist. Mit anderen Worten: Es mag eine Ausgangssperre herrschen, oder nicht, aber Italiener treffen sich trotzdem und gehen auf die Straße. Und im Fall der Franzosen kenne ich selber mehrere, die sich eigentlich nur darüber unterhalten haben, wie man die Ausgangssperren und Regierungsmaßnahmen umgehen kann.
Daraus folgt: Es sind nicht die Ausgangsmaßnahmen, die die besseren Zahlen in Deutschland bewirken, sondern die Neigung, einer Regierung zu gehorchen, die in Deutschland und Österreich vermutlich etwas ausgeprägter ist als in vielen anderen Ländern.
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