Gedanken in der Pandemie 06: „Das nenne ich Glamour!“
Wenn der Notfall da ist, kann man ihn nicht vorbereiten. Handeln kann man aber trotzdem: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 06.
„Unsere Körper pulsieren im Beat der Angst.“
Sasha Marianna Salzmann
Hattet ihr, liebe Leser, ein angenehmes Wochenende? Wie ist es auf der Insel namens Corona-Island? Sonnig am Samstag, kalt am Sonntag. Wer hat den Online-Gottesdienst besucht, für wen war es ein Werktag im Heimat-Büro, äh Home Office? Wer ist rausgegangen und wer kommt schon auf zweistellige Tage im geschlossenen Pandemie-Knast? In den 70er-Jahren kam bei der politischen Linken, die mit den „politischen Gefangenen“ der RAF sympathisierte, der Ausdruck „Isolationsfolter“ auf. Wenn man denen gesagt hätte: Das ist doch „Social Distancing“, das würde uns allen ganz gut tun, hätte es zynisch geklungen. Heute meinen das nicht wenige ernst – jedenfalls den letzten Satz. Bin gespannt, wann der Ausdruck „Isolationsfolter“ wieder in Mode kommt. Kann nicht mehr lange dauern – wetten das?
Und für wen ist Corona-Island wie ein Gang in eine riesige Bibliothek oder Mediathek? Oder bleibt man einfach im Bett? Schon Lagerkoller?
Ein bisschen entwickelt man wohl auch das Gefühl einer Weltraumfahrt: Völlig losgelöst, von der Erde, fliegt das Raaaaauuuumschiff …“ Man kann sich verlieren – keine Ground Control für den Major Tom in uns allen. Das Lied von David Bowie habe ich am Samstag gehört, ein Lokal, das in Berlin-Mitte Straßenverkauf macht, hatte gedacht: Da machen wir doch gleich noch Samstagsnachmittagsdisko für die ganze Straße.Immerhin war die Musik gut.
Wenn es so etwas geben sollte, wie eine Corona-Ästhetik, die sich langsam formt, dann gehören zu der neben den neuen Moden des Ausgehens, vor allem dem neuen Charme des Maskentragens und der Gesichtsvermummung – erlesene Bemalungen für Atemschutzmaske, Designermasken zum Kaufen oder Stoffe für den selbstgebastelten OP-Mundschutz, etwa aus Seide – auch die Farbe der Einmal-Gummihandschuhe, mit der Obst und Gemüse eingepackt wirkt. Wichtiger aber: Das plötzlich die technische Qualität bei Interviews im Rundfunk und Fernsehen, oder bei der Übertragung während Online-Meetings niemanden mehr interessiert.
Das Downgraden aller geschmacklichen Maßstäbe, das gerade stattfindet, könnte eine Chance sein, darf sich aber nicht gegen die Kunst selbst richten und zu einem ästhetischen Populismus und einer Lidl-Version von Kunst führen.
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Natürlich sind das alles alles Luxusprobleme. Luxuswahrnehmungen. An denen zumindest ich, keine Frage, meinen Anteil habe. Und mich zugleich deswegen über mich selbst ärgere. Weltentfremdung ist auch Selbstentfremdung, kein Ichgewinn.
Zugleich habe ich den Eindruck, dass sich neben den Diskurs der Mediziner und Virologen, der den Anfang von Corona und dem sich langsam steigernden Ausnahmezustand dominierte, und dem zweiten, der Debatte um Wirtschaftlichkeit und Effizienz, die letzte Woche aufkam, und bei der vor allem nach den materiellen Kosten des Ausnahmezustands gefragt wurde, und erste, noch holzschnittartige Exit-Strategien in den Medien debattiert wurden, nun in dieser Woche allmähliche eine dritte Ebene in die Medien-Diskurse Einzug hält, ohne das die anderen verschwinden: Die soziale, gesellschaftliche Ebene. Die immateriellen, nicht in nackten Zahlen berechenbaren Kosten der Pandemie, für die Psyche, für die Familien, für die Kinder.
Ein ziemlich trauriges Gespräch hörte ich heute Morgen dazu im Deutschlandfunk. Dort wurde Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“ interviewt, und erklärte: „Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort„. Die momentane Situation verschlimmere die Lage für viele Jugendliche und Kinder.
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Um „nackte Zahlen“ geht es trotzdem oft in diesen Tagen. Nackte Zahlen können erschüttern, sie können auch trösten. Neben den Zahlen, die viele von uns derzeit auf der Seite der Johns-Hopkins-University nachlesen, gibt es eine nicht weniger interessante Aufstellung auch das Worldometer. Auch jenseits von Corona erfährt man hier viel und ohne dauernde Werbung und Angeboten für Updates – übrigens stehen hier auch viele Zahlen jenseits der Pandemie.
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Ich möchte bei dieser Gelegenheit alle Leser daran erinnern, dass man Bücher und DVD nicht bei Amazon bestellen muss. Andere Dinge übrigens auch nicht. Amazon verdient sich gerade auch ohne Euch dumm und dämlich. Allein am heutigen Montag hat die Amazon Aktie 50 Euro zugelegt. Das sind zwar nicht wahnsinnig viel, weil eine einzige Amazon-Aktie 1.784 Euro kostet, waren also „nur“ 2,9 Prozent gewonnen. Letzte Woche wurden Milliardengewinne pro Tag seit Beginn von Corona gemeldet – ganz so ist es über den kompletten Monat nicht, da zwischendurch auch ein heftiger Börsenkrach zu verzeichnen war. Trotzdem sind dies insgesamt schöne Tage für alle, die bei Amazon arbeiten. Noch schöner wäre es, wenn die Mitarbeiter davon etwas abkriegen würden. Aber das Wichtigste ist: Wenn ihr Bücher und DVDs bestellen wollt, dann gibt es andere Möglichkeiten. Wer unbedingt im Internet bestellen muss, und den klassischen Buchhandel nicht unterstützen will, oder zu denkfaul ist, um sich kurz zu überlegen, in welchen Buchhandlungen um die Ecke man bestellen könnte, der sollte – wenn schon, denn schon – bei booklooker bestellen. Wer antiquarische Bücher bestellen will, der kannn gut bei ZVAB, der „Zentralstelle für antiquarische Bücher“ recherchieren; dann aber sollte man nicht bei ZVAB bestellen, sondern direkt bei den Antiquariaten und Buchhändlern, die dort aufgeführt sind. Das ist ein kleiner Schritt mehr Arbeit, aber er bringt den Buchhändler sofort, je nachdem, bis zu 30 Prozent mehr Geld.
Am besten aber ist es natürlich, direkt bei dem Buchhändler zu bestellen, bei dem man hoffentlich auch sonst einkauft. So kann man Menschen, die man kennt und mag direkt unterstützen. Denn diese ganzen kleinen Buchhandlung müssen früher oder später zumachen, wenn ihnen der Umsatz wegbricht. Bei Berliner Buchhandlungen kann man Bücher sogar direkt bestellen und abholen.
Da ich mal annehme, dass ziemlich viele unserer Leser in Großstädten leben, habe ich zumindest mal für die vier größten Großstädte Buchhändler aufgeführt, die aus meiner Sicht unterstützenswert sind, und bei denen ich, wenn ich in der jeweiligen Stadt bin, gerne einkaufe. Jeder der möchte, kann mir natürlich auch weitere Buchhändler ihres oder seines Vertrauens zu mailen.
In Berlin, wo Buchhandlungen ja noch aufhaben: Ocelot, Pro qm, Bücherbogen.
In München das Optimal (auch ein toller Plattenladen).
In Hamburg die Heinrich-Heine-Buchhandlung.
In Köln Buchhandlung Klaus Bittner.
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Ein Schulfreund von mir, der Jura studiert hat, sagte zu mir, nachdem er durch sein erstes Stastsexamen geflogen war und ein paar Monate lang intensivst einen neuen Anlauf nahm: „Jetzt macht Jura erst richtig Spaß!“ Ich habe mir diesen Satz über ein Vierteljahrhundert gemerkt, weil er mir wie eine prototypische Formulierung aller Schönredner vorkam, all jener, die noch die deprimierendsten Erfahrungen in eine Botschaft aus Optimistismus und Hartnäckigkeit verwandeln – kontrafaktisch versteht sich, gegen jede Lebensrealität, denn ich habe das Gefühl dass jener Schulfreund bis heute nicht Jurist aus Leidenschaft ist, sondern weil er sich nicht eingestehen mochte, dass ihn das eigentlich nicht interessiert.
„Jetzt macht Jura erst richtig Spaß!“ daran musste ich denken, als ich im Berliner „Tagesspiegel“ die Schlagzeile las: „Der Shutdown als Chance„. Solches, … pardon: Gerede, hört man zur Zeit schon viel zu oft. Der Text, der sich dahinter verbirgt, ist dann in diesem Fall allerdings viel facettenreicher und interessanter, als man fürchtet. Schon arg alarmistisch in der Rhetorik, wenn es da heißt: „Die Bewährungsprobe findet jetzt statt. Alles, was wir zu tun haben, haben wir jetzt zu tun.“ (das ist allerdings ein Zitat von Christina Thürmer-Rohr: „Abscheu vor dem Paradies“, 1987).
Die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann erklärt, was die Kulturszene aus ihrer Sicht in der Krise tun kann, und fordert von Kulturschaffenden, jetzt „Solidarität zu zeigen und sich für Grundrechte einzusetzen.“
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Hier ein Ausschnitt aus dem „Appell“ (militärisches Wort übrigens) genannten Text, und gutes Schlusswort für heute:
„Wie wird die Welt aussehen im Herbst? … Es ist zu spät, sich auf einen Notfall vorzubereiten, wenn er da ist. Er legt lahm und zeigt die ohnehin versehrten Stellen. Die Krise funktioniert wie die Krise einer jeden Beziehung. Und so sind wir unter Schock, aber nichts überrascht. Die Krise, die die Pandemie über uns bringt, funktioniert wie die Krise einer jeden Beziehung: Man hat schon vorher von den Problemen gewusst, konnte sie aber entweder verdrängen oder kleinreden.
[…]
Und diejenigen, denen schon immer langweilig war, die schon immer glaubten, Probleme lägen außerhalb der europäischen Grenzen in Ländern mit schwer einprägsamen Namen, stellen sich auf dauerhaftes Netflix-Streaming, endloses Gaming und photogene Lethargie ein. Daran ändern auch die Bilder des Militärkonvois mit Särgen auf dem Weg von Bergamo nach Modena gar nichts.
Wer immer nur an den eigenen Arsch denkt, deckt sich mit Klopapier ein.
[…]
Und wir, die Kunst- und Kulturschaffenden, haben die Zeit, uns dafür einzusetzen, oder mehr noch: Es ist unser Job, Zusammenhänge anschaulich zu machen und Fragen aufzuwerfen. Wir könnten einfordern, dass neben bedingungslosem Grundeinkommen auch eine globale Krankenversicherung Gegenstand der politischen Debatten sein muss. Wir brauchen diese Grundrechte nicht nur für Deutschland. Dass die kaputtgesparten Gesundheitssysteme in Ländern wie Spanien und Italien mit der Herausforderung durch Corona nicht fertigwerden, ist auch eine Folge der europäischen Austeritätspolitik. Sie schlägt nun wie ein Pendel auch Richtung Deutschland zurück.
Wir sind ineinander verflochten wie Zöpfe. Und wem die Forderung nach Solidarität zu viel Eso-Kram ist, wird vielleicht das Argument verstehen, dass Deutschland nicht allein aus Altruismus die Nachbarländer in dieser Krise unterstützt und Beatmungsgeräte nach Italien liefert. Kein Land wird allein virusfrei, ganz egal, wie lange die Grenzen geschlossen bleiben. Übertragen wir diesen simplen Fakt auf unsere unmittelbare Umgebung.
Wie in Beziehungen, von denen man glaubte, sie lägen in Scherben, und die nun, in der Krise, doch wieder Bestand haben, können wir anfangen, uns um die Bereiche zu kümmern, die vorher außerhalb unseres Sichtfeldes lagen. Es kann, muss aber nicht notwendigerweise die nächste Serien-Empfehlung sein, es kann auch ein Zettel im Hausflur sein, auf dem man Hilfe anbietet.
Wir haben maßgeblichen Anteil daran, wie die Welt Herbst aussieht.
[…]
Wir könnten den Institutionen, mit denen wir arbeiten, schmackhaft machen, es genauso zu halten wie die Filmfestspiele in Cannes, die nach mühseligem Hin und Her nicht nur das Festival absagten, sondern ihren Veranstaltungsort Obdachlosen zur Verfügung stellten. Das nenne ich Glamour.“