Kino in Zeiten von Corona 5
„Das Autokino erlebt eine Renaissance“ titelt „Der Tagesspiegel“ in Berlin. Die Bundesnetzagentur, die dafür die Frequenzen zuteilt, erhält immer mehr entsprechende Anträge. Frische Blockbuster aus dem Startplaner darf man natürlich dort nicht erwarten. Was mir fehlt, und was es durchaus schon gab, wären Kurzfilme im U-Bahn-TV, zumindest für die, die zur Arbeit fahren müssen.
Als neue Abspielmöglichkeit entdeckt man nun Hinterhofwände, um sogenanntes Fassadenkino zu ermöglichen. Berlin machte den Anfang und streamte den „Himmel über Berlin“ in einem Hinterhof im Prenzlauer Berg. Die Initiative hinter Windowflicks möchte gleichzeitig die Berliner Programmkinos der Initiative „Fortsetzung folgt“ unterstützen. Für eine Fassadenvorführung kann man sich bewerben, zur Verfügung steht neben dem Wim Wenders-Klassiker im Verleih von Studiocanal auch „Shaun das Schaf – Der Film: UFO-Alarm“ ebenfalls von Studiocanal oder „Loving Vincent“ und der Berlin-Film „Cleo“ von Weltkino und „The Artist“ von DCM. Bewerben können sich Hausgemeinschaften ab 20 Parteien mit entsprechender Sicht auf eine ausreichend große Feuerwand. Das sollte dann auch dem Schwarzen Brett in Hausfluren Auftrieb geben. Vorführungen finden Donnerstags und Samstags statt.
Über eine Zeit danach machen sich viele Gedanken. Die AG Kino bündelt Wissenswertes und Rechtliches. Über die Zukunft wird jedoch, zumindest in Berlin, nicht vor dem 30. April entschieden. Von daher: nächste Woche mehr.
Und konkret aktuell? Blockbusterkino findet scheinbar nur auf den Streamingportalen statt. Sang- und klanglos verschob Universal bereits „Waves“ in das Digitalprogramm. Die aktuellen Titel „Emma“ und „Der Unsichtbare“ folgten. Heute, am 23. April, sollte „Trolls World Tour“ in die heimischen Kinos kommen. Bereits vor zehn Tagen startete man den Musical-Animationsfilm um die bunten Trolls in den Staaten. Die groß angelegte Werbemaschine rollte bereits und wurde kein bißchen gestoppt. Die Trolls-Filme, das ist jetzt der zweite, feiern die Diversität, auch die diversen Musikrichtungen wie Pop und Rock treten hier an. Die Taktrate der Schnitte ist immens.
Ebenfalls aus dem Startprogramm fällt „The Rhythm Section – Zeit der Rache“, der bei dem neuen Verleih Leonine im Katalog steht und trotz des Titels nichts mit Musik zu tun hat. Die James-Bond-Produzenten hatten, haben dieses Jahr zwei Action-Thriller am Start: „Keine Zeit zu sterben“ ist auf den November verschoben worden; „The Rhythm Section – Zeit der Rache“ dagegen startet statt im Juni jetzt am 28. April als Video-on-Demand. Regie führte die Kamerafrau Reed Morano, die mit „Meadowland“ ein starkes Regiedebüt gab, die Kamera übernahm Sean Bobbit. In der ersten Verfilmung der Stephanie Patrick-Reihe von Mark Burnell, der auch das Drehbuch schrieb, folgen wir Blake Lively, die aus der Trauer um den Verlust ihrer Familie bei einem Flugzeugunglück erwacht, als sie erfährt, dass es sich um einen vertuschten Terroranschlag handelte. Von Jude Law lässt sie sich zur Auftragskillerin formen, um Rache zu nehmen. Im Gegensatz zu einem James Bond ist diese Figur bei weitem nicht perfekt, sondern eher das Gegenteil. Die Einspielergebnisse in den USA waren, wo der Film Ende Januar noch in die Kinos kam, katastrophal.
Auch der Verleih Salzgeber bewertet seine Aufstellung neu. Angesichts der Tatsache, dass all die ausgefallenen Startfilme gar keinen Platz auf den Leinwänden finden werden, wenn es denn mal weitergeht, ist die Entscheidung richtig. Statt am 7. Mai wird das Musiker-Porträt „Liam Gallagher: As It Was“ ab dem 24. April auf den VoD-Kanälen ausgespielt. „As It Was“ ist kein Oasis-Film. Die britische Band mit Weltruhm überlebte die mehr als problematische Dynamik zwischen den zwei Brüdern, dem Songwriter Noel und dem Sänger Liam Gallagher, nicht. Mit einem Knall war es 2009 vorbei. Seither Funkstille zwischen den Brüdern. Wie das so ist, wenn man an Problemen nicht arbeiten kann, vertiefen sich die Wunden, Liam ging daran praktisch zu Grunde, und hier geht es nur um einen der beiden. Charlie Lightening, der bereits Paul McCartney oder Robbie Williams porträtierte, und der Ire Gavin Fitzgerald begleiteten Liam Gallagher über einen längeren Zeitraum und schreiben somit eine Comeback-Story, die sich nur auf eine Seite konzentrieren kann (Oasis-Songs gibt es folglich auch nicht), und die die Verletztheit seiner Titelfigur immer mitschwingen lässt.
Es startet im Netz diese Woche noch eine Musikdokumentation, und die kann ich wirklich empfehlen. „Die Liebe frisst das Leben – Tobias Gruben, seine Lieder und die Erde“. Heute wäre die Musik-Biografie ins Kino gekommen. Heute hätte die geplante Kinotour in Hamburg, der Wirkungsstätte von Tobias Gruben, mit den Gästen FM Einheit (Einstürzende Neubauten), Tobias Levin (Blumfeld) und Florian Langmaack (Cyan Revue) stattgefunden. An diesem Samstag wären im Berliner „Moviemento“ Musiker von Tellavision, Isolation Berlin und auch Tom Schilling dabei gewesen. Tobias Gruben ist für viele sicherlich auch heute kein Begriff. Einst hatte er mit Christoph Schlingensief in einer Band gespielt (Die vier Kaiserlein), in Hamburg spielte er mit Cyan Revue und dann Die Erde. Gruben sang auf Deutsch, seine Songs erzählten unter anderem vom Verhältnis zum Vater und später zu Drogen, sind stets selbstbezogen und doch allgemeingültig.
Der Regisseur Oliver Schwabe gelingt, was vielen Musikdokumentationen eben nicht gelingt: Er bringt dem Publikum eine Figur nahe, die von ihm eventuell noch nie gehört hat. Das Hamburger Label What’s So Funny About hatte die Alben von Die Erde herausgebracht. Ein Major hätte fast ein Album veröffentlicht, aber dann kam Grubens früher Drogen-Tod dazwischen. Schwabe spricht nicht nur mit Freunden und Musikern, sondern mit den Geschwistern. Die Familie steuert Briefe bei, die aus dem Off vorgelesen werden und dieser Biografie eine ganz entscheidende Komponente hinzufügen. Tobias bleibt hier Mensch.
Die Zuschauerschaft (jetzt eben auf dem Vimeo-Channel des Verleihs Mindjazz Pictures – die Einkünfte werden mit 50 Prozent mit den ursprünglichen Startkinos geteilt), fühlt und versteht. Das dazugehörige Musik-Release des kleinen, aber feinen Labels What’s So Funny About/ZickZack bringt die Songs auf Vinyl und CD raus. Noch ein interessanter Ansatz des Teams: jungen Bands wurden die Songs zur Neuinterpretation anvertraut, auch diese befinden sich auf dem Release. Zum Wiederentdecken, zum Neuentdecken.
Der wöchentliche Salzgeber Club hebt eine Perle aus dem letzten Startjahr ins Programm: „Madame“. Madame ist die Großmutter von Stéphane Riethauser. Nur noch ihre Stimme hat er auf Band und tritt doch in einen Dialog. Ihre Biografie, die als Kind eines italienischen Einwanderers in die Schweiz von einem patriarchiaischen Weltbild geprägt wurde, ist nur der Beginn. Riethauser, dessen Vater auch schon zur Kamera griff, will sich dem Wunsch, ein richtiger Mann zu werden, anpassen. Nicht so sehr sein Coming-out ist Gegenstand des Films, sondern wie das Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit sich über Generationen festsetzt in der Gesellschaft.
Das Angebot von Grandfilm auf ihrem Vimeo-Channel wächst stetig. Einen Titel gibt es dabei immer für eine Woche zum Sonderpreis für 99 Cent. Diese Woche ist das „Don’t Blink – Robert Frank“ der Regisseurin Laura Israel. Sie war über Jahre hinweg Robert Franks Mitarbeiterin und Cutterin. Der amerikanisch-schweizerische Fotograf hatte mit seinem Konzeptionsband „The Americans“ ein Bild des Landes entworfen und sich dann auch dem Film gewidmet. Israel widmet Frank ein fragmentiertes Porträt (Kamera Lisa Rinzler und Ed Lachman) mit vielen Ansätzen.
Ein weiterer Film im Programm ist Carlos Reygadas mexikanischer Film „Nuestro tiempo“. Jungs spielen am Stausee, messen ihre Kräfte und fallen im Spiel über die Mädchen her. Bereits in dieser Eröffnung wird das Thema abgesteckt. Juan und Ester, gespielt von Reygadas („Post tenebras lux“) und seiner Frau Natalia López, wollen eine offene Beziehung leben. Als Ester jedoch tatsächlich eine Affäre mit dem Amerikaner Phil eingeht, wächst in Juan die Eifersucht. Reygadas behandelt Maskulinität und ihre Auswirkungen. Die gemeinsame Farm, auf der sie Stiere für den Stierkampf ausbilden, dient als Parallele. Die Kameraarbeit von Diego García und Adrián Durazo setzen diese Betrachtung in große Bilder von malerischer Qualität.
Ein weiterer VoD-Tipp ist „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, den GM Films auf seinem Vimeo-Channel begrenzt zur Verfügung stellt. Die Dokumentation, die diese Woche auch für den deutschen Filmpreis antritt, deckt vier Generation und ein Jahrhundert deutsche Geschichte anhand von Briefen und Tagebucheinträgen, die Regisseur Thomas Heise selbst einspricht, ab. So wir mit einem steten Fluß an assoziativen Bildern aus dem Archiv und dem Hier und Jetzt eine persönliche, intime, aber auch allgemeingültige Betrachtung der deutsche Zeitgeschichte vermittelt. Auf der Berlinale bekam die hypnotische Dokumentation, die einem Essay gleicht, den „Caligari-Preis“.
„Die Mehrheit der Kinogänger vermisst das Kino“, ist ein Fazit der Umfrage von S&L Research via dem Umfragetool Moviepanel, die zwischen dem 9. und 14. April mit dem Titel „Sehnsucht Kino“ vorgenommen wurde. Es heißt, die „Bevölkerung [vermisst] den Gang ins Kino. Die überwiegende Mehrheit der Befragten (93 Prozent) setzt ein deutliches Signal und gibt an, nach der Krise beziehungsweise nach Aufhebung der Beschränkungen ,sehr wahrscheinlich’ oder ,wahrscheinlich’ wieder ins Kino gehen zu wollen. Der Kinobesuch wird dabei sogar als vergleichsweise sicher empfunden.“ Doch: „,Sofort nach Öffnung’ planen nur 25 Prozent der Befragten, in die Kinos zu gehen; weitere 38 Prozent immerhin ,innerhalb weniger Wochen’. Eine (relative) Normalisierung sollte sich laut der Umfrageergebnisse innerhalb von zwei Monaten nach Wiedereröffnung herstellen – insgesamt 84 Prozent der Kinogänger sagen für diesen Zeitraum ihren ersten Post-Corona-Kinobesuch voraus.“
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