Gedanken in der Pandemie 120: Leben mit dem Tod
Die mit dem Feuer spielen … Gedanken in der Pandemie, Folge 120.
„Dämmernd liegt der Sommerabend/ Über Wald und grünen Wiesen;
Goldner Mond im blauen Himmel/ Strahlt herunter, duftig labend.
An dem Bache zirpt die Grille,/ Und es regt sich in dem Wasser,
Und der Wandrer hört ein Plätschern/ Und ein Atmen in der Stille.
Dorten, an dem Bach alleine,/ Badet sich die schöne Elfe;
Arm und Nacken, weiß und lieblich,/ Schimmern in dem Mondenscheine.“
Heinrich Heine, Animateur
„Vielleicht lacht man über Deinen Zweifel …“
Friedrich Nietzsche, Unternehmensberater
Rückkehr zur Normalität heißt auch, dass die Themen wieder normaler und vielfältiger werden.
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549 lautet die Zahl der Neuinfektionen heute – erstmals nach acht Monaten unter 1.000 in Deutschland. Unterschätzen wir nicht, wie großartig diese Nachricht ist. Das heißt jetzt nicht, dass die Pandemie vorbei ist. Es heißt aber, dass es schon mal viel schlimmer war und wir uns alle ein bisschen entspannen dürfen.
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„Konstruktiver Journalismus“ – das könnte auch der Name eines sowjetischen Staatsinstitut sein, oder aus einem Orwell Roman stammen.
Tatsächlich aber ist es die Bezeichnung einer Studie des Grippe-Instituts.
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Glückliches Österreich. Nicht nur, weil es dort EM-Public-Viewing gibt. Sondern beim Kollaps des dänischen Fußballspielers mitten im Spiel erlebte man, wenn man beide Sender gucken konnte, entscheidende Unterschiede beim medialen Berichten über Fußball zwischen Leben und Tod: Die Deutschen blendeten schnell weg und deckten das Geschehen durch Labern zu. Die Österreicher zeigen die Bilder und sagen auch einfach mal gar nichts, sondern lassen die Bilder für sich sprechen und jeder kann selber sich etwas denken und etwas fühlen oder auch nicht.
Was man dem Sport alles zumutet. Nicht alles muss der Gesellschaft dienen und nicht alles kann der Gesellschaft dienen. Genau gesagt dient der Sport der Gesellschaft auf ganz andere Weise. Indem er entlastet, erfüllt er seine Funktion. Das sollte akzeptiert werden, es sollten ihm nicht immer neue Belastungen aufgebürdet werden.
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Auf makabere Weise passt dazu ein Bericht, der in der „Süddeutschen Zeitung“ bereits vor einer Woche, am 8. Juni erschien: „Was ist, wenn ich tot umfalle?“
Eigentlich eine gute Frage. Das Thema des Textes aus dem Wirtschaftsteil ist die Tatsache, dass inzwischen viele Konten online oder per Smartphone geführt werden und nur noch per Passwort kontrollierbar sind. Wenn einem etwas zustößt – es muss gar nicht dass „tot umfallen“ des Titels sein, es genügt schon ein künstliches Koma oder eine schwere Operation –, dann bekommen Lebensgefährten, Familie oder Freunde die helfen wollen, keinen Zugriff.
Viele Online-Banken und Neo-Broker, es müssen gar keine besonders windigen sein, erkennen keine Vollmachten an, die ihre Kunden an Dritte erteilen.
Tatsächlich empfiehlt der Experte der „Süddeutschen“ die schlichteste aller Varianten: „Digital oder auf Papier soll man eine Liste mit allen Konten und Depots erstellen inklusive eventuelle Passwörter. Und diese Liste sollte mindestens einmal im Jahr aktualisiert werden. Natürlich soll man sie auch sicher verwahren und den Bevollmächtigten und nur ihn darüber informieren wo sie zu finden ist.“
In dem Text finden sich auch andere für mich überraschende Feststellungen: „Der Trend geht zu Zweitbank, zum Drittdepot und zum Viertkonto.“
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Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt über „die Ausbreitung autoritärer Fantasien im Herzen Europas“ und den „Online-Suizid“ des Fernsehphilosophen Raphael Enthoven. Der hat sich angeblich gefragt, wen er wählen würde, wenn in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl die rechtsextreme Marine Le Pen auf den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon träfe. Seine Antwort, man ahnt es: Le Pen.
Nun ist Enthoven alles andere als ein wiederauferstandener Montaigne oder eine Reinkarnation von Jean-Paul Sartre, sondern eher ein seichter Schönling, der allen nach dem Mund redet, vor allem dem, Zeitgeist, also eine Art französischer Richard David Precht. Aber wenn der sich eines Tages zu Alexander Gauland bekennen sollte, um Sahra Wagenknecht als Kanzlerin zu verhindern, kann man sich den Shitstorm bei uns auch schon vorstellen.
Trotzdem gilt er, auch das war relativ vorhersehbar, als demaskierter Rechter.
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Empörung oder nur eine Inszenierung von Empörung? Egal über was – so laufen viele Debatten zur Zeit ab. Und odft genug ist die Antwort eine Empörung über die Empörung. Und die wiederum ist ebenfalls oft genug von mehr oder weniger geschickten Medienberatern inszeniert.
Ein Beispiel: Die Publizistin, „Süddeutsche-Zeitung“-Kolumnistin, Buchautorin Carolin Emcke, die so ziemlich alle, die ich kenne, gut finden (wollen), sprach auf dem Parteitag der Grünen in einer Rede über „systematische Desinformation“. Dass das gemeinsame Verständnis von Fakten verloren gehen könnte, sei eine der größten Bedrohungen für den demokratischen Diskurs. Emcke meinte, es sei Zeit für eine „neue Aufklärung“, es gehe um die Verteidigung der demokratischen Öffentlichkeit als Ort, wo um Richtig und Falsch gerungen wird. Emcke hat recht. Es gibt Fakten. Es gibt richtig und falsch. Und von der Unterscheidung hängt letztlich das Überleben der offenen Gesellschaft ab.
So weit so gut. Nun haben sich manche über Emckes Rede aufgeregt. Etwa darüber, dass sie nur Beispiele genannt habe, die bevorzugt „von Rechts“ angegriffen werden, etwa Feministinnen, Virologinnen oder Klimaforscher. Das kann an diesem Ort nicht ernsthaft überraschen. Emcke nannte aber auch Juden.
Alan Posener wirft Emcke nun in der „Welt“ „unverzeihliche Dummheit“ vor. Posener schreibt: „Was an ihrer Rede irritierte, war die Unterstellung, Relativismus, Wissenschaftsfeindlichkeit, ,Bereitschaft zum Ressentiment‘ und zur Aufkündigung aller Gemeinsamkeiten, die demokratische Gesellschaften zusammenhalten, gebe es nur auf der extremen Rechten. […] Aber schon bei den Demonstrationen der ,Querdenker‘ marschierten linke Esoterikerinnen fröhlich mit rechten ,Reichsbürgern‘ zusammen. Und Vertreterinnen der ,postkolonialen‘ Theorie sind dabei, eine Geschichte der Menschheit zu konstruieren, in der die Moderne selbst mitsamt der Aufklärung und der Demokratie als Erfindung des ,weißen Mannes‘ zur Versklavung der ,People of Color‘ unter Generalverdacht gestellt wird.
Wer, wie Emcke vorgibt – und man möchte es ihr abnehmen –, die Aufklärung verteidigen will, muss sich gegen die Relativierer von links und rechts stellen. […] deshalb, […] war Emckes Relativierung des Judenhasses eine unverzeihliche Dummheit und einer Frau, die für die Aufklärung streiten will, unwürdig. Nein, der Judenhass wird nicht ersetzt durch den Hass auf Klimaforscherinnen. Wer den Antisemitismus relativiert, verrät die Aufklärung. Carolin Emcke hat der Sache der Aufklärung, ihrem Mentor Jürgen Habermas – und den Grünen, die ihr eine Plattform boten – einen schlechten Dienst erwiesen.“
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CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak versuchte aus dem Vorfall sein eigenes Süppchen zu kochen: „Das ist eine unglaubliche + geschichtsvergessene Entgleisung auf dem Parteitag der @Die_Gruenen Ich erwarte von @abaerbock dazu heute absolute Klarheit! Beim Thema Antisemitismus darf es keinen Raum für Interpretation geben. Da gibt es nur Klartext!“
Naja.
Aber umgekehrt ist es auch ein Inszenieren von Empörung über die Empörung, wenn nun gleich in manchen Medien von gezielter Verunglimpfung die Rede ist.
Entrüstung sei „die perfideste Art der Rache“ schrieb Friedrich Nietzsche.
Einmal mehr verwandelt sich Öffentlichkeit in dieser kleinen Teildebatte in ein Unterstellungsregime.
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Alle schreiben über „Lupin“ – die zweite Staffel dieser offenbar sehr guten französischen Serie läuft jetzt auf Netflix. Auch Karsten Umlauf vom SWR hat sie gesehen und für sehr gut befunden.
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Die vielen Merkel-Fans in unseren Medien werden bald heimatlos und wenden sich langsam neuen Objekten ihres Applauses zu. Einige sind schon im letzten Jahr im Söder Lager gelandet, andere überwintern im Camp-Baerbock. Ein paar sollen gar bei Karl Lauterbach oder Olaf Scholz Obdach suchen.
Am letzten Mittwoch erschien nun auch der erste Nachruf auf Angela Merkel. Ein politischer Nachruf, versteht sich. Zum Auftakt des G7-Gipfels gab es im Leitartikel Russland Polemik, vor allem die üblichen Einwände gegen „Nord Stream 2“, die manchmal klingen, als sei die SPD, die dafür ist, die fünfte Kolonne Moskaus. Merkel wurde kühl als Laviererin und Dienerin deutscher Industrieinteressen beschrieben. Dann hieß es: „Die Welt hat sich seit 2006, als Merkel in St. Petersburg an ihrem ersten Treffen von damals noch acht mächtigen Industrienationen teilnahm, deutlich stärker verändert als die Kanzlerin selbst. […] Bezeichnenderweise ist es aber weder der Russe Wladimir Putin noch der Chinese Xi Jinping, der Merkel das Ende ihres außenpolitischen Weges vor Augen führt, sondern der Amerikaner Joe Biden. Anders als Donald Trump beschimpft er die Europäer nicht, er bittet sie höflich zum Schwur. Biden sucht Verbündete gegen den Vormarsch der Autokratien, insbesondere Chinas, und er wird keinen Platz lassen für einen lavierenden Kurs zwischen den Mächten. 15 Jahre nach Merkels erster Teilnahme am Gipfel der Mächtigen schließt sich kein Kreis. Was nach Cornwall bleibt, ist nur ein loses Ende.“
Ziemlich pessimistisch.
Man kann einiges aber auch anders sehen, und pessimistisch weniger auf das Erbe der ewigen Mutti, als auf die europäische Grundhaltung blicken und ihr ungeklärtes Schwanken zwischen politischem Moralismus und ökonomischem Gewinnstreben.
So tat es am Montag zum Gipfelnachklang der Hamburger Politikwissenschaftler und Historiker Christian Hacke in einem fesselnden, ideenreichen Interview, das auch deshalb so interessant war, weil Hacke mit Kritik nicht sparte.
Nach wie vor seinen die Amerikaner im westlichen Bündnis „Problem und Problemlöser zugleich“. Strukturell hätten sich die Dinge gegenüber Präsident Trump und der seinem Nachfolger eher verschärft. Unter Biden sähen wir „einen verschärften Kurs gegenüber Russland“. Außerdem würde „die antichinesische Komponente“ stärker.
Der Wissenschaftler sieht in China keine Bedrohung für Europa.
Den Europäern wünscht Hacke etwas mehr politische Bescheidenheit in der Rhetorik und ein bisschen Rafinesse. „Wir können auch von den Chinesen lernen.“
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Pessimismus allerorten: Die SPD – genau die gibt‘s ja auch noch – kommt politisch nicht aus den Puschen. Ihr fehlt es nicht nur an politischer Moral (vgl. die schamlose Franziska Giffey, die aus der Aberkennung ihres erschwindelten Doktortitels nicht die geringste persönliche Konsequenz ziehen möchte, und dies von ihrer hilf- und haltlosen Partei erlaubt bekommt), der Partei fehlt es auch an politischem Gewinnstreben. Denn die Lage der einst so stolzen Sozialdemokraten ist genau genommen katastrophal: Die SPD ist in vielen Bundesländern eine 9-Prozent-Partei. Nicht nur im Osten, auch in Bayern. Die beiden sogenannten Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben nicht die geringste Antwort auf die einstelligen Ergebnisse. Der Kanzlerkandidat Olaf Scholz verliert sich derweil in Zukunftsvisionen, die mit jedem Wahlergebnis haltloser klingen.
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„How dare you?“ In der Schweiz wurde per Volksabstimmung eine CO2-Abgabe abgelehnt, obwohl alle Parteien außer der rechtspopulistischen SVP dafür waren. So kann‘s gehen mit der Demokratie. Die Entscheidung ist ein Warnschuss für die Grünen, ein Warnschuss für alle, die parteipolitisch die Menschheit beglücken möchten gegen deren Willen und ein Warnschuss für alle Klimarettungsapostel. Vielleicht ist den Wählern und sogenannten normalen Bürgern das Klima im Vergleich zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage doch nicht ganz so wichtig, wie es die Funktionäre gern hätten. Vielleicht gilt nach wie vor Bertolt Brechts gar nicht zynisch gemeinter Satz: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Was machen wir jetzt damit? Demokratie abschaffen und durch Öko-Diktatur ersetzen? Wohl eher nicht. Und um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich glaube, dass viele Menschen eine Stärkung des Klimaschutzes wollen. Aber sie wollen dies nicht um jeden Preis. Sie wollen es nicht mit Gesetzen, die einer Zwangsenteignung gleichkommen. Und sie wollen es nicht alles alleine bezahlen. Die Konzerne und die Profiteure müssen zur Kasse gebeten werden. Dazu gehören auch die Konzerne und Profiteure der sogenannten neuen Energien. Man kann nicht die eine Industrie subventionieren und die andere Industrie zumindest nicht bestrafen oder sogar auch noch subventionieren. Genau das passiert aber in Deutschland. Und nicht nur dort.
Auch sollte man nicht immer den Weltuntergang an die Wand malen. Der Weltuntergang findet nicht statt. Jedenfalls nicht so schnell. Der Weltuntergang ist wieder einmal abgesagt. Und das meine ich, wenn ich sage, die Klimarettungsapostel sollten vorsichtig sein, und besser eine rosige Zukunft ausmalen, statt einer schwarzen, wenn sie Wähler gewinnen wollen.
Die Marktgläubigkeit haben hier übrigens auch die CO2-Preiserhöhungsfans gemeinsam. Vielleicht ist sie das Problem?
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Einen wunderschön bösen Text hat Willi Winkler am vergangenen Freitag über den „Stern“ geschrieben, ebenfalls in der „Süddeutschen Zeitung“.
Kurz für die Jüngeren: Der „Stern“ ist eine Illustrierte, so nennt man Hefte mit bunten, toll photographierten Bildern, eine Art gedrucktes Instagram, und der „Stern“ war mal ein Super-Influencer. Das vor langer langer Zeit, kurz nach dem Mittelalter, in den quietschigen prilblumenbunten, im Rückblick so schönen 1970er-Jahren, Da war der „Stern“ das wichtigste Magazin der Bundesrepublik. Ja: ein paar Jahre lang war er sogar wichtiger als der „Spiegel“, der damals auch wichtiger war, als heute.
Dann kamen „Hitlers Tagebücher“ – und per Führerbefehl wars für den „Stern“ plötzlich Ende Gelände.
Noch ein Exkurs: Im Rückblick ist an dieser Hitler-Tagebücher-Affäre ja vor allem interessant, dass damals Magazine ernsthaft noch Glaubwürdigkeit zu verlieren hatten. Mit einem „nun, schon peinlich, aber kann ja mal passieren“ war es nicht getan. Heute würde so eine Fälschungsgeschichte länger als zwei Wochen lang niemanden aufregen – vergleiche Claas Relotius. Danach kommt Achselzucken – Derartiges preist man in den Blick auf so ein Magazin mit ein.
Zuletzt war der „Stern“ nochmal wichtig, als Werner Funk sein Redakteur war. Und das ist auch schon bald 25 Jahre her.
Schon Willi Winklers Überschrift: „Canale Grande. Der ,Stern‘ stellt sich (schon wieder) neu auf. Er hat jetzt sehr, sehr viele Chefinnen und Chefs. Und noch mehr Kanäle als Venedig“ Toll!
Auf nicht weniger als 30 Leitungspositionen sollen nun sehr, sehr viele Menschen für viele Menschen berichten, und zwar möglichst menschlich. Schluß also mit dem nervigen Recherchieren, das kostet sowieso zuviel Geld, mit der kühlen Analyse, Emotion und „Menschlichkeit“ soll her.
Winkler weiß gar nicht, wo er seine treffenden Bosheiten alle unterbringen soll, und hämmert wie eine Stalinorgel eine Pointe nach der anderen aus der „Stern“-Pressemitteilung heraus: „Damit die dreißig neuen Leiter was zu tun bekommen, wurden brandneue Ressorts wie ,Leserinnen und Leser‘ und noch neuere Events wie ,Tag der Wahrheit‘ und Projektbüros mit dem traumhaft schönen Arbeitstitel ,Aktionen‘eingerichtet. Die neue Redaktion, so verspricht es die Pressemitteilung, gliedert sich ,in einen Inhalte- und einen Kanal-Bereich, die sich auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam entscheiden, wie ein Thema am besten erstellt und ausgespielt werden kann‘ Nun ist es meist, wenn man sich mit wem im Kanalbereich auf Augenhöhe begegnet, schnell um alle geschehen, davon weiß jeder Gondoliere in Venedig ein Lied zu singen.“
„,Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen‘, hat einst der Unternehmensberater Friedrich Nietzsche in einem nicht ganz billigen Gutachten erkannt, von ,Ausspielen‘ war damals noch nicht die Rede. Beim Stern nehmen sie das Spiel allerdings sehr ernst: Mit ungeahntem Selbstbewusstsein will sich der Stern ,für das Gelingen der Gesellschaft einsetzen und Debatten anstoßen […], die Deutschland voranbringen sollen‘. Ob die deutsche Gesellschaft das weiß, dass die 30 Neuen sich für ihr Gelingen einsetzen werden?
Es gibt einiges zu tun, also Leinen los auf allen Positionen! ,Am Anfang‘, faselt es da aus der Abteilung Markenkommunikation, ,steht die Idee für ein Thema, im zweiten Schritt wird überlegt, was die bestmögliche Erzählweise für die jeweilige Geschichte ist. Anhand dessen wird ein Kanal zur Veröffentlichung gewählt.‘
Nur ein Kanal? Nein, ganz viele, Venedig ist wirklich ein Witz im Vergleich zu diesem hier: ,Print oder Digital, Audio oder Video‘, nur an Stereo und Torero hat wieder niemand gedacht. Sonst wird an nichts gespart, was gut ist und billig hergeht. So mag die neue Kanal-Chefin Laura-Lena Förster ihrem Twitter-Profil zufolge: ,das Internet, die Arktis – und dass die Gedanken frei sind‘. Dazu stellt Laura-Lena Förster das Bild zweier Eisbären, denen die Polkappenschmelze sichtlich auf den Zehennägeln brennt.“
Auch die größte Stunde des „Stern“ fehlt bei Winkler nicht: „Böse, wirklich nur böse Zungen verteidigen die neuen Umstrukturierungsmaßnahmen mit der trotzigen Behauptung, dass der ,Stern‘ aus seiner Vergangenheit nun mal gelernt habe. Da es seinerzeit mit den Tagebüchern und dem einzelnen FH (für ,Führer Hitler‘) nicht geklappt hat, müssen nun gleich mehrere davon her.“
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Bin ich eigentlich der einzige, der diese Gruppenfotos so saudoof findet, die eigentlich keine Gruppenfotos sind, sondern Weitwinkelbilder von neben- und hintereinander alleine stehenden Menschen? Von Säulen aus Fleisch?
Am Wochenende konnte man das wieder beobachten beim G7 in Cornwall. Aber auch bei dem Bild von 30 „Stern“-Redakteuren in mehr oder weniger betont „lässiger“ Kleidung auf einer Treppe aufgereiht.
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Ohhhh, Mimimi, es war wieder jemand gemein zu Annalena! Sie haben sie „Moses“ genannt. Große Überraschung: Wirtschaftsverbände wollen keine grüne Kanzlerin. Vielleicht ja ein Grund Grün zu wählen, anstatt sich über Anzeigen zu empören.
Aber angeblich darf man nun auch über Religion keine Witze mehr machen. Seit wann denn das? Hat noch jemand „Das Leben des Brian“ gesehen? „Jehova Jehova“.
Btw: Indem jetzt so umfangreich vor allem von den Baerbock-Fans in den Medien über die Kampagne berichtet wird, erreicht sie noch viel mehr Leute, als die, die zufällig gerade am Freitag Anzeigen gelesen haben.
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Normierung erkennt man daran, wo man sich selber ertappt. Als mir eine alte Zeitung in die Hände fällt und ich darin eine Fernsehkritik lese, in der vom Frauenmagazin „Mona Lisa“ die Rede ist, und es heißt: „die schöne Petra Gerster“, da ertappe ich mich dabei, wie mein Auge sofort ans Ende des Artikels fliegt, und ich sehe, dass eine Frau diesen Text geschrieben hat. Dass eine Frau schön ist, oder aussieht, darf heute anscheinend nur eine andere Frau feststellen, jedenfalls öffentlich.
Viele mögen das jetzt womöglich als einen tollen Lernprozeß meinerseits empfinden. Ich denke daraufhin über mich selbst und die Welt die mich umgibt: Was für eine blöde Borniertheit!
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Es ist einer der schönsten Filme der letzten Jahre: „Paris Calligrammes“ von Ulrike Ottinger. In einem dichten Gedankenstrom, unterstützt von akustischem und visuellem Archivmaterial, verknüpft mit eigenen künstlerischen und filmischen Arbeiten, lässt Ottinger Saint-Germain-des-Prés und Quartier Latin mit ihren Literatencafés und Jazzkellern, die Begegnung mit Vertretern des jüdischen Exils, das Zusammenleben mit ihren Künstler- freunden, die Gedankenwelt der Pariser Ethnologen und Philosophen, die politischen Umwälzungen des Algerienkrieges und des Mai 68 und das Erbe der kolonialen Zeit aufleben.
Voller Sehnsucht und Zuneigung zu Frankreich, voller Klugheit, dabei mit Distanz wo sie geboten ist. in Film, der ein Frankreich wiederauferstehen lässt, das leider verschwunden ist. Und ein Deutschland.
Heute erlebt „Paris Calligrammes“ seine Erstausstrahlung im Fernsehen. Um 22:26 Uhr auf 3sat. Danach steht der Film bis zum 13. Juli in der Mediathek.
Ottinger sagt zu ihrem Film: „Der Film vereint meine persönlichen Erinnerungen an die 1960er Jahre mit einem Porträt der Stadt und einem Soziogramm der Zeit. 1962 kam ich als junge Künstlerin nach Paris, um dort zu leben und zu arbeiten. Die Zeit bis 1969, als ich die Stadt wieder verließ, wurde nicht nur für mich zu einer der prägendsten Phasen, sondern war auch zeitgeschichtlich eine Epoche der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Der Ariadnefaden durch den Film ist ein Gang durch Paris mit vielen Stationen, an denen jeweils ein Thema in nicht chronologischer Form aufgegriffen wird. In der Tradition der Flanerie suche ich Brennpunkte der Stadt auf, die für mich persönlich wie auch für die 1960er Jahre bedeutsam waren, da sich dort entscheidende politische Ereignisse abspielten, wichtige kulturelle und künstlerische Begegnungen stattfanden oder sich neue soziale Formen des Lebens entfalteten. Paris war zu dieser Zeit aber nicht nur ,melting pot‘ der Intellektuellen und Künstler aus aller Welt, sondern durchlief die schwierige politische Phase der Dekolonisierung. Der Algerienkrieg überschattete wie später der Vietnamkrieg die Aufbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg und brachte die Menschen aus den Kolonien und die politischen Konflikte in die Hauptstadt. Meine Freundschaften, die sich in diesen Zeiten entwickeln, waren daher so international und bunt, wie spannungsreich und intensiv.“
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