Gedanken in der Pandemie 114: Ein dritter Raum inmitten des Dschungels

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Neulich war Indien noch ein Beispiel für gelungene Impfpolitik, inzwischen explodierten die Infektionszahlen. Szenenfoto aus „Das Dschungelbuch“. | Foto © Disney

Die Lage in Indien und unsere Luxusprobleme: Vom Freizügigkeitsfasten zur eigenverantwortlichen Bürger-Selbstoptimierung – Gedanken in der Pandemie 114.

„Die Geschichtsschreiber berichten, dass bei solchem Tun der Pfau die Pracht seinen Schweif zu entfalten pflegte und unserem ersten Stellvertreter zur Seite stand und ihn bediente mit Schmeichelworten und Lobsprüchen.“
Rudyard Kipling, „Einer sei des anderen Feind“

„Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform.“
Tocotronic 

„Wer einen Tiger reitet, kann nicht absteigen.“
Indisches Sprichwort

Die Pandemie ist ein Dschungel. Zunehmen wird das Gestrüpp dichter, zunehmend findet man sich weniger zurecht. Den Überblick haben wir schon lange verloren. 

Blickt man genauer hin, dann erkennt man, dass auch scheinbare Gewissheiten trügen, dass auch die Zahlen täuschen. So können wir zum Beispiel gerade jeden Tag in der Zeitung lesen, dass die Infektionen in Brasilien so rasant anstiegen, dass alle Faktoren schrecklich und die Schlimmsten in Lateinamerika seien. Schauen wir nur auf die Daten, dann kann man sich diesem Befund nur zum Teil anschließen. Denn tatsächlich gehen die Zahlen in Brasilien im letzten Monat mehr oder weniger konstant zurück. Und sie liegen mit einer (natürlich, mit Europa verglichen, sehr hohen) Inzidenzrate von 266 (26. April) etwa nur halb so hoch, wie Nachbarland Argentinien (527).

Wie kompliziert Statistik wirklich ist, davon kann man sich ganz gut am Beispiel Indiens überzeugen. Blicken wir einmal zusammen auf die Indienseite des exzellenten, und in seiner Detailfreude faszinierenden Statistik-Portals „ourworldindata“. Ich gebe zu: Ich könnte mich auf diesem Portal stundenlang aufhalten. Und zu den Dingen, die ich im vergangenen langen Corona-Jahr wirklich dauerhaft schätzen gelernt habe, gehört die Wissenschaft der Statistik.

Dort lesen wir zunächst einmal, dass die Inzidenzrate noch (relativ) moderat ist. Sie liegt bei 239. Zum Vergleich: Deutschland 248, Frankreich 435, Türkei 582. 

Aber was sind schon Inzidenzraten! Die höchste Asiens liegt in der Mongolai: 311. Weil dieses Land aber so dünn besiedelt ist, bedeutet das trotzdem nur rund 1.000 Neuinfektionen am Tag. Theoretisch ein Paradies der Nachverfolgung, praktisch aber eine Testwüste. Wie gesagt: Was sind schon Inzidenzraten? 

Längst formulieren Virologen auch in Deutschland öffentlich, dass der Inzidenzwert kein besonders guter Maßstab ist. Einstweilen werden dann von den allermeisten Medien noch schnell drei Experten aufgefahren, die die herrschende Meinung wiederherstellen. Aber es wird weniger. 

Zurück zu Indien: Dort entspricht die Inzidenzrate zur Zeit über 300.000 Neuinfektionen. Das ist, auf deutlich über 1,3 Milliarde Menschen gerechnet, immer noch recht wenig. Das Problem in Indien ist: Bevölkerungsdichte, Dunkelziffer der Infektionen, Kapazität der Krankenhäuser. Zusammengenommen ergibt dies ein desaströses Bild. Die Infektions- und Todeszahlen schießen steil wie ein Bambus nach oben.

Besonders aufschlußreich sind hier die Veränderungen über zwei Wochen im Weltvergleich. 

Hinzu kommt, dass in Indien offenbar eine neue Virus-Mutation entstanden ist. Wie jetzt bekannt wird, tauchte sie bereits im letzten Jahresviertel 2020 auf, und verbreitete sich zunächst nur moderat und regional begrenzt. Jetzt „explodieren“ die Zahlen. 

„Wir haben keine Intensivbetten mehr, wir haben keinen Sauerstoff, uns fehlen die Medikamente. Es ist schwer, die Patienten zu retten. Es ist schlimmer als bei der ersten Welle“, zitiert die „Neue Zürcher“ eine Ärztin vor Ort. 

Es gibt über die Mutation noch wenig Wissen. Wissenschaftler vermuten jetzt, dass die neue Variante ansteckender ist als das ursprüngliche Virus. Offen ist vor allem noch, ob die neue Variante außerdem für Reinfektionen sorgt. 

Es ist bizarr: Erst vor wenigen Wochen hatte ich hier über den nach wie vor aufregenden Essay des indischen Arztes Siddartha Mukherjee im „New Yorker“ berichtet. Inzwischen ist dort vielleicht nicht alles, aber vieles anders geworden. Die guten Nachrichten von vor zwei Monaten gelten nicht mehr. 

Zugleich gibt es vorerst keinen Grund zur Panik. Denn im globalen Vergleich der „Infektionen pro 1 Million Einwohner“ liegt Indien mit seinen 12.545 immer noch weit weit weit (man kann es gar nicht genug betonen) unter jedem europäischen Land, und erst recht unter den USA, aber auch Kanada, die allesamt pro Kopf ein viel besseres Gesundheitssystem haben. Das ist das Erstaunliche, über das Mukherjee im „New Yorker“ schrieb und das unverändert Staunen machen kann. 

Und wie die „NZZ“ auch schreibt, sind Todeszahlen und andere Daten in Indien zurzeit wenig verlässlich. Die Testzahlen allerdings auch. Beides gilt in beide Richtungen.

Der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung ist ein Faktor, der die Vergleichbarkeit auch verzerrt. Möglicherweise verändern klimatische Unterschiede die Wirkung des Virus. 

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Die Lage in den indischen Krankenhäusern ist allerdings eine Katastrophe. Fast noch schwerer wiegt der augenblickliche Mangel an Sauerstoffflaschen für jene Infizierten mit Atemproblemen. Es ist ein regelrechter Schwarzmarkt enstanden, auf dem Wucherpreise bezahlt werden. „In diesen Tagen ringt das ganze Land aufgrund von Sauerstoffmangel nach Luft“, schreibt die „Times of India“ dazu. Der Sauerstoffmangel liege vor allem an einem Transportproblem. „Dank der Großzügigkeit der Industrie und dem Eingreifen der Regierung wird das Sauerstoffproblem in Kürze behoben werden. Aber wir haben nur ein winziges Zeitfenster, um den Arbeitskräftemangel in den Krankenhäusern anzugehen, wo es an Ärzten und Pflegern fehlt. Jetzt müssen kurz vor ihren Examen stehende Medizin-Studenten sowie Krankenschwestern in die Kliniken, um eine der größten menschlichen Tragödien zu verhindern.“ 

Trotzdem muss man vielleicht nicht, wie jetzt „Der Spiegel“, aus Indien wie von einer Höllenfahrt berichten. Das bedient vor allem viele Klischees. 

Die bedient auch die Stockholmer Zeitung „Aftonbladet“: „Was wir gerade in Indien sehen, ist genau der Kollaps einer Gesellschaft, den wir infolge der Pandemie befürchtet haben. Natürlich ist dies eine Folge von Armut, Ungleichheit und Korruption, aber die meisten Länder bekämpfen die Pandemie auch so, als seien nur sie selbst betroffen. Dabei kann der Kampf gegen das Corona-Virus niemals nur eine nationale Angelegenheit sein. Die Krankheit wird immer wiederkommen, solange Ausbrüche wie in Indien nicht verhindert werden können.“ Schade auch, dass den Europäern, also genauer gesagt unseren Regierungen, wieder nichts anderes einfällt, als die Grenzen abzuschotten und ein paar Sauerstoff-Brosamen vom Tisch fallen zu lassen. Immerhin die Lufthansa fliegt weiter. 

Die Londoner „Financial Times“ argumentiert demgegenüber, deutliche Hilfen für Indien seien auch im europäischen Eigeninteresse und nicht nur aus humanitären Gründen sinnvoll: „Die Situation in Indien stellt eine Gefahr für die ganze Welt dar. Je mehr Infektionen es gibt, desto größer ist auch das Risiko von Mutationen, die ansteckendere oder gar resistente Varianten hervorbringen. […] Im globalen Kampf gegen das Virus ist die Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Hilfe für Indien durch andere Länder ist deshalb nicht nur moralisch geboten, sie liegt auch im eigenen Interessen jedes Landes.“ Nicht zu vergessen, dass Indien ein Hauptproduzent von Impfstoffen ist. Was, wenn die Regierung in New Delhi hierfür ein Exportverbot verhängt, um, „India First“, zuerst der eigenen Bevölkerung zu helfen?

Sinnvoll ist es da wahrscheinlich, nochmal nach Indien selbst und auf seine Reaktionen zu blicken. Dort ist von „Hölle“ und Panik wenig zu spüren. Unter den zehn „most-read“-Texten der „Hindustan Times“ findet sich kein einziger Corona-Text, sondern diverses zu Cricket, das Horoskop, Body Shaming eines Bollywood-Stars und der neue Flugzeugträger der indischen Armee. Und auch eine eigene Corona-Rubrik, die bei uns längst zum Standard gehört, sucht man dort vergebens. In der „Times of India“ steht mehr zu Corona. Aber auch hier ist klar: Die Welt dreht sich weiter. 

Vielleicht ist es gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich die Netflix-Serie „Der weiße Tiger“ anzusehen. Sie erzählt vom gegenwärtigen Indien und soll hervorragend sein. 

Tiger sind zusammen mit Elefanten die wichtigsten Tiere der indischen Mythologie. Bis heute ist der Tiger ein Symbol für Wachsamkeit, Eleganz und zielgerichtete Kraft. Tiger sind leise, schnell und aufgrund ihrer schier unglaublichen Kräfte so gut wie unbesiegbar. Wie alle Katzen leben Tiger im Augenblick, sie sind sich ständig dessen bewusst, was in ihnen steckt. Sie sind in jeder Sekunde bereit, zu 100 Prozent fokussiert einzusetzen, was die Natur ihnen gegeben hat. Tiger sind keine Herdentiere. Sie schulden niemandem Rechenschaft, hängen von niemandem ab und wissen, dass alles was sie jemals erreichen werden, bereits in ihnen angelegt ist.

Hoffentlich gelingt das Indien auch. 

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„Darauf suchte sich Mogli einen schattigen Platz und legte sich schlafen, während um ihn die Herde friedlich graste. Herden hüten ist in Indien die bequemste Beschäftigung von der Welt. Die Rinder kauen und zermalmen mit lautem Geräusche die saftigen Pflanzen; sie bewegen sich langsam mit schleppendem Gang, oder sie legen sich hin und schlagen mit den Schwänzen nach Fliegen. Das schmackhafte Futter wächst bis zu ihren Nasen herauf, und sie brauchen sich nicht danach zu bücken. Ab und zu brüllen die Kühe sich in ihrer Sprache ein paar Worte zu oder stoßen ein zufriedenes Grunzen aus. Die Sonne strahlt auf die Felsen herab, bis die heiße Luft auf den Steinen tanzt, und die Hirtenkinder hören den Ruf eines Geiers – immer nur eines einzigen – hoch oben im Äther, so hoch, daß man ihn kaum sehen kann. Die Kinder wissen, was dieser schwarze Punkt in der blauen Unendlichkeit zu bedeuten hat: falls sie, von der Schlange gebissen, sterben würden – oder eins der Tiere umkäme –, so schösse dieser eine Geier pfeilschnell herab, und der nächste Geier, viele Meilen entfernt, würde folgen, und dann der nächste und wieder der nächste, und der noch warme Körper wäre bald von einem Dutzend dieser Geier, die wie durch Zauber aus dem Nichts herbeifliegen, zerhackt und zerrissen.“

Rudyard Kipling, „Das Dschungelbuch“

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Den Autor und Journalisten Georg Diez schätzen wir seit über 20 Jahren für seine Artikel, die er zunächst in der „„Süddeutschen Zeitung“, dann „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, dann „Zeit“ und zuletzt im „Spiegel“ schrieb. Jetzt hat er für die Zeitschrift „Internationale Politik“ einen langen Essay über „das Ende der Wirtschsaft wie wir sie kennen“ geschrieben, der zwischen utopischer Hoffnung und apokalyptischer Melancholie schwankt, und vielleicht gerade deswegen die Lektüre lohnt.

Diez’ Basisgedanke lautet wie folgt: Einerseits „Am Anfang der Pandemie […] gab es Stimmen, die von der Hoffnung getragen waren, der Corona-Schock würde zeigen, dass Gesellschaft anders und besser möglich wäre, dass Veränderungen, die sich über Jahre und Jahrzehnte ankündigten, auf einmal plausibel erscheinen – und dass Wirtschaft und Arbeiten, das System, das wir Kapitalismus nennen, auf dem Prüfstand steht.“ Andererseits: „Die Pandemie hat eine geistige, emotionale, finanzielle Leere erzeugt, und die kommende Dekade erscheint wie ein großes Fragezeichen.“ 

Versuchen wir einmal, die Gedanken des Textes zu entfalten: 

Erste Haupt-These: Wir sollten Corona zum Anlass nehmen, Kapitalismus und Staat neu zu erfinden – und dabei mit ein paar Strukturen aus vergangenen Jahrhunderten aufzuräumen.

Gestützt auf die erste Behauptung: Wenn wir unsere Lektion aus der Pandemie gelernt haben, dann wird die Arbeits- und Lebenswelt von morgen anders werden – gerechter, innovativer, nachhaltiger.

Dazu meine Gegenfrage: Warum eigentlich? Und wie genau sieht „unsere Lektion aus der Pandemie“ aus?

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Diez entwickelt dafür seine zweite Behauptung: Neoliberalismus gibt es. Er ist nicht nur eine Behauptung seiner Gegner. Und er ist schlecht, böse. Die Jahrzehnte nach 1980 erscheinen „im Rückblick wie eine Zeit der offensichtlichen Verirrungen“. 

Gegenthese: In dieser Zeit 1980 bis 2021 fiel die Mauer. In dieser Zeit veränderten und lockerten und modernisierten und verbesserten sich die Gesellschaften wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. 

Die Weltbevölkerung verdoppelte sich fast von 4.45 Milliarden im Jahr 1980 zu knapp 8 Milliarden Ende dieses Jahres. Eine solche Bevölkerung will ernährt werden, sie will auch mit einem Heim, mit Verkehrsmitteln, mit einer sozialen Mindestsicherung versorgt werden. Sie braucht Arbeit. Das muss alles erledigt werden, das kostet Geld und Ressourcen.

Zeitgleich fand in diesen Jahrzehnten der Aufstieg Chinas und Indiens zu Weltmächten statt. Der Eiserne Vorhang fiel. Der Kalte Krieg wurde beendet.

Sehr schön wäre es, man könnte all das mit ein paar einfachen Formeln erklären und einen klaren Sündenbock nennen, der für alle Übel verantwortlich ist: Der Neoliberalismus. Ich habe ehrlich gesagt  meine Zweifel, ob es diesen überhaupt gibt. Ich erinnere mich noch, dass man für all das, was man heute so nennt, in der Zeit als Thatcher und Reagan an die Macht kamen, 1979/80 ein anderes Wort hatte: Neokonservatismus. Ich bin nicht sicher, ob das ein wesentlich besseres Wort ist, aber zumindest in einer Hinsicht ist es das schon: Es bezeichnet, dass es vor allem um das Bewahren geht, und um Veränderungs-Feindschaft. Und dass es um eine politische Ideologie geht, die von Rechts kommt.

Diez benennt wichtige Eigenschaften: Die „Ausweitung ökonomischen Denkens in so gut wie alle Bereiche der Gesellschaft, das Auslagern von weiten Teilen der Produktion und Dienstleistungen und damit verbunden das Outsourcen von Verantwortung.“

Aber: Es gibt keinerlei Gründe, weder politische noch moralische, all diesen anderen Menschen anderer Regionen den Wohlstand prinzipiell vorzuenthalten, ob mit mit Begründung, Glück sei doch eigentlich etwas anderes, oder mit der, man müsse angesichts der Erderwärmung jetzt die Welt retten durch Verzicht.

Wenn wir es trotzdem tun, dann weil wir es können. Weil wir die Macht haben. Und weil wir uns entscheiden weiter über den größten Teil der Welt zu herrschen. Vielleicht gibt es ja gute sachliche Gründe das zu tun. Moralische gibt es wohl nicht.

Wiederum eine Gegenthese zu meiner Gegenthese: In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viel weniger Ungleichheit als heute. in den letzten 40 Jahre bereicherten sich bestimmte Einzelperson und bestimmte Konzerne in monströsen Maß.  Sie bereicherten sich nicht so sehr auf Kosten der Menschen der Dritten Welt, sondern auf Kosten der Staaten. Zusammen mit dem monströsen Wachstum privater Reichtümer wuchsen auch die Staatsschulden monströs. Eines Tages muss dies bezahlt werden. Und sei es durch eine Währungsreform. Schon zurzeit wird es bezahlt, und zwar durch die Verlagerung des westlichen Reichtums in die neuen Weltmächte insbesondere nach China.

Ökonomische Macht ist politische Macht.

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Dritte Behauptung von Georg Diez: Die Pandemie traf auf eine Welt, die bereit war, sie ist wie ein Prisma, durch das sich das Neue betrachten lässt: Nachdenken über Bedingungsloses Grundeinkommen; ein anderes Verständnis von Gemeinschaft und Teilhabe; Fürsorge, Pflege, Gesundheit und Glück im Mittelpunkt eines Wirtschaftskonzepts, das als „Wellbeing Economy“ bekannt geworden ist; digitale Revolution; Ende der Arbeit; zahlreiche neue Möglichkeiten der Kommunikation und des Arbeitens. 

Gegenrede: Schön wär’s. Obwohl: Wär’s wirklich schön? Wollen wir alle so und „ohne Arbeit“ leben? Ist es nicht vielmehr so, dass vielen Menschen, die keine Arbeit haben, der Sinn in ihrem Leben fehlt? Dass sie deswegen zu Depressionen neigen, zum Gefühl einer grundsätzlichen Leere, und dass das wiederum die Neigung zu Krankheiten und extremistischer Politik und vielen anderen Schlechten befördert?

Und wenn wir dafür sorgen wollen, dass ich das alles ändert, was müssen wir da zu tun? Müssen wir die Menschen vielleicht schon in frühester Jugend umprogrammieren, umerziehen? Wollen wir das? Vielleicht wollen wir das ja, denn vielleicht ist es ja so, dass auch das, was Diez Neoliberalismus nennt, nur etwas Anerzogenes ist, etwas, zu dem wir programmiert wurden. Was aber wenn es nicht so sein sollte? Gibt es irgendetwas, dass uns hier Sicherheit geben könnte?

Ich bin nicht sicher, ob das nicht wirklich nur eine Behauptung, allzu idyllische Schönfärbei ist. Ist es kein Widerspruch, vom Ende der Arbeit zu reden und im gleichen Satz von neuen Möglichkeiten des Arbeitens? Ist es wirklich nur eine neoliberale Ideologie, auf derartige Gedanken mit dem Satz „Die Arbeit tun die Anderen“ zu antworten, und zu sagen, dass ich mal gelernt habe: „There is no such thing as a free lunch.“

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Nun zur zweiten Haupt-These des Textes: Es stellen sich vor allem Fragen nach der Rolle des Staates. „Die Pandemie ist ein Beispiel für das Scheitern der alten Strukturen, in fast jeder Hinsicht: Eine Bürokratie aus dem 19. Jahrhundert trifft auf ein Europa, das in den Konstruktionsweisen des 20. Jahrhunderts festhängt, und einen Föderalismus, der vor allem Verwirrung schafft und Verantwortlichkeiten verunklart.“

Das Bild des Staates wandelt sich: Der neu gedachte Staat ist „eine Hybridinstitution“, die innovativ ist, selbstbewusst agiert, zugänglicher, offener, experimenteller. 

Diez plädiert für den Green New Deal weg von der Industriegesellschaft. „Der Green New Deal liefert in mancherlei Hinsicht das, was dem Kapitalismus derzeit fehlt: eine Geschichte, die überzeugend von Gleichheit und Emanzipation handelt, von Vernunft und Verantwortung – statt von Spekulation, Gier und Umweltzerstörung.“

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Zum Impf-Gipfel am Montag nur eine kurze Bemerkung: Die Maßnahmen entsprechen der Politik der Regierung der letzten 14 Monate. Sie sind ohne Mut, sie sind überbürokratisiert, und sie sind in ihrem Ziel nicht klar. Sie schlagen Ungleiches über den gleichen Leisten. Das heißt sie wollen immer noch nicht akzeptieren, dass es Menschen gibt, die in der Pandemie höhere Risiken tragen als andere. 

Waren es während des Jahres 2020 vor allem die Alten und sogenannten „Risikogruppen“ sind es nun die Nichtgeimpften, also die Jüngeren unter 60-Jährigen, noch mehr unter 40-Jährigen.

Während man diese stärker schützen muss, als den Rest der Bevölkerung könnte man genau diesem Rest mehr Freiheiten geben. So wie es gut möglich gewesen wäre, fast im kompletten Jahr 2020 Restaurants und Kultureinrichtungen und Sportanlagen für die unter 60 Jährigen offen zu halten, könnte man sie nun für die über 60-Jährigen und für alle anderen bereits Geimpften und jene, die die Krankheit schon überstanden haben, öffnen. Es gibt überhaupt keinen Grund dazu, das nicht zu tun. Außer dem, dass die Regierung Angst hat und dies offenbar zu anstrengend findet.

Warum keine Wiedereinsetzung der Grundrechte für Geimpfte? Warum so kompliziert? Warum muss das wieder Wochen dauern? Warum kann man nicht einfach sagen: Ausgangssperren für vollständig Geimpfte gibt es nicht.

Wut und Ohnmachtsgefühle wachsen. Ich würde mich freuen wenn die Regierungsparteien diese Wut und diese Ohnmachtsgefühle auch bei den Wahlen und bei Demonstrationen zu spüren bekommen. Offensichtlich ist ohne  echten Druck politisch überhaupt nichts zu erreichen. Ohne Mut. 

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Über das neue sogenannte Infektionsschutzgesetz ist viel geschrieben worden. Zu viel. Und doch zu wenig.  Denn es verletzt die Freiheitsrechte. Das weiß auch die Kanzlerin und die Regierungsfraktionen die sie tragen. Aber es kümmert sie nicht – angeblich für ein höheres Gut. Dies werden eines Tages die Historiker aufarbeiten.

Zunächst einmal bedeutet das Gesetz aber Arbeit für die Juristen. Denn es wird in den nächsten Tagen und Wochen zu diversen Klagen kommen – Die FDP klagt schon heute, die überparteiliche „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ auch – und ich gebe gerne zu, dass ich hoffe, dass sie Erfolg haben.

Warum?

Ausgangssperren passen nicht zu einer freien offenen Gesellschaft. Ein Jahr nach der Pandemie muss  Selbstverantwortung im Zentrum stehen. Und unsere Regierenden müssen die oft schwierige, fast immer mühsamer Arbeit der Überzeugung leisten. Das ist ihre Aufgabe. Da sie zu faul dazu sind, diese zu erledigen, versuchen sie es mit Zwang. Weil sie inzwischen begreifen, dass sie die Bevölkerung immer weniger mitnehmen und immer weniger überzeugen, versuchen Sie es mit immer mehr Zwang. 

Ganz grundsätzlich bin ich zwar nicht pauschal gegen alle Maßnahmen. Aber ähnlich wie viele kluge Menschen aus den verschiedensten Lagern, etwa Julian Nida-Rümelin, Robert Pfaller, der Jurist Uwe Volkmann und viele viele andere, finde ich die Maßnahmen zu pauschal und undifferenziert, zu einseitig gegen das Privatleben der Menschen gerichtet, gegen Kunst, Kultur und Unterhaltung und auf Erhaltung der Industrie ausgerichtet. Ich finde viele Maßnahmen nicht durchdacht. Sie sind inkonsequent, manchmal widersprüchlich und meistens falsch gewichtet. 

Im Wissen, das viele diese Position rücksichtslos gegenüber den Risikogruppen und moralisch falsch finden,  möchte ich daraufhinweisen, dass auch Maßnahmenbefürwortung und Verschärfungsforderungen in der Konsequenz oft rücksichtslos und falsch sind.

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Ich weiß: wir sollen „Ausgangsbeschränkungen“ sagen, nicht „Ausgangssperren“. 

Damit es noch schöner klingt habe ich hier noch ein paar Alternativvorschläge: „Freizügigkeitsfasten“. „Öffentlichkeits-Prophylaxe“. „Heim-Wertschätzungsempowerment“. Eigenverantwortliche Bürger-Selbstoptimierung. 

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„Ausgangssperren passen nicht zu einer freien offenen Gesellschaft.“ Das schreibt auch Andreas Rosenfelder in der „Welt“. Volle Zustimmung zu seinem Text über das sogenannte Infektionsschutzgesetz. 

„Legitimiert“ wird dieser die Gesellschaft und die Freiheitsrechte schädigende Kurs (man kann nach einem Jahr nicht mehr von „Einschränkungen“ reden) durch eine Framing- und Falschinformationskampagne des Kanzleramts sowie von flankierendem systematischem Panik-Trommelfeuer von Lothar Wieler, Karl Lauterbach und Co., die fernab aller wissenschaftlichen Grundlagen „viele“ schlimme Krankheitsverläufe bei Kindern sowie ein durch die Schulöffnungen bewirktes „großes Elternsterben“ (!) prophezeien. 

Vor allem das Schreckens-Narrativ „Schulkinder-töten-Oma-und-Opa-und-Papa-und-Mama“ wird gnadenlos zynisch gegen das Recht auf Bildung und die wissenschaftlich dokumentierten bildungsbiografischen, psychischen und physischen Schäden des Präsenzunterrichtsentzugs ausgespielt und hat sich längst jenseits evidenzbasierter Faktenbelege verselbständigt. 

Dazu das immer wieder (und immer erfolglos) bemühte Narrativ: „Kinder als Virenschleudern“, also „Kinder werden zur Gefahr für ihre Eltern“ (so die inzwischen geänderter ursprüngliche Überschrift dieses „Spiegel“-Artikels). 

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Kommendes Wochenende beginnen die Kurzfilmtage Oberhausen. Wie im letzten Jahr führe ich für das Festival viele Online-Gespräche. Unter diesem Link findet man sie alle und die der Kollegen – man muss sich ein bisschen durchklicken, weil das System leider unnötig kompliziert und ärgerlicherweise nicht gut in Suchmaschinen verankert ist, wird aber für die Mühe belohnt. 

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Wer jetzt gedacht hat, dass ich heute großartig auf die Online-Video-Aktion vom vergangenen Freitag eingehen würde, in der 53 deutsche Schauspieler die Corona-Politik der Bundesregierung kritisieren, den muss ich enttäuschen. Der Kollege Peter Hartig macht dazu eine Presseschau, die muss ich hier nicht verdoppeln. Und meine persönliche Ansicht zum medialen Umgang mit den Schauspielern und ihren Beiträgen, den ich als sehr unangemessen empfinde, habe ich am Wochenenende auf „Telepolis“ veröffentlicht, etwas zu den ästhetischen Konsequenzen dieser vor allem künstlerisch missglückten Aktion werde ich im Filmmagazin „Artechock“ schreiben, wo es vor allem hingehört.

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Darum nur ein paar sehr knappe Gedanken und Denkanstöße:

– Auch unter Vertrauten herrscht hier keine Einigkeit, und auch ich selbst habe manche guten Freunde, mit denen ich in dieser Sache sehr weit auseinander liege. Mit anderen wieder sehr nahe beieinander. Es geht hier nach meinem Eindruck nicht allein um Ansichten und die Beurteilung der Clips und um das Verhalten der Schauspieler oder um die Reaktion darauf. Die Angelegenheit hat andere Intensitätsgrade.

Das hat bestimmte Gründe. Zuallererst Corona selbst und die allgemeine Ermüdung und Hoffnungslosigkeit, die damit einhergeht.

Wenn man sich erklären möchte, warum die Reaktionen in diesem Fall so viel heftiger und leidenschaftlicher und in alle Richtungen extremer ausfallen, als bei jeder anderen Künstler-Aktion in Sachen Corona während der letzten 14 Monate, dann finde ich einstweilen keine bessere Antwort, als dass es etwas mit der Tatsache zu tun hat, dass sich hier gerade Schauspieler zu Wort melden, darunter viele, die Kommissare, Polizisten und Ermittler spielen, im Tatort oder in Babylon Berlin.

Schauspieler sind für jeden von uns, ob branchennahe oder nicht, Projektionsflächen, sie sind Identifikationsfiguren. Ihre Rollen und sie selbst, Person und Persona vermischen sich ununterscheidbar. Und Fernsehkommissare sind auch zusätzlich immer noch ein bisschen (väterliche/mütterliche) staatstragende Repräsentanten der Obrigkeit. Es wäre interessant, herauszufinden, ob dies in anderen Ländern auch so ist – in Deutschland jedenfalls ist es so. Denken wir nur zurück, wie ist eine Angelegenheit von fast nationaler Bedeutung wurde, dass Schimanski im Fernsehen „Scheiße“ gesagt hat, und eine Jeansjacke trug.

Die Tatsache, dass solche kulturellen Autoritätsfiguren plötzlich anti-autoritär agieren, oder in der Nähe zu Corona-Leugnern zu kommen scheinen, führt zu einem Rumoren im Kollektiven Unbewussten, zu einer Art narzisstischer Kränkung des Publikums. So wie umgekehrt auch jene narzisstisch gekränkt sind, die sich eigentlich als Freiheitskämpfer und Bürgerrechtsverteidigern fühlen und plötzlich im Zusammenhang mit Rechtsextremen und Idioten genannt werden, in dem sie sich selber natürlich ganz und gar nicht sehen.

Beispielhaft kann man hier Verhärtungsprozesse einer ganzen Gesellschaft beobachten – „in der Nußschale“ und im Schnelldurchlauf.

– In diesen Zusammenhang ist es für mich besonders interessant und sehr sympathisch, wie Ulrich Matthes reagiert hat. Als Präsident der Filmakademie kann er nie nur “ als Privatperson“ sprechen, und mag er persönlich auch das Ohr und die Mobilnummer der Kanzlerin haben, so ist es doch seine Pflicht und Aufgabe, sowohl die Fans und Beteiligten von #allesdichtmachen als auch die vehementen Gegner dieser Aktion gleichermaßen zu repräsentieren, vor allem aber den mit Abstand allergrößten Teil der Filmschaffenden, die irgendwo dazwischen stehen und vielleicht selber mit sich um eine Position ringen.

Im Interview mit dem deutschlandfunkkultur macht Matthes klar, dass er die Videoaktion selbst immer noch „misslungen“ findet, dass aber selbst die misslungenste Aktion einen Teil der jetzigen Reaktionen nicht rechtfertigen kann. Forderungen nach Berufsverboten oder gar Todesdrohungen seien „skandalös“ und „furchtbar“, so Matthes. „Ich finde es schrecklich, wie meine Kolleginnen und Kollegen jetzt bedroht werden“, sagt er weiter „Die Rufe nach irgendwelchen Berufsverboten sind grotesk.“

Man müsse zivilisiert miteinander reden, sich auch mal streiten, findet Matthes und plädiert dafür, aufeinander zu zu gehen: „Ich kann wirklich nur geradezu flehentlich darum bitten, auf beiden Seiten abzurüsten, miteinander im Gespräch zu bleiben oder überhaupt wieder ins Gespräch zu kommen.

– Damit skizziert Matthes einen dritten Raum jenseits der verhärteten Fronten. Mit diesen Fronten meine ich nicht etwa Coronaleugner und Nazis. Die sind nicht satisfaktionsfähig. Ich meine aber sehr wohl die verschiedenen Nuancen zwischen jenen, die noch die radikalste Grundrechtseinschränkung und Verschärfung von Eindämmungsmaßnahmen aus Überzeugung unterstützen über jene, die sie nicht überzeugt trotzdem unterstützen bis zu jenen, die sie mit weniger oder mehr Skepsis kritisieren und angreifen.
Einen solchen Raum möchten wir auch weiterhin mit diesem Blog schaffen. Ein Raum für alle, die Behörden nicht selbstverständlich vertrauen, sondern sie als von uns bezahlte und geduldete Dienstleister verstehen, die im Zweifel für Freiheit, Selbstverantwortung und Autoritätsskepsis plädieren, für Nachfragen als Bürgerrecht und Kritik als Bürgerpflicht. Einen Raum für souveräne republikanische Citoyens.

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