Gedanken in der Pandemie 100: Im Zweifel für die Freiheit

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„Ist das Leben nicht schön?“ (USA 1946). | FOTO © RKO

Futter für den Winterschlaf: Meine ungeschriebenen Pandemie-Gedanken und endlich mal das Positive: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 100.

„Wenn nicht ich für mich bin, wer ist dann für mich?
Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?
Wenn nicht jetzt – wann sonst?“
Talmud

„Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?“
Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit 

„Im Zweifel für den Zweifel/ Das Zaudern und den Zorn/ Im Zweifel fürs Zerreißen/ Der eigenen Uniform
Im Zweifel für den Zweifel/ Und für die Pubertät/ Im Zweifel gegen Zweisamkeit/ Und Normativität/
Im Zweifel für den Zweifel/ Und gegen allen Zwang/ Im Zweifel für den Teufel/ Und den zügellosen Drang/
Im Zweifel für die Bitterkeit/ Und meine heißen Tränen/ Bleiern wird mir meine Zeit/ Und doch muss ich erwähnen/
Im Zweifel für Ziellosigkeit/ Ihr Menschen, hört mich rufen/ Im Zweifel für Zerwürfnisse/ Und für die Zwischenstufen.“
Tocotronic/Dirk von Lowtzow 

 

„Die Freiheit die ich meine/ kommt nicht von alleine“ – der alte Spontispruch soll am Anfang der hundertsten Ausgabe unserer „Gedanken in der Pandemie“ stehen, die auch ein Ende sind. Denn mit der heutigen Ausgabe gehen wir in den Winterschlaf. 

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Er ist nicht irgendeiner, sondern nach Einschätzung des Guardian nichts weniger als „The Brain of Britain“. Lord Sumption, Ex-Verfassungsrechtler, Jurist, Historiker und einer der ganz wenigen echten Liberalen, denen es um Freiheitlichkeit und Bürgerrechte geht, um Vernunft und darum, Zweifel und Ironie in der Balance zu halten. Ein toller Typ! 

Und das nicht (nur), weil er mir aus der Seele spricht mit einem Text ebenfalls im Guardian – zu Corona.

„Ich zweifle nicht an der Ernsthaftigkeit der Epidemie, aber ich glaube, dass die Geschichte auf die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung als ein Denkmal kollektiver Hysterie und staatlicher Torheit zurückblicken wird.“, sagt Sumption in einem Akt vorweggenommener Geschichtsschreibung. „Die Regierung hat absichtlich Angst geschürt und sich dabei wie ein autoritäres Regime verhalten, das auf Polizeistaatstaktiken setzt“, so der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof Jonathan Sumption.

Durch den Einsatz von „Propaganda“, sagt er, sei die Regierung „bis zu einem gewissen Grad in der Lage gewesen, ihre eigene öffentliche Meinung zu schaffen – Angst wurde von der Regierung absichtlich geschürt  […] Die Angst der Öffentlichkeit brachte die Opposition im Unterhaus effektiv zum Schweigen. Die offizielle Opposition wagte es nicht, die Regierung herauszufordern, außer dem Vorschlag, dass sie noch härter und schneller hätte sein sollen.  […] Die britische Öffentlichkeit hat nicht einmal ansatzweise den Ernst dessen verstanden, was mit unserem Land geschieht. Vielen, vielleicht den meisten von ihnen ist es egal, und es wird ihnen egal sein, bis es zu spät ist. Sie fühlen instinktiv, dass der Zweck die Mittel heiligt, das Motto jeder totalitären Regierung, die es je gegeben hat  […] Die Regierung hat die Macht der öffentlichen Angst entdeckt, um ihren Willen durchzusetzen.  […]

Die Leichtigkeit, mit der Menschen dazu terrorisiert werden können, grundlegende Freiheiten aufzugeben, die für unsere Existenz grundlegend sind  […] kam für mich im März 2020 wie ein Schock.“

Was soll ich sagen? Mich hat bis jetzt noch kein Argument davon überzeugen können, dies alles grundsätzlich anders zu sehen. 

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Und wer mir das nicht (mehr) glauben will, dem empfehle ich das im Januar erscheinende Buch von dem Wissenschaftler Dirk Richter. Er fragt: „War der Corona-Lockdown notwendig?“ und antwortet: „Der Lockdown war keine wirklich rationale Entscheidung aus wissenschaftlichen Kriterien heraus, sondern eine hilflose Reaktion, die sich als ,Herdenverhalten’ in einem Staat nach dem anderen abspielte.“

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„Wenn schon Untergang, dann möchte man doch wenigstens dabei gewesen sein.“ (Thomas Mann) – ich lebe zur Zeit in einer total beschränkten und begrenzten Welt. Ich kann nichts dagegen machen und gerade darüber bin ich ziemlich sauer. Aber ich möchte dieses Jahr nicht missen, um keinen Preis. 

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„Man würde mit dem Wissen heute keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen. Das wird nicht nochmal passieren.“ – man kann Demut aus diesem Satz von Jens Spahn im September 2020 lernen, aber sich auch wünschen, dass der Minister etwas mehr zu seinen Überzeugungen vom Sommer gestanden hätte.

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Wir geben unsere Freiheit zu schnell auf. Wir Deutschen schätzen Freiheit zu wenig. Das zeugt sich gerade daran, dass es hier zwischen „Corona-Leugnen“ und Unterwerfung kaum einen dritten Weg gibt.

Und wenn ich sage: Im Zweifel für die Freiheit, dann sage ich damit nicht, dass Freiheit nicht ihren Preis hätte.

Der Staat ist nicht der Feind. Aber der Staat ist auch kein Freund. Der Stadt ist ein Apparat, eine Maschine, die für uns gebaut wurde. Wir sollten sie als unser Instrument begreifen. Aber eben als ein Instrument, das uns zu dienen hat, dem nicht wir zu dienen haben.

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Der französische Staatspräsident Macron wurde positiv getestet. Das ist doch auch interessant: Wenn Politiker positiv getestet sind, dann wird immer betont, dass sie von zu Hause aus „weiterarbeiten“. Es wird nicht mehr von den Gefahren gesprochen, und plötzlich spielt die Aussicht im Krankenhaus zu landen, gar auf der Intensivstation, überhaupt keine Rolle.

Die untergründige Gehässigkeit, mit der jetzt wiederum vom Tod des sächsischen Kommunalpolitikers berichtet wurde, der offenbar auf Anti-Corona-Demos marschierte, zeigt auch das Bild einer Gesellschaft, in der ich eigentlich nicht leben möchte. 

Hier kommen verschiedene Dinge zusammen: Der Mann ist in der AfD gewesen, und er war offenbar ein Aktivist bei den Querdenker-Demos, unter anderem in Leipzig im November. Und bei vielem, was man nun darüber lesen kann, spielt zwischen de Zeilen sehr wohl Ansichten eine Rolle wie: „selber schuld“, „da sieht man mal was er davon hat“, „unglaublich das er trotzdem ging die Maßnahmen demonstriert hat“, wenn nicht sogar „recht geschieht’s ihm“ – eine solche Argumentation ist nicht nur in vieler Hinsicht dumm und fragwürdig, sie ist unmenschlich. Das geht natürlich damit los, dass man sich nicht über den Tod irgendeines Menschen freuen sollte, auch dann nicht wenn er in der AfD ist, auch dann nicht, wenn er die Corona-Maßnahmen kritisiert hat, oder sogar krude Verschwörungstheorien vertreten. Außerdem ist die Todesursache noch überhaupt nicht bekannt. Und wenn man möglicherweise sicher wissen sollte, dass der Mann mit Corona gestorben ist, dann ist es immer noch reine Spekulation zu glauben, dass er sich ausgerechnet auf der Corona-Demo in Leipzig infiziert hat. Und selbst wenn man das irgendwann vielleicht nachweisen kann – ist das ein Argument? Für was? 

Müsste man dann nicht ehrlicherweise auch alle die mitzählen, die sich auf der Leipziger Demo nicht infiziert haben? Möglicherweise liegt der Prozentsatz der nicht-infizierten Demonstranten dann nicht höher, als derjenigen, die sich auch Biomarkt und gerade im Bundesdurchschnitt einfach grundsätzlich infizieren. Und selbst dann könnten natürlich die Corona-Gläubigen – wie wir mal die Antithese zum Corona-Leugner nennen wollen – weiter innerhalb ihres Frames gemütlich verharren und sagen: Draußen infiziert man sich ja weniger.

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Vorgestern habe ich über den im Vergleich zu Deutschland etwas anderen Umgang der Luxemburger mit Corona geschrieben, und über die Arroganz des deutschen Blicks. Passenderweise hat sich gestern das „Luxemburger Wort“, eine der führenden Tageszeitungen des Großherzogtums (Motto: „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“) mit der Corona-Strategie in Deutschland befasst: „In den vergangenen Wochen war in Berlin eine politische Kakophonie zu beobachten. Erst sollten für die Weihnachts- und Silvesterzeit großzügige Ausnahmen gelten, dann wurde dies alle paar Tage wieder geändert. Am 13. Dezember kam schließlich die große Kehrtwende mit strengeren Weihnachtsbesuchsregeln und einer raschen Schließung des Einzelhandels, was zu heillosem Getümmel in den Städten führte. Wer jetzt nach einem Nachahmen der harten deutschen Linie ruft, sollte bedenken, dass eine vorausschauende Corona-Politik anders aussieht. Die Stärke des luxemburgischen Wegs ist, dass das Parlament deutlich besser eingebunden ist als im Nachbarland, wo eine kleine Runde aus der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten weitreichende Entscheidungen trifft. Zudem war der Kurs der luxemburgischen Regierung deutlich kohärenter als das deutsche Hickhack um die Weihnachtstage.“

Überhaupt sollten wir uns mehr umschauen, wie es das Ausland macht, was wir vielleicht von anderen lernen könnten. 

Wir sollten außer die deutschen Experten auch mehr ausländische hören. Und nicht nur die, die Deutschland loben.

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Wenn mir selber hier etwas gefehlt hat, dann ist es der Blick über den deutschen Tellerrand

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Ist die deutsche Corona-Strategie gescheitert? Ist Deutschland sehenden Auges in die Katastrophe gegangen? Das behauptet die „NZZ“. 

Tatsächlich glaube ich, dass wir uns alle etwas zu sehr auf die Schultern geklopft haben, auch diejenigen, die wie ich den Maßnahmen der Regierung und auch der allgemeinen Einschätzung der Pandemie gegenüber eher etwas skeptisch waren. Und sind.

Wir haben uns selbst bestätigt, wie gut doch in Deutschland im großen Ganzen alles gelaufen ist. Ob das jetzt wirklich auf die ersten drei Monate der Pandemie zugetroffen hat, das ist rückwirkend gar nicht so leicht zu entscheiden, aber wahrscheinlich schon. 

Nur ist die Frage, was danach passiert ist?

Deutschland hat sich ein bisschen benommen wie ein Marathonläufer, der nach dem ersten Drittel in Führung liegt, und sich aufführt, als hätte er das Rennen schon gewonnen. Schon im zweiten Drittel bist uns nun die Puste ausgegangen 

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„Nur wenn der Mensch die Gesellschaft in den Griff bekommt,[…] kann er seine Einsamkeit und das Gefühl der Ohnmacht überwinden, das ihn heute zur Verzweiflung treibt. Heute leidet der Mensch nicht so sehr unter der Armut wie darunter, daß er zu einem Rädchen einer großen Maschine, zu einem Automaten wurde und daß sein Leben leer und sinnlos geworden ist. Der Sieg über autoritäre Systeme aller Art wird nur möglich sein, wenn die Demokratie nicht den Rückzug antritt, sondern die Offensive ergreift und das in die Wirklichkeit umsetzt, was alle jene im Sinn hatten, die in den vergangenen Jahrhunderten für die Freiheit gekämpft haben. Sie wird nur dann über die Kräfte des Nihilismus triumphieren, wenn sie die Menschen mit dem stärksten Glauben erfüllen kann, zu dem der menschliche Geist fähig ist: mit dem Glauben an das Leben und an die Wahrheit und an die Freiheit als der aktiven und spontanen Verwirklichung des individuellen Selbst.“
Erich Fromm, „Die Furcht vor der Freiheit“ 

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„Das Leben ist der Güter höchstes nicht,/ Der Übel größtes aber ist die Schuld.“
Schiller, „Die Braut von Messina, IV,10“

Schiller kann nichts dafür, dass ihn Alexander Gauland zitiert hat. 

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Vergessen wir nicht die Fragen, die wirklich wichtig sind. Letzte Tips dazu: Verena Weidenfeld ist eine großartige Autorin und eine scharfe Denkerin. Wer auf Facebook mit ihr befreundet ist, kann das dort täglich lesen. Alle anderen müssen auf die gelegentlichen Texte warten, etwa in der Zeit, wo sie alles schreibt, was wir zum Umgang mit den Rechtsextremisten wissen müssen. 

Empfehlenswert auch die wohltuend liberale Glosse des SZ-Autors Dirk von Gehlen. Zum Beispiel dieser „Brief an corona-zweifelnde Facebook-Freundinnen“.

Und der Verfassungsblog von klugen, freiheitlichen Juristen. Für alle, die sich nicht nur für Meinungen interessieren.

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100 Folgen, das sind deutlich über 1 Million Zeichen. Zwei Bücher mittlerer Größe. Dazu kommen Tausende von Tippfehlern, die zu viele sind, um sie immer wegzuredigieren. Und unzählige Denkfehler …

Dazu kommen auch die vielen ungeschriebenen Pandemie-Gedanken. Über Chinas Sieg, über die Argumente der FDP, über Indien und den Iran im Lockdown, über, über, über …

Meine persönlichen Lieblingstexte während dieser Zeit waren das „eiskalte Aufklärungsmanifest“ von Maxim Biller in der „Zeit“, Juli Zehs Warnung vor übertriebenem Sicherheitsdenken auf Kosten der Bürgerrechte und Tendenzen zu einer Gesundheitsdiktatur in Zeiten von Corona, und das „Spiegel“-Interview mit Frank Castorf übers Händewaschen und Angela Merkel. 

Corona stellt uns sehr humorlos und ungemütlich vor den Tod. Den eigenen potentiellen, aber noch mehr den der anderen, unserer Freude, Bekannten und all derer, die wir nicht kennen. Corona stellt uns vor unbequeme Entscheidungen. 

Meine Corona-Helden waren nochmal Juli Zeh mit ihren diversen immer etwas nickeligen und ziemlich humorlosen, aber zutreffenden Interventionen, die auch vor Sätzen wie „Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit“ nicht zurückscheut, es ist Boris Palmer mit all seiner persönlichen Eitelkeit und schwäbischen Rechthaberei, mit der er aussprach, was alle gern totschweigen wollten, nämlich, dass jedes Leben zu retten eine Illusion ist und nebenbei sehr praktisch vieles tat, um Menschenleben zu retten. Es ist Thea Dorn, die konsequent gegen Corona-Kitsch Stellung nimmt, und deutlich sagt, dass es Schlimmeres gibt, als den Tod: Unter anderem den elenden Tod. Es ist auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin, der zum Beispiel in seinem wohltuend unvirologischen Corona-Podcast eine der zugleich nachhaltigsten wie unaufgeregtesten Stimmen in der Pandemie war, und der Philosophie als der Stimme der Kritik und der Skepsis gegenüber dem Bestehenden als einer der ganz wenigen seiner Zunft alle Ehre machte; und tatsächlich (vor allem zu meiner eigenen Überraschung) Wolfgang Schäuble, der die Tatsache, dass er es als alter Mann und Behinderter  und Attentatsopfer in einem als einer der wenigen unwidersprochen bei uns sagen darf, dazu nutzte allen Moralisten und selbsternannten Lebensschützern unter die Nase zu reiben, dass man dem Schutz des Lebens nicht alles andere unterordnen darf – aus moralischen Gründen. 

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Weil ich es auch schon ein paar Mal gefragt wurde, hier meine Pakete für die einsame Insel oder den dritten Lockdown, jeweils in alphabetischer Reihenfolge, alles sehr spontan unter großer Vergesslichkeit hingeschrieben: 

10 Philosophen: Adorno, Arendt, Beauvoir, Hegel, Machiavelli, Montaigne, Nietzsche, Sartre, Schmitt, Sontag. 

10 tote Autoren: Conrad, Dostojewski, Frisch, Heine, Mann, Kleist, Koeppen, Musil, Stendhal, Wilde. 

10 Lyriker: Benn, Brecht, Eliot, Kipling, Rilke, 

10 lebende Autoren: Karl-Heinz Bohrer, Jürgen Habermas, Lisa Herzog, Frederic Jameson, Alexander Kluge, Richard Sennet

10 Musiker und Komponisten: Beethoven und Tocotronic, Lana del Rey und Dean Martin, dann noch Schostakovitch und Georges Delerue, das reicht für ’ne Weile.

10 Filmregisseure: Antonioni, Bonello, Sofia Coppola, Donen, Chaplin, Godard, Kubrick, Lang, Truffaut, Wong Kar-wai

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Wie gesagt: Jetzt gehen wir erstmal in den Winterschlaf. Ich selber auch über die nächsten noch ruhigeren drei Wochen hinweg weiterlesen, -hören, -sehen und -denken. Auch öffentlich. Und bald im Neuen Jahr werde ich oder werden wir uns wieder melden, und auch die „Gedanken in der Pandemie“ weiterführen. Wenn nicht hier, dann woanders. Wer es nicht abwarten kann, darf mir gerne direkt schreiben: (Aktiviere Javascript, um die Email-Adresse zu sehen)

Ich weiß, dass diese Gedanken auch manchen auf die Nerven gegangen sind. Dass einige sie nicht mehr gelesen haben, oder über bestimmte Ansichten empört waren. Es gab immerhin auch die, die das zu schätzen wussten, manche haben regelmäßig gelobt, und ich weiß von einer Leserin, die alle Folgen aufhebt, um sie mal ihren Enkel zu zeigen. 

Zu dieser Provokation von Reaktion durch Irritation, stehe ich, das war eigentlich der Sinn der Sache. Denn anders war es nicht zu haben: Dieser Blog sollte nie eine mediokre seichte Soße sein, er sollte überraschen, irritieren, ärgern, provozieren, sogar gelegentlich erschüttern – jedenfalls die Gewissheit der Ansichten. 

Corona ist keine Daily-Soap. Corona (die Seuche Covid_19 wie die Reaktionen auf sie) ist tödlich und böse. Wir sollten uns nie an sie gewöhnen, sondern Corona als den Ausnahmezustand erkennen, der er ist. Corona konsumierbar, verträglich und verzehrgerecht aufzubereiten, wäre obszön. Es ist auch nicht vom lieben Gott oder von Mutti Merkel eingerichtet worden, um uns zu besseren Menschen zu machen, oder um uns zu lehren, „was wirklich zählt“, dass wir auch ganz anders leben könnten, und dass das gut wäre. Sie ist auch nicht von irgendwelchen obskuren grauen Verschwörer-Herren gemacht worden, um den „Great Reset“ auszulösen (wie die neueste und verführerisch kluge Conspiracy-Theory lautet – wer’s nicht kennt: einfach googeln), oder um uns zu einem Wabenvolk umzupolen, das am liebsten zu Hause auf der Couch sitzt, Streaming-Serien guckt, und nicht mehr weiß, wie Rausgehen geht und was Kinos oder Gaststätten sind. Auch wenn es manchmal so wirken könnte. 

Corona ist vielmehr ein Lehrstück über die Macht des Zufalls. Und wenn die Handelnden in Medizin, Politik, Sozialtechnik heute immer wieder auf die eine oder andere Weise bemerken, es gäbe keine andere Strategie, als den Strategie-Verzicht, als taktisches „Fahren auf Sicht“, dann ist das zwar kein Argument gegen so etwas wie eine Lebensstrategie, oder bescheidener gesagt: eine Haltung zu haben. Aber es ist eine richtige Beobachtung. Es beschreibt den Zustand, in dem wir uns alle sowieso befinden, auch ohne Corona, nämlich die Freiheit. Jean-Paul Sartre hat es so formuliert: „Wir sind zur Freiheit verurteilt!“ Es gibt gar keine andere Alternative, als die, dass wir frei sind. Das heißt, dass wir unsere eigenen Gesetzgeber sind. Wir selbst, kein anderer entscheidet, ob wir auf die Ratschläge der Regierung hören, oder ob wir uns zum Widerständler gegen sie entwerfen, oder ob wir – wie es wahrscheinlich die meisten von uns tun – uns so durchwurschteln, mal einigermaßen regelkonform und mal die Regeln brechend: „Das macht doch nichts, das merkt ja keiner.“

Corona macht uns diese Freiheit sehr deutlich. Corona gibt uns die Chance, das zu verstehen, was Sartre, der ist am eigenen Leib erfahren hatte, später sehr bewusst provozierend so formuliert hat: „Wir waren nie so frei, wie unter der deutschen Besatzung.“ Sartre wollte damit sagen, dass wir, dass die Menschen, in diesem Fall die Franzosen, gerade unter einem menschenverachtenden terroristischen Regime verstehen können und zwangsläufig verstehen lernen, dass es nur auf sie ankommt. Nur auf das, was sie selber tun. Nicht auf irgendwelche Gesetze; schon gar nicht auf irgendwelche Moralvorschriften, oder auf den lieben Gott.

In diesem Sinne werden wir nie so frei sein, wie unter Corona.

Diese Freiheit will ich deutlich machen. Immer wieder. Mal direkt, mit der Faust aufs Auge, mal indirekt durchs Zitieren eines schönen Gedichts, mal im Dialog mit Medien und Medienmeldungen.

Wenn es ab und zu geglückt ist, dann auch weil es unterhielt. 

Dieser Blog sollte unterhalten – nicht zuletzt mich selber. Denn, ich habe schon mal erwähnt, dass ich das hier auch gemacht habe und weiter mache für mich selber. In der neuesten „Zeit“ ist im Magazin ein schönes Interview mit der Psychologin Kate Sweeny, die über Achtsamkeit und Flow nachdenkt, und uns allen im Lockdown letztendlich den Flow empfiehlt. Denn der Flow sagt sie sei „ein aktiver Zustand“. „Er beruhigt den Geist, erzeugt positive Gefühle und den Eindruck, dass die Zeit schneller vergeht. Wir wissen dass der Flow viel eher dann entsteht, wenn man sich aktiv mit einer Sache beschäftigt, die einen herausfordert, die man aber auch bewältigt, als wenn man einfach nur herumsitzt.“

So ging es mir mit diesem Blog. Danke, dass ihr mich begleitet habt, alles Gute, und wie man jetzt sagt: „Negative Weihnachten!“ 😉

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Postskriptum: Erinnern möchte ich zu guter Letzt auch noch an einen, über den ich bisher – nicht aus Versäumnis, sondern weil es einfach nicht gepasst hat – noch nie geschrieben habe: Max Weber, der Münchner Soziologe, der auch ein Philosoph ist, und dessen Werk das 20. Jahrhundert, aus dem wir alle irgendwie nach wie vor kommen, entscheidend mitbestimmte. Schon im Juni 2020 war sein 100. Todestag. Max Weber ist ein entscheidender Stichwortgeber der Moderne. 

Zum Beispiel „Modernisierung“, „Ausdifferenzierung“, „Rationalisierung“, „Kulturmacht“ und „Lebensführung“ – mit diesen Stichworten kann man so ziemlich alles gut analysieren und treffend beschreiben. Auch die gegenwärtige Pandemie.

Von Max Weber können wir lernen, den Selbstgewissheiten der Moderne und den Forderungen des Tages eine angemessene Skepsis entgegenzubringen, ohne an der Moderne zu verzweifeln, ohne in Kulturpessimismus abzugleiten, und ohne den Traum der Vernunft aufzugeben und durch den Schlaf der Vernunft zu ersetzen – auch das ist die Freiheit, die ich meine.