Gedanken in der Pandemie 135: Seelischer Impfstoff und Corona-Washing

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Ab Donnerstag im Kino: Die Langzeitdokumentation „Aufschrei der Jugend – Fridays for Future inside“ begleitet die Bewegung über anderthalb Jahre. | Foto © W-Film

Frauen, Bücher, Fußballer in Coronazeiten – Gedanken in der Pandemie, Folge 135.

„Sensibilität ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Im Kampf um Anerkennung unterdrückter Gruppen spielt sie eine wichtige Rolle. Aber sie kann auch vom Progressiven ins Regressive kippen. Über diese Dialektik müssen wir nachdenken, um die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden.“
Svenja Flaßpöhler, Philosophin

„Wenn eine Frage an uns gestellt wird, müssen wir antworten. Die Frage ist immer nur: wie tun wir das, wann tun wir das und in welcher Form tun wir das. Die schnelle Antwort ist ja nicht immer die beste.“
Felicitas Hoppe, Schriftstellerin

„Bücher sind Empathie-Maschinen.“
Margaret Atwood

Ja, jetzt gehen die Zahlen wieder hoch. Und zwar rasant! Die Diskussionen kehren wieder, wie Inzidenzwerte zu bewerten sind, was im Sommer versäumt wurde, was man sich in Kulturstätten und an den Schulen trauen darf, ob Kinder besonders gefährlich, besonders zu schützen, oder beides sind. Und wie in den letzten bald zwei Jahren debattieren wir in Deutschland so, als ob wir allein auf der Welt wären, als ob wir von anderen Ländern nichts zu lernen hätten.

Corona wird uns also nicht so schnell verlassen, das steht fest; es wird über diesen Winter hinweg ein dichter täglicher Begleiter bleiben, und es wird auch im kommenden Jahr ein Jahr mit Corona sein, und hoffentlich ein Leben trotz Corona. 

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Um so mehr ist Dummheiten entgegenzutreten, wie den Äußerungen von Fußballnationalspieler und FC Bayern-Liebling Joshua Kimmich, der offenbar im Training ein paar Kopfbälle zu viel gemacht hat. Der Fall Kimmich, zu dem er seit Samstagabend geworden ist, seit Gutmenschen einerseits, Querdenker andererseits die vor allem naiven Äußerungen auszuschlachten versuchen.

Im Interview mit der ARD-Sportschau bestätigt Kimmich all die Vorurteile, die Fußball-Verächter immer schon über Fußballer hatten, und zeigt außerdem, warum Fußballer nicht genug Medientraining bekommen können. Denn wenn schon Impfverweigerer, dann sollte man dazu nicht noch Interview geben, jedenfalls nicht als Nationalspieler. Jetzt werden die Verantwortlichen kaum darum herumkommen, den Fußballer zu sanktionieren, zumal Kimmich auch noch ein Paradebeispiel für Doppelmoral bietet. 

Aber der Reihe nach: „Ausgerechnet“ der Bayern-Star, der auf dem Platz gern vorangeht und behauptet, als Profi „Verantwortung zu übernehmen“ und „über den Tellerrand“ zu schauen. Er habe „persönlich noch ein paar Bedenken, gerade, was fehlende Langzeitstudien angeht“, sagte Kimmich bei Sky. Er betonte, dass er es schade finde, dass es in der Auseinandersetzung mit der Thematik „nur noch geimpft oder nicht geimpft“ gebe, so Kimmich weiter. „Und nicht geimpft bedeutet dann oftmals gleich, dass man Corona-Leugner oder Impfgegner ist. Aber ich glaube, es gibt auch ein paar andere Menschen zu Hause, die einfach ein paar Bedenken haben, was auch immer die für Gründe haben. Und ich finde, auch das sollte man respektieren. 

Das Thema Impfen wird in Deutschland sowieso sehr emotional diskutiert. Und jetzt erklärt ausgerechnet ein Fußball-Profi seine Impfverweigerung.

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Jetzt reden alle von „Vorbildfunktion“ eines Fußball-Profis. Das ist lachhaft. Besser sollten sie von Kimmichs Aktion „We Kick Corona“ reden. Eine Alibihandlung? Corona-Washing?

Wer hier natürlich nicht fehlt, ist Karl Lauterbach, der sich erwartbar einfach immer reflexhaft zu Wort meldet, und zwar mit ebenso erwartbaren Ansichten: „Ich war davon ausgegangen, dass er geimpft ist“, zeigte sich Lauterbach überrascht. „Am besten wäre es, wenn die Impfung noch käme. Wir dürfen keinen Druck aufbauen, aber es wäre wertvoll, wegen der enormen Symbolwirkung.“

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Über den Wahl-O-Maten haben wir vor der Bundestagswahl öfter geschrieben. Lustig war dazu im Nachgang der Auftritt eines Junge-Union-Politikers, der bei „Markus Lanz“ (ab 1.01.37) gezeigt wird, wie er seiner Partei vorhält, bei welchen Fragen im Wahl-O-Mat die CDU gar keine Antwort vorgegeben hat: „Chinesische Firmen, Ökologische Landwirtschaft, Mindestlohn  – keine Antwort! Wie kann das sein? Sorry. Und das ist nur der Anfang.“

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Was ein genauso guter, aber eher persönlicher Lackmustest des Politischen ist, ist eine Frage, die sich jeder selbst stellen kann: Mit welchen Politikern und welchen Person des öffentlichen politischen Lebens würde man am Liebsten einen Tag verbringen und sich mit ihnen unterhalten, ihnen Fragen stellen? 

Da muss ich ehrlich sein: so sehr ich an dieser Stelle gute Gründe aufgefahren habe, warum man sich darüber freuen muss, dass die SPD an der Regierung ist und nicht die CDU, und dass die FDP an einer neuen Regierung beteiligt ist – so wenig Lust habe ich gerade, mich mit irgendeinem aktuellen FDP-Politiker länger zu unterhalten. Mit Christian Lindner? Ganz bestimmt nicht; irgendwann mal vielleicht mit Johannes Vogel und Konstantin Kuhle und Ria Schröder. Der einzige, mit dem man vermutlich einen netten Abend hätte, ist Wolfgang Kubicki. Weil der sich nicht ernster nimmt als nötig. Aber sehr viele Fragen hätte ich an Kubicki,  glaube ich, auch nicht. Und wen aus der SPD? Kevin Kühnert, klar. Ansonsten? Fehlanzeige! Bloß nicht, größtenteils Langweiler. 

Sehr gerne einen Tag verbringen würde ich allerdings mit den beiden Spitzen der Grünen. Mit Robert Habeck noch deutlich lieber als mit Annalena Baerbock. Auch mit einigen anderen wäre es spannend, Boris Palmer natürlich, das wäre zwar auch bestimmt sehr sehr anstrengend, aber trotzdem interessant. 

Der Mensch, dem ich allerdings am allerliebsten mal einen Tag lang Löcher in den Bauch fragen würde,  ist keine Partei-Politikerin, aber eine wichtige Politikerin gleichwohl: Luisa Neubauer von „Fridays for Future“. Am Donnerstag kommt Kathrin Pitterlings Dokumentarfilm „Aufschrei der Jugend – Fridays for Future inside“ in die Kinos, eine Langzeitdokumentation, die die Geschichte der FFF portraitiert. Auch Neubauer begleitet man dort über mehr als ein Jahr, und begreift was sie von vielen ihrer Mitstreiter unterscheidet: Sie ist optimistisch, humorvoll, und bewahrt sich in nahezu jeder Situation einen Sinn für Ironie. 

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Wenn man sich letzte Woche auf der Buchmesse bewegte, dann war es ziemlich entsetzlich: Die Gänge waren dreimal so breit und die Verlagsstände dreimal so klein, wie sonst. Es gab nur ungefähr ein Sechstel der Menschen, das heißt es sei selbst dort wo sich Publikumsverlage tummelten sah es aus, wie sonst bei den Fachverlagen und zwar bei den eher unbekannten und unwichtigen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren strenger als in jeder Buchhandlung. Man dürfte zum Beispiel viele Stände nicht betreten. Eine Mitarbeiterin ist Fischer Verlag war nicht bereit, Visitenkarten einer Übersetzerin vor mir anzunehmen. „Ich darf nichts annehnmen.“ Überall gab es Cafés und Bänke, auf denen dann stand, man solle 1,5 Meter Abstand halten, obwohl die Bänke selbst schon in weniger Abstand zueinander standen. Und die Bänke standen natürlich nur deswegen herum, weil es keine Stände gab. Die Buchmesse war grob gesagt so, als ob die Pandemie gerade begonnen hätte. Jeder der in diesem Jahr in Cannes war, oder in Venedig oder in San Sebastian, der weiß, das ein Festival in anderen Ländern anders funktioniert, als Buchmesse bei uns. 

Und die Berlinale, die im kommenden Frühjahr stattfinden will, die muss eigentlich besser nicht stattfinden, wenn es so sein wird, wie diese Buchmesse.

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Ich kann nicht an Gott glauben, aber Religion und Kirche sind für mich als Kulturleistungen um so faszinierender. Dazu gab es am heutigen Montag in Deutschlandfunk ein bemerkenswertes Gespräch mit der Schriftstellerin Felicitas Hoppe. Die Büchnerpreisträgerin ist nach ihrer eigenen Aussage „keine katholische Schriftstellerin, aber eine Schriftstellerin, die katholisch ist.“ Jetzt hat sie einen Essayband veröffentlicht, der viele Texte zum Verhältnis von Literatur und Religion enthält. 

Hoppe erzählt von Kindheit und Elternhaus: „Wir waren in einem Zustand der ständigen Berieselung, es war eine ganz unakademische Erziehung, aber eine sehr wissenszugewandte.“ Sie beklagt, dass sie heute, in Zeiten des allgemeinen Bildungsverfalls „mit einem bestimmtem Anspielungsapparat nicht mehr arbeiten kann“: „Arche Noah“ oder „Josef und seine Brüder“ kennen die Kinder in der Schule nicht mehr. 

Hoppe wendet sich gegen die modische (neoliberale?) Vorstellung von der Kirche als einer Art höherer Serviceagentur mit spirituellem Anschluss, die in Corona-Zeiten „seelischen Impfstoff“ bereitzustellen habe. „Das ist mir zu utilitaristisch … Dieses Gefühl, die Kirche sei in einer Bringschuld …“

Dir Kirche heute mag im Krisenmodus sein, und durch alles Mögliche erschüttert. Aber darin sieht Hoppe kein existentielles Problem. „Es ist hilfreich, doch einfach mal in die Geschichte zurückzugehen: Dieses Tohuwabohu, das wir heute vorfinden […] […] Diese Heiligen, in der Geschichte der Kirche sind immer welche gewesen, die ausgeschieden sind, die sich entfernt haben, die was Neues versucht haben. […] Wir arbeiten uns an den bestehenden Verhältnissen ab, an der Amtskirche, an all diesen Dingen, wir stellen Forderungen. Das sind Dinge, an die ich persönlich nicht glaube. Ich glaube an Eigeninitiative. Die Ordensgründungen sind immer Gemeinschaften in der Abwendung gewesen. Die haben sich gegründet, weil jemand gesagt hat: Das  reicht mir nicht. Sei es künstlerisch, sei es gesellschaftlich: Es geht mir um eine vitale Eigeninitiative. Ich kann diese Aufgaben nicht auf Andere abschieben.“

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Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es auch um die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, wenn Religion und Glaube es nicht mehr tun? 

Was wird unserer Gesellschaft fehlen? „Einen Zusammenhang herzustellen […] Die Welt ist größer als wir selbst. […] Ob ich an Gott glaube oder etwas anderes, das ist völlig dahingestellt, aber zu wissen: Ich bin als Einzelner nicht in der Lage das zu erfassen. Das was mir fehlt ist eine Form von Gemeinschaftlichkeit. Diese Aufforderung: Jeder rette und verwalte sich selbst – auf den ersten Blick nimmt man die Verluste nicht wahr. Das Problem liegt darin, dass wir sie langfristig feststellen werden, wenn wir merken, dass wir in dieser Selbstverwaltung eine Leere spüren oder einen Mangel oder ein Defizit. […] Können wir Gemeinschaft bilden? 

Um Gemeinschaft zu bilden, brauchen wir Rituale, gemeinsame Geschichten und Erzählungen. Aber das verlagert sich vielleicht auf einen anderen Raum. Und da verliere ich natürlich an Boden. Aber damit muss ich klarkommen.“

Auch so kann ein – sehr gelassenes Plädoyer – gegen einseitigen (Neo-)Liberalismus aussehen. 

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Bei 3sat-Buchzeit gab es eine sehenswerte Buchmessensendung, in der die Münchner Professorin Barbara  Vinken immerhin auch mal das Wort „Riesenarschloch“ im Fernsehen sagte. Gottseidank. 

Vinken wetterte sehr unterhaltsam auch gegen das allzu universale Lob auf Jonathan Franzens neuen Roman „Crossroads“, den jetzt alle glauben, lesen zu müssen: „Diese Probleme interessieren mich nicht. Dieser Drang der Figuren, immer der Beste, immer der Beliebteste zu sein, immer das richtige Leben zu leben, immer auf der richtigen Seite zu stehen, immer der Emanzipierteste zu sein. … Ich finde es widerlich, echt zum Abwinken. Diese grauenhafte hypokritische Selbstgerechtigkeit. Die Leute die immer so tun, als würden sie an allen anderen so wahnsinnig Anteil nehmen.

Auch Sandra Kegel von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beschrieb eine Frauenfigur so, wie sie zur Zeit besser nur eine Frau beschreibt: „Eine Vorort-Schnitte, die glaubt, sie kann jetzt einer drogenabhängigen Mutter erklären, wie sie sich um ihr Kind kümmern muss.“

Vinken zum Abschluß: „Man kann es schon mal lesen, man lernt viel über Amerika, aber eigentlich nur etwas, was man noch nie wissen wollte.“

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Wer jetzt noch nicht genug von Büchern hat, kann sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler im Podcast der „Taz“ anhören. Dort spricht sie mit Jan Feddersen über ihr neues Buch „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“.