Kino in Zeiten von Corona 25

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Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 10. September 2020.

Der Sommer ist vorbei. Auch in Bayern hat die Schule wieder begonnen. Mit dem neuen Jahr, mit dem Übergang in eine kühlere Jahreszeit, in der man traditionsgemäß noch lieber ins Kino geht, wird auch diese Kolumne einen Neuanfang machen. Gerade hat das Filmfestival in Venedig, das erste A-Festival seit der Berlinale, beweisen dass ein Festival auch physisch machbar ist. Aus der Ferne betrachtet kommt da ein bißchen Neid auf die Anwesenden auf. Man wünscht sich so gerne, dass alles wieder einer Normalität, gerne auch einer neuformulierten Normalität folgen möge, die man soweit verinnerlicht hat, dass man sich mit ihr wohl fühlt. Die Filmkunstmesse in Leipzig steht an. Sie feiert ihr 20. Jubiläum, und sicherlich werden hier neue Impulse gesetzt. „Screen Daily“, darauf weißt Programmkino.de hin, berichtet von einem Panel in Venedig über „Herausforderungen und Chancen für die Arthouse-Industrie nach der Pandemie“ [auf Englisch]. Kino muss Freude machen, Filme sollten, jeder für sich, gefeiert werden.

Die Arthouse-Charts feiern Jan Komasas „Corpus Christi“. Die Parabel über den jungen Straftäter, der sich als Priester ausgibt, liegt sowohl nach Gesamtbesucherzahlen als auch im Kopienschnitt vorne. Auch der Neuzugang „Drei Tage und ein Leben“ konnte sich unter die Top 5 positionieren. Die Zahlen von „Tenet“ sind erfreulich. Und auch „After Truth“ von Roger Kumble ist erfolgreich. „Blickpunkt Film“ meldet eine entsprechende „Zeitenwende“. Bei den Major-Veleihern blickt man nach Amerika, die Filmstarts in den USA beeinflussen auch unseren Kinokalender. „Variety“ evaluierte vorige Woche, wie der unterschiedliche Weg von Warner Bros. (mit Christopher Nolans „Tenet“) und Disney (mit Niki Caros „Mulan“) die Zukunft von Blockbustern beeinflussen könnten.

Der Startkalender ist zumindest prall gefüllt. 14 Filme suchen diese Woche unsere Aufmerksamkeit. Da gibt es den Blockbuster „The New Mutants“, auf den viele Kinogänger warten, und der Arthouse-Film „Vitalina Varela“, der von der Bildsprache neue Akzente setzt. Publikumslieblinge werden sicherlich, wage ich mal zu sagen, zum einen die Komödie „Love Sarah“ und „Faking Bullshit“ sein.

Ein portugiesischer Film von Pedro Costa ist der Titel diese Woche, der absolut und ausschließlich ins Kino gehört. Vitalina Varela hat in Pedro Costas Film „Horse Money“ (2014) einen kurzen Auftritt gehabt. Sie betrauerte ihren Mann, zu dessen Beerdigung sie zu spät gekommen war. Diese ihre Geschichte ist die Grundlage zu einem Film, der aus dem sehr Persönlichen ein Film über verlorene Träume, dem Begreifen des Verlusts und ein Hadern mit dem Schicksal macht, selbstredend wirkte Varela am Drehbuch bei dem Film, der ihren Namen trägt, mit. „Vitalina Varela“ wird von dem relativ kleinen Verleih Grandfilm in die Kinos gebracht, der zur Lockdown-Zeit maßgeblich neue Wege gesucht hatte, dem Publikum Filme zu vermitteln. „Vitalina Varela“ kommt nun nicht wie ursprünglich geplant im Juni sondern jetzt im September in die Filmhäuser. Es wird ein bißchen eher dunkel, das passt, der Film lebt von und mit der Dunkelheit. Bereits in der ersten Szene blickt man auf eine enge Gasse. Kaum kann man die Figuren ausmachen, die einem entgegen laufen und dann wieder verschwinden. Enge Gänge, lichtlose Räume, wenige Risse, alles wirkt gedrungen und schwer und manchmal wirken die Bewegungen in der Dunkelheit wie eingefroren. Die Bildsprache überwältigt. Wenn die Figuren vor einem Lichtschein in eine Gasse verschwinden, dann werfen diese dunklen Gestalten auch noch dunkle Schatten an die Wand. Darin liegt ein Zauber, der diesen Moment vor dem inneren Auge ausdehnt und den Zuschauer umarmt. Der Blick wird immer wieder auf etwas geleitet, man muss dem Filmemacher und dem Kameramann Leonardo Simões nur vertrauen. Gedreht wurde nachts, auch aus praktischen Gründen. Wenn in der Nachbarschaft in dem Armenviertel von Lissabon Ruhe eingekehrt war. Wer mehr erfahren will, dem empfehle ich ein ausführliches Gespräch mit dem Regisseur auf Mubi [auf Englisch]. Das Bedürfnis, den Film dann noch einmal sehen zu wollen, kann nicht ausgeschlossen werden.

Gerade erst hat „Kiss Me Kosher“ auf dem Jüdischen Filmfestival Berlin-Brandenburg den Gershon-Klein-Filmpreis für den besten deutschen Film mit jüdischer Thematik gewonnen. „Kiss Me Kosher“ ist eine deutsche Produktion, spielt aber in Israel und wurde dort auch gedreht. Shira (Moran Rosenblatt) wird von ihrer deutschen Freudin Maria (Luise Wolfram), die für eine Promotion über den Klimawandel nach Israel gekommen ist, mit einem Ring überrascht. Eigentlich war das ja ein Versehen, das kann man ruhig sagen. Das Ereignis löst aber eine Welle an Reaktionen aus. Dabei ist es unerheblich, dass hier eine lesbische Beziehung gelebt wird, weil die Fettnäpfchen woanders lauern. Sieht man mal von dem nervenden Bruder, der mit der Kamera eine Dokumentation über eben diese Beziehung drehen will, ab. Shiras Großmutter ist nicht entzückt. Eine Deutsche. Muß das sein? Überhaupt, was haben Marias Großeltern im Krieg gemacht? Aber, oh heilige Doppelmoral, Oma Berta (Rivka Michaeli) liebt selbst Ibrahim, einen Palästinenser. Shirel Peleg inszeniert in ihrem Langspielfilmdebüt eine Screwballkomödie und Romanze, die im familiären Chaos ein Feuerwerk zündet, aber nicht darauf besteht, tiefere Erkenntnisse zu Tage zu befördern. Peleg wuchs in Israel auf und studierte dort am Sapir College. Später setzte sie ihre Studien an der Filmakademie Baden-Württemberg fort. Gedreht wurde in Tel Aviv, das Cast ist international, so spielt Juliane Köhler die deutsche Mutter und John Carroll Lynch den israelischen Vater. Zum Beispiel. Für die Kameraarbeit stand Peleg dabei Giora Bejach („Lebanon“) zur Seite. Zwei Kulturen treffen mit Karacho aufeinander, als es gilt eine Hochzeit zu planen, während man familiäre Hintergründe und Traditionen verhandelt.

Die titelgebende Sarah in „Love Sarah – Liebe ist die wichtigste Zutat“ radelt durch London während in Parallelmontage die wichtigen Menschen in ihrem Leben allzu knapp eingeführt werden. Sarahs Lebenstraum ist eine eigene Bäckerei, die sie mit ihrer besten Freundin aufziehen will. Die Regisseurin Eliza Schroeder deutet in ihrem Langspielfilmdebüt, den sie mit britischen und deutschen Produktionspartnern in Notting Hill gedreht hat, die Tragik nur an. Sarah ist nicht mehr und damit muss ihre Mutter, zu der sie lange keinen Kontakt hatte, ihre Tochter und ihre beste Freundin erst einmal klarkommen. Die Trauer führt die Hinterbliebenen zusammen, und gemeinsam wollen sie diesen Traum verwirklichen. Ein Heilungsprozess, dafür legt man auch seine eigenen Lebensentwürfe beiseite. Der Zusatztitel „Liebe ist die wichtigste Zutat“ ist ziemlich überflüssig, weil es die Liebe, gemeint ist die Liebe zu einem alten Freund oder den Herrn aus der Nachbarschaft, emanzipatorisch und überhaupt nun wirklich nicht braucht, weder für die Gefühle oder für die Küche, noch für die Handlung. „Love Sarah“ bleibt ein leiser, unaufgeregter Film, der unter seinen Möglichkeiten bleibt, aber die Szenen, die oft nur in kleinen engen Räumen spielen, hübsch aussehen lässt. Besonders die Köstlichkeiten, das Food Design kommt von Yotam Ottolenghi, entfalten Appetiet.

Auch der Dokumentarfilm ist diese Woche gut vertreten. „Body of Truth“ stellt vier Frauen vor: die Performancekünstlerin Marina Abramovic, die Photographin Katharina Sieverding, die iranische Foto- und Filmkünstlerin Shirin Neshat und die israelische Bildhauerin Sigalit Landau. Diese vier sehr unterschiedlichen Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen, deren Schaffen auch von den politischen Gegenenheiten in ihrer Heimat geprägt wurde, teilen sich die Filmlänge und berichten über ihre Herkunft, die Einflüsse, die sie prägten und ihren inneren Antrieb. Bereits mit Georg Baselitz hatte Evelyn Schels eine Figur aus der Kunstwelt porträtiert. „Body of Truth“ wirft auch ein Licht auf die Ausdruckskraft, die die Protagonistinnen aus ihrem Körper schöpfen.

Arvo Pärt schöpft aus der Stille, aus dem Inneren, eine Musik tut sich in den Zwischenräumen auf. Tom Tykwers „Winterschläfer“, Michael Manns „The Insider“, Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“ oder Joss Whedons „Avengers: Age of Ultron“. Ihnen ist gemein, dass sie die Musik von Arvo Pärt verwenden. Die „Berliner Messe“ oder „Fratres“ oder „Litany“. Es gab eine Zeit, da notierte ich mir stets, wenn ich in einem Film die Musik von Arvo Pärt wahr nahm. Es wurden dann zu viele. Irgendwann wird ein Dokumentarfilm vielleicht auch die Anziehungskraft der Musik des estnischen Komponisten auf Filmschaffende behandeln. Der niederländische Dokumentarfilmregisseur Paul Hegemann befragt in „Das Arvo Pärt Gefühl“ immerhin den Regisseur Alain Gomis und zeigt Ausschnitte aus dessen Film „Félicité“, in dem Pärts Musik ein zentraler Charakter und nicht nur Untermalung ist. „That Pärt Feeling“ ist keine biographische Dokumentation. Pärt selber ist nur soweit die Titelfigur, als dass der Film zu ergründen versucht, was seine Musik ausmacht, wie sie wirkt und was sie mit denen macht, die seine Musik spielen wollen. Es ist eine Musikdokumentation, die sich der Musik widmet und ihr den größten Raum überlässt. Dabei kommen MusikerInnen und Dirigenten und OrchesterleiterInnen zu Wort, aber mehr noch als das, was sie sagen, vermitteln uns die Beobachtung wie sie diese für sich erarbeiten. Darum gibt es auch nicht nur Konzertaufnahmen, sondern Konzertproben. Es brauche das „Pärt-Gefühl“ um seine Musik spielen zu können. Hegemann fasst sich kurz, die Musik wirkt nach.

Die Filmemacher*innen Jennifer Baichwal, Nicholas de Pencier und Erward Burtynsky schließen nach „Manufacturing Landscapes“ (2006) und „Watermark“ (2013) ihre Trilogie mit „Die Epoche des Menschen“ ab. Etwas akademischer lautet der Originaltitel „Anthropocene: The Human Epoch“ und so verweist zumindest das deutschel Plakat auf „Das Anthropozän“. Dies ist die Zeitepoche, in der der Mensch die Erde formt, während wir offziell noch in der von der Eiszeit geprägten Epoche leben, dem Holozän. Das Filmteam bereiste den Erdball und sammelte Kino taugliche erschreckend schöne Bilder, meist Luftaufnahmen, die beweisen, wie sehr der Mensch in die Natur eingreift und was das für Auswirkungen hat. Das tut der Mensch bekanntlich seitdem er seßhaft geworden ist, aber wir nähern uns einem Schlußpunkt, was auch unsere Zeit der Pandemie beweist. „Die Epoche des Menschen“ ist allerdings 2018 produziert worden und setzt mit den Aufnahmen von der Verbrennung von Wildernern erbeuteten Elfenbein seine Klammer. Ein Menetekel von der Gier der Menschen zulasten der Natur. Nicht nur Wissenschaftler, sondern Baggerfahrer und Kranführerinnen, Wildhüter und Zooführerinnen kommen zu Wort. Im Original begleitet die Stimme der Schauspielerin Alicia Vikander das Publikum, in der deutschen Fassung übernahm den Part, wieder einmal, Hannes Jaenicke. Der Job möge ihm gegönnt sein, doch hätte man hier der Enscheidung der Filmemacher für einen weiblichen Part gerne folgen können.

 

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