Schnitt-Preis Spielfilm: Julia Kovalenko und Stephan Bechinger
Beim „Edimotion“ wurde Ende Oktober wieder die Kunst der Filmmontage gewürdigt. Die beste Spielfilmarbeit des Jahres entstand in einer ungewöhnlichen Konstellation: Weil Stephan Bechinger noch in einem anderen Projekt steckte, begleitete Julia Kovalenko den Dreh von „Systemsprenger“ im Schneideraum.
Julia und Stephan, ihr beide teilt euch bei dem Film „Systemsprenger“ den Montage-Credit. Wann, und mit welcher Aufgabenverteilung, seid ihr zum Projekt gestoßen?
Stephan Bechinger: Die Regisseurin Nora Fingscheidt wollte, dass ich den Film montiere, aber während des Drehs hatte ich ein anderes Projekt. Es war deshalb ursprünglich nicht geplant, dass jemand drehbegleitend schneidet. Doch mit dem ersten Drehtag tauchte das große Bedürfnis auf, dass jemand das macht. Dadurch wurde es etwas chaotisch: Ich bin die erste Woche eingesprungen, dann hat Linda Bosch weitergemacht und später Julia. Zwei Monate nach Drehschluss bin ich wieder dazugestoßen.
Julia Kovalenko: Es gab zwei Drehblöcke. Nora hatte mich schon für den ersten Drehblock angefragt, aber da war ich auch in einem anderen Projekt. Also bin ich mit dem zweiten Drehblock eingestiegen. Eigentlich war nur geplant, dass ich die täglichen Muster schneide, damit Nora sehen kann, ob die Szenen zusammenpassen. Und das lief dann ganz gut. Nora hat gefallen, was ich gemacht habe. Also hat sie mich gefragt, ob ich nicht einfach so lange weiterarbeiten mag, bis Stephan wieder Zeit hat. Ich hab dann von Januar bis Juni 2018 fast ein halbes Jahr am Film geschnitten. Stephan kam im Mai dazu, also lief es etwa einen Monat parallel: Während ich noch am Ende meiner Fassung geschnitten habe, hat er angefangen zu sichten und seine eigene Fassung aufzubauen.
Julia, du hast in deiner Montage-Phase einen Rohschnitt von 200 Minuten Länge erstellt, von dem Nora und Stephan auch manches ohne große Änderungen übernommen haben. Warst du da mit Nora intensiv zusammen im Schneideraum, oder hast du eher alleine gearbeitet?
Julia Kovalenko: Alleine. Ursprünglich wollte Nora nach dem Ende des Drehs und einer Pause zu mir in den Schneideraum kommen. Ich hatte ihr und Stephan vorher schon geschnittene Sequenzen geschickt. Irgendwann sagte Nora: „Ich finde du hast gerade einen guten Lauf; ich will dich da nicht beeinflussen.“
Also, obwohl sie eigentlich eine sehr genaue Vorstellung davon hatte, wie die Figuren sein sollen, oder wie die Filmsprache sein soll, war Noras Regieanweisung an mich: „Mach, was Du willst! Du kannst Sachen rauslassen, umstellen …“ Und das habe ich dann auch einfach gemacht. Sie wollte sehen, was alles möglich ist. Und sie wusste ja auch, dass sie noch die Zeit mit Stephan hat, also es kann nichts kaputt gehen!
Eine durchaus ungewöhnliche Arbeits-Konstellation!
Julia Kovalenko: Absolut. Es ist natürlich eine Herausforderung, über so einen langen Zeitraum alleine zu arbeiten, ohne sich auszutauschen. Deswegen haben Nora und ich uns alle zwei Wochen getroffen, aber nicht im Schneideraum, sondern einfach so zum Tee. Wir haben zwar auch über den Film gesprochen, aber nicht über bestimmte Szenendetails. Sondern allgemein über den Bogen, über Figuren, was funktioniert und was nicht. Sie hat mir von ihren Recherchen erzählt, von dem Dreh … Solche Sachen.
Tatsächlich haben Nora, Stephan und ich uns dann erst zu dritt getroffen, als ich meinen Rohschnitt fertig hatte. Wir haben den zusammen angeschaut, besprochen, und dann bin ich drei Monate privat ins Ausland gefahren. Später war ich noch bei ein paar Sichtungen dabei oder habe einen Online-Link bekommen und war einer der vielen Dialogpartner in der zweiten Schnitt-Phase.
Stephan, wie lange hast du dann noch gearbeitet?
Stephan Bechinger: Es war ein ziemlicher Endspurt bis zur Berlinale 2019. Wir haben sogar während der Mischung noch weiter geschnitten! Sonst wäre der Film nicht rechtzeitig fertig geworden.
Wie war das Ausgangsmaterial bei Systemsprenger – gab es wegen der Kinder eine hohe Auflösung und improvisierte Szenen?
Stephan Bechinger: Ich hab’ in Erinnerung, dass wir 130 Stunden hatten, also schon reichlich Material. Improvisiert war davon wenig, aber die Spielenergie hat dazu beigetragen, dass es viele Möglichkeiten gab, und man zu den meisten Szenen sehr unterschiedliche Varianten schneiden konnte.
Julia Kovalenko: Die Takes waren oft sehr lang. Die Kamera ist meist nach Gefühl mitgegangen, deswegen war jeder Take ein Unikat.
Spielenergie ist ein gutes Stichwort: Als Zuschauer ist man überwältigt von der Urkraft und Dynamik in diesem Film. Auch die durchaus extrovertierte Montage trägt ihren Teil dazu bei, diese Energie zu verstärken.
Julia Kovalenko: Die meiste Energie kam schon von Helena Zengel, die Benni spielt. Sie hat wahnsinnig gut gespielt! Natürlich ist dieses Aufgeladene von uns zum Beispiel durch Sprünge und Ellipsen zugespitzt worden.
Stephan Bechinger: Es war von vornherein ein Wunsch von Nora, dass der Film die Energie des Kindes widerspiegelt. Es war also ein relativ gradliniger Prozess dahin, dass die Montage so extrovertiert wird; es hat sich aus dem Material ergeben. Es ging dann vor allem im ersten Drittel darum, welches Maß an Überforderung angebracht ist.
Besonders auffällig ist die Montage zum Beispiel bei Bennis Ausrastern, wo teils mit Rosa eingefärbte, abstrakte Impressionen ihre Emotions-Explosionen visualisieren.
Stephan Bechinger: Diese Stellen waren schon im Drehbuch angelegt, aber komplett anders. Es gab wiederkehrende narrative Träume, zu denen immer wieder gesagt wurde, dass man sie lieber streichen sollte. Nora meinte, sie verstehe zwar die Kritik, möchte die Stellen aber drin lassen und später entscheiden, ob sie dem Film etwas geben.
Ich hab mich anfangs schwer mit diesen Passagen getan; sie haben für mich nicht richtig funktioniert. Es gab dann eine Schnittfassung, wo der Film mit einem Impressionsblock begann. Dadurch konnte man diese Stellen etwas ruhiger, traumhafter erzählen und im Verlauf des Films wieder aufgreifen. Jetzt kommen sie ja mehr oder weniger aus dem Nichts, aber die damalige Fassung hat mir geholfen, etwas Eigenes entstehen zu lassen.
Was gab es dazu als Rohmaterial?
Julia Kovalenko: Der Kameramann Yunus Roy Imer und Nora haben immer mal Abends kurz vor Drehschluss noch Impressionen aufgenommen und dabei mit diversen Linsen experimentiert. Es war ein bisschen wie Nurtöne aufnehmen!
In einem Interview beschreibt Nora Fingscheidt sich und Stephan als eher melancholische Persönlichkeiten, und meinte, du Julia hättest mit deiner Fassung „Humor und Leichtigkeit“ reingebracht. Wie hast du dich an die Tonalität des Films, der ja eigentlich ein sehr ernstes Thema hat, herangetastet?
Julia Kovalenko: Ich bin so rangegangen wie an andere Filme auch. Ich achte beim ersten Sichten genau darauf, was in mir passiert. Wenn z.B. jemand zwei Sekunden auf eine bestimmte Art und Weise guckt, und es mich irgendwie berührt, dann versuche ich diesen Moment zu verwenden.
Beim Sichten von „Systemsprenger“ fielen mir immer wieder lustige Momente auf, und ich fand schon, dass man die einbauen sollte. Außerdem hat mir Nora von ihren Recherchen erzählt, dass diese Heim-Kinder trotzdem lachen, egal wie schwer ihre Situation ist. Das war eine Anregung für mich, zumindest mal ein Schmunzeln zulassen und einen Kontrast aufbauen, in dieser Schwere.
Ich finde es eine besondere Qualität des Films, wie behutsam und differenziert er mit seinen Figuren umgeht, so dass wir mit jedem mitfühlen können. Auch mit der überforderten Mutter. Was war für Euch bei der Figurenarbeit am kompliziertesten?
Julia Kovalenko: Es ist natürlich Bennis Geschichte, aber trotzdem war wichtig, dass man nie in das Schema verfällt: „Die bösen Erwachsenen, oder die böse Mutter, oder das böse System!“ Man muss verstehen können, warum die Erwachsenen so reagieren, wie sie es tun.
Stephan Bechinger: Der Film ist insgesamt nah am Drehbuch; die größten Umstellungen haben mit der Figur der Mutter zu tun. Zum Beispiel gab es die Entscheidung, das Telefonat von Benni mit ihr vorzuverlegen, bevor man die Mutter das erste Mal sieht. Und dass wir die Natursequenz mit den Echo-Rufen nach der Mutter beenden und mit diesem Gefühl wieder zurückkommen.
Die Musik ist ja teilweise nicht nur begleitende, unterstützende Filmmusik, sondern es gibt auch Clip-artige Passagen, wo sie es noch mal zusätzlich krachen lässt. Also auch da die Entscheidung, wir wollen die Energie noch verstärken?
Stephan Bechinger: Ja, eine der intensivsten Musikpassagen ist ziemlich am Anfang, wenn Benni zum ersten Mal wegrennt. Damit ist diese Haltung früh etabliert.
Schön war, dass wir den Austausch mit dem Komponisten parallel zum Schnitt hatten. Die Musik hat manchmal einen anderen Rhythmus gebraucht, oder der Schnitt wollte etwas anderes – also das ging oft hin und her, und hat sich gegenseitig befruchtet.
Julia Kovalenko: Ich hab noch hauptsächlich mit Layouts gearbeitet. Ich hatte nur zwei Stücke vom Komponisten: Den Popsong in der Pommes-Bude und den härteren Song wenn Benni und Micha in die Wildnis fahren.
Kurz bevor wir uns alle meine Fassung angeschaut haben, hat Nora mich gebeten, eine meiner provisorischen Musiken zu ändern. Und zwar hatte ich für den Flughafen am Schluss etwas ausgesucht, was eher melancholisch, traumartig war. Nora sagte, womit sie auch absolut recht hatte: „Nein, das muss wieder reinhauen“, so wie an den diversen anderen Stellen wo Benni abhaut. Denn dieses Mädchen ist einfach nicht klein zu kriegen.
Der Schluss bewegt sich etwas weg von der Realität in eine Überhöhung, und lässt unterschiedliche Interpretationen zu.
Stephan Bechinger: Im Drehbuch war die Szene zum Ende hin noch viel abstrakter und gleichzeitig eindeutiger, als es dann beim Dreh möglich war. Es war geplant, dass Benni vom kompletten Flughafen verfolgt wird, rausrennt, und dann gewissermaßen losfliegt. Dazu wollte Nora hunderte Statisten haben, doch das ließ sich nicht realisieren.
Das Ende wurde tatsächlich auch während der Schnittphase von Testzuschauern immer wieder unterschiedlich interpretiert und viel diskutiert. Wir haben bis zuletzt daran gefeilt, wie breit man den Flughafen erzählt.
Julia Kovalenko: Jetzt liegt es am Zuschauer, sich zu entscheiden, mit welchem Gefühl er da rausgeht. Denn es gibt ja letztlich keine Lösung. Die will der Film auch nicht bieten.