Kino in Zeiten von Corona 17

,

Alles Kino und noch mehr: Die Woche vom 16. Juli 2020. 

„Dein Kino vermisst dich“. Das muss mal gesagt werden. Der Spot kommt von der Initiative „Zurück ins Kino“ und kann von den Kinos in NRW eingesetzt werden.

Die Kinos haben kaum Filme, mit denen sie das große Publikum erreichen können, mit denen ein Betrieb zumindest ansatzweise rentabel machbar wäre. Die Charts zeigen, dass der neue Film der „Conni“-Reihe, „Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau“, auf Platz 2 abstieg und dafür, ebenfalls ein Kinderanimationsfilm, „Paw Patrol: Mighty Pups“ sich an die Spitze setzte. Ein erwachsenes Publikum, sofern ohne Kleinkinder, werden beide Titel nicht ansprechen. Auf Platz 3 („Filmecho“ listet die ersten fünf Plätze, die durch Comscore ermittelt werden) befindet sich „Scooby!“. Auch der ist ein Kinderfilm, ein Animationsfilm. Die Arthouse-Charts („Programmkino.de“ gibt die Auswertung von der AG-Kino weiter) bestätigen Petzolds „Undine“ weiterhin auf den ersten Platz. Platz 2 ist ein Neueinsteiger, „Eine größere Welt“, die Lebensgeschichte von Corine Sombrun.

Jetzt hat Kim Ludolf Koch, Gesellschafter der Cineplex-Gruppe, einen Offenen Brief an Martin Moszkowicz von der Constantin Film geschrieben, in dem er darum bittet, die hochwertigen Titel des Verleihs nicht auch noch nach hinten zu schieben, sondern im Gegenteil zügig ins Kino zu bringen. Die „Eberhofer“-Reihe verzeichnet regelmäßig Besucherrekorde, die Folge „Kaiserschmarrndrama“ wurde aber gerade vom 13. August auf „unbekannt“ gesetzt (Stand 13. Juli 2020). Im Jugendfilmbereich hat Constantin den neuen Film der „Ostwind“-Reihe, „Ostwind – der große Orkan“, auf den Dezember geschoben, und der neue Sönke Wortmann, „Contra“, soll nun sogar erst im Januar 2021 ins Kino kommen. „Blickpunkt Film“ bringt den Offenen Brief im Wortlaut. 

Darauf folgte sogleich ein Leserbrief von Sven Andresen, Geschäftsführer von Die Filmagentinnen, der die Idee aufgreift und weiterführt. So sollte man darüber nachdenken, den Verleihern mit einer Ausfallbürgschaft für nicht erwirtschaftete Erlöse entgegen zu kommen. 

Auch darauf folgte ein weiterer Leserbrief, Markus Grab von Inside Kino schlägt nun vor, dass die FFA auf jedes verkaufte Kinoticket etwas draufschlagen könnte – und zwar sowohl für die Verleiher als auch für die Kinos. Andresen trifft in seiner Aussage einen Punkt, der wohl für alle evident ist: Man solle daran arbeiten, den „Markt ein Stück weit von der amerikanischen Abhängigkeit zu emanzipieren.“

Heute, am 16. Juli 2020, sollte ursprünglich Christopher Nolans „Tenet“ starten. Dann verschob der Verleih den Titel auf den 30. Juli, aktuell steht er noch mit dem 12. August 2020 im Startplan. Das wird sich ändern. In Amerika ist noch nicht mal daran zu denken, Kinos großflächig zu öffnen. Es wird weiter geschoben werden und die deutschen Verleihpartner müssen mitziehen. Heute sollte auch „Top Gun: Maverick“ ins Kino kommen. Der schiebt sich in den Dezember. Voraussichtlich. Stand der Informationen? Die letzte Pressemeldung vom wievielten? Eine gute Übersicht über die Startverschiebungen liefert die Wikipedia, allerdings nur die englischsprachige, und der entsprechende Eintrag konzentriert sich auf die US-Starttermine. Übergreifend geht es zwar um den „Impact of the Covid-19 pandemic on cinema“, aber wenn man nach unten scrollt, bekommt man eine Aufstellung der Verschiebungen, sogar recht detailliert. 

Alles lässt sich übrigens nicht verschieben. Wer sich wundert, dass in den Warenhäusern und Supermärkten alles voller Minions ist: Der „Minions“-Nachfolger „Minions – Auf der Suche nach dem Mini-Boss“ sollte ursprünglich jetzt schon im Kino laufen.

Wenn man schon einen Blick auf über den großen Teich wirft: Wie geht es den amerikanischen Filmemachern während der Pandemie? Das „Filmmaker Magazine“ hat (auf Englisch) Kolleg*innen aus den Gewerken über die Monate April bis Juni befragt und bringt jetzt unter dem Titel „The Pandemic Diaries: Filmmakers on Art, Life, Filmmaking and Politics in the Age of Coronavirus“ nach und nach die Antworten.

Auch diese Woche gilt: Nicht alle Filme wurden gezeigt. Darunter fällt „Unhinged – Außer Kontrolle“. Der Actioner mit Russell Crowe in der Hauptrolle (Regie führte Derrick Borte) wird als erster Hollywood-Filmstart vermarkt, wobei man wohl einen Film meint, der nicht schon eine Weile in der deutschen Warteschleife hängt.

Wie zum Beispiel „Waves“ von Trey Edward Shults. Ursprünglich sollte das US-Drama über eine afroamerikanische Familie am 19. März 2020 ins Kino kommen. In den USA war der Starttermin im November 2019 und als der 19. März 2020 kein Start mehr erlaubte, sah es zuerst so aus, als würde Universal auf einen reinen VOD-Start setzen. Sperrig war das Drama um Schuld und Vergebung allemal und doch braucht der Film, der seinen Figuren emotionell sehr nahe kommt, eine Konzentration, die es so eher im Kino gibt. Ganz unterschiedliche Wege gehen die Kinder eines strengen Elternpaares. Der Sohn der Familie zerbricht an dem Druck, dem er von Vaters Seite ausgesetzt wird und löst eine Tragödie aus, an der auch die Schwester lange zu tragen hat.

Den Vorschlag, Filme im Startplan doch wieder nach vorne zu schieben, hat wohl Alamode vorausschauend beherzigt. Ursprünglich sollte „Sibyl – Therapie zwecklos“ am 2. April 2020 erscheien. Zwischenzeitlich wanderete der Starttermin in den Dezember und jetzt wird der Film doch schon im Juli eingesetzt. „Sibyl – Therapie zwecklos“ heißt es in Justine Triets („Victoria“) in Cannes erstmals aufgeführtem Drama um eine Frau, die Therapeutin Sibyl (Virginie Efira), die die Verantwortung für ihre Patienten abstreifen will, um sich selbst zu verwirklichen. Sprich, sie will einen Roman schreiben. Doch dann hat sie die Schauspielerin Margot (Adèle Exarchopoulos) an der Strippe, die dringend eine Entscheidung fällen muss und nicht kann. Sibyl soll helfen und sie tut das nur, weil sie diese Beziehung für ihren Roman verwenden will. Triets Drama wird durchaus humoristisch, als Sibyl Margot bei einem Dreh on location zur Seite stehen soll und dabei deren Regisseurin Mika (fantastisch: Sandra Hüller) zu Wutausbrüchen bringt.

Drop-Out Cinema hatte ursprünglich für den 14. Mai 2020 die Veröffentlichung von „After Midnight“ geplant, und zu dem Termin machte man den Film auf den On-Demand-Portalen zugänglich. Jetzt jedoch löst man das Versprechen, auch ins Kino zu investieren, ein, und bringt den Titel auf die Leinwände: Das Herz kann Freude und Schmerz bringen. Hank (Jeremy Gardner) wird auf sich selbst zurückgeworfen, muss mit sich alleine klar kommen. Abby (Brea Grant) hat nur eine kurze Nachricht zurückgelassen und ist dann verschwunden. Einfach so. Eben noch haben wir die beiden in trauter Zweisamkeit geschwelgt. „After Midnight“ zeigt die Momente der Liebe immer wieder in den Rückblenden. Jetzt bedroht etwas das Heim von Hank, scheinbar ist er der einzige, der an die Existenz von etwas Monströsen glaubt.

Ein zweiter Film von Drop-Out Cinema in einer Woche: Einer der schönsten Filme der letzten Zeit kommt aus Australien und kommt nur Dank des ambitionierten Drop-Out Cinema-Verleihs in die Kinos: „The Nightingale“, der bei Koch Films auch auf DVD erhältlich ist und dort den ziemlich überflüssigen Zusatztitel „Schrei nach Rache“ erhalten hat. Es ist kein Horrorfilm, das vorneweg. Eher ein psychologisches Drama, ein Historienfilm, ein grausamer Western. Die australische Regisseurin Jennifer Kent wurde mit „The Babadook“ 2014 bekannt. Es dauerte lange, bis sie ihren zweiten Film 2018 in Venedig vorstellen konnte. Auf dem Camerimage Festival lief der Film letztes Jahr in der Sektion „Directors‘ Debut Competition“, wo sowohl Erstlingswerke als auch zweite Regiearbeiten gezeigt werden. „The Nightingale“ ist Clare (Aisling Franciosi), eine junge Strafgefangene aus Irland, die in den 1820ern in Tasmanien mit ihrer Gesangsstimme sich aus der Masse der britischen Zwangsarbeiter*innen hervorheben kann. Ein Leutnant Hawkins (Sam Claflin) ist an ihr interessiert und er nimmt sich, was ihm gefällt. Sehr lange hat Jennifer Kent über die Kolonialisierung Tasmaniens recherchiert, über die Behandlung von Aborigines und Frauen, über die Gewalt, die ausgeübt wurde und welche Spuren sie hinterlassen. „The Nightingale“ hat eine Freigabe von „FSK 18“ nicht von ungefähr. Kent zeigt die Gewalt, zeigt die Strukturen, die Gewalt ermöglichen. Ja, Clare ist auf Rache aus. Weil einer, einer von vielen, nicht mit dem, was er tut, davon kommen sollt. Kent zeigt die verschiedenen Schattierungen von Gewalt, die je nach Blickwinkel wirken und prägen. So steht nicht nur Clare im Mittelpunkt, sondern auch der Fährtenleser Billy (Baykali Ganambarr), der in Tasmanien zu Hause ist und doch keine Heimat mehr hat, dem man die Kultur und die Herkunft genommen hat. Der Hass auf die Briten eint Clare und Billy, mehr aber auch nicht. Kent beschäftigte Aborigines aus Australien, und gab ihnen die Sprache Palawa Kani, das ist die kontruierte Sprache der tasmanischen Aborigines, die so zum ersten Mal in einem Film gesprochen wird. „The Nightingale“ gewann voriges Jahr sechs der Australischen Filmpreise, zum Beispiel als bester Film, beste Regie und Drehbuch und, auch das ist entscheidend, in der Kategorie bestes Casting: Der Preis ging an Nikki Barrett.

Der Film der Woche ist sicherlich „Berlin Alexanderplatz“. Burhan Qurbani („Wir sind jung. Wir sind stark.“, 2015) verfilmt Alfred Döblins gleichnamigen Roman. Das Drehbuch schrieb er wieder zusammen mit Martin Behnke, der zwischenzeitlich zum Beispiel an der Serie „Die Stadt und die Macht“ (2016) und ein paar Folgen der Serie „Dark“ mitverfasste. Auch Kameramann Yoshi Heimrath gehört zu Qurbanis festen Mitarbeiterstamm. Bildgewaltig ist „Berlin Alexanderplatz“ wahrlich und das bei einer Lauflänge von über drei Stunden. Bei den „Deutschen Filmpreisen“ gewann die Döblin-Verfilmung, die dieses Jahr auf der Berlinale im Wettbewerb ihre Premiere feierte, Silber. Weitere Preise gab es für die Kamera, die Ausstattung (Silke Buhr), Filmmusik (Yoshi Heimrath) und für Albrecht Schuch, der die Hauptrolle unter den Nebenrollen spielte, den Reinhold, der Franz für seine Drogengeschäfte in der Hasenheide einspannt. Seine Rolle ist zwar die des Schurken, aber auch die, die für das Publikum die meisten Nuancen bietet und wenn man sich auch nicht mit ihm identifizieren mag, so versteht man sie zumindest. Franz bzw. Francis, gespielt von Welket Bungué, ist ein Immigrant aus Guinea-Bissau. Er, aber nicht seine Liebe Ida, überleben die Flucht über das Mittelmeer. Fortan will Francis ein guter Mensch sein. Allein, es sei ihm nicht gegönnt. Qurbani setzte die Geschichte des Franz Bieberkopf in unsere Zeit um, hier und jetzt in Berlin. Das Milieu ist das der Flüchtlinge, der Drogendealer, der Prostituierten. Nicht nur Franz, auch den anderen Flüchtlingen bleibt wohl keine andere Wahl als kriminell zu sein. Auf der Berlinale gab es viel Lob, aber einige waren auch ratlos. Man merkt schon, auch ich konnte mit dem Werk nicht wirklich warm werden. Aber sehenswert ist er auf alle Fälle, denn das hier ist, obwohl Arte mitproduziert hat, alles andere als ein Film, den man später auf dem Fernseher sehen möchte. „Berlin Alexanderplatz“ ist Leinwandkino, fordernd und herausfordernd.

„Marie Curie – Elemente des Lebens“ ist die Adaption einer Graphic Novel von Lauren Redniss. Regie führte Marjane Satrapi, die mit „Persepolis“ (2007) bekannt wurde. Satrapi, beziehungsweise das Drehbuch von Jack Thorne (zuletzt „The Aeronauts“), zeichnet jedoch nicht nur die Lebensgeschichte der Marie Curie nach, die ähnlich wie die Verfilmung von Marie Noëlle im Jahr 2016 stark auf die Liebesgeschichte zwischen Marie und Pierre Curie setzt (hier gespielt von Rosamund Pike und Sam Riley), aber eben nicht nur und vor allem anders. Im Original heißt der Film „Radioactive“ und das trifft den Kern doch viel eher. Immer wieder greift die Dramaturgie voraus und zeigt in Parallelmontagen, wie die Radioaktivität, die das Forscherehepaar untersucht und benannt hatte, den Verlauf der Wissenschaft prägte und was der Einsatz in der Menschheitsgeschichte bewirkte, sowohl im Positiven, zum Beispiel in der Krebsforschung, als auch im Negativen, da wäre die Atombombe zu nennen. Zu Lebzeiten versuchte Marie Curie Leid, dass durch Forschung bewirkt wurde, auch zu lindern, doch der Mensch an sich verursachte sowohl Hiroshima als auch Tschernobyl.

Jeder, fast jeder, hat oder kennt zumindest eine Kneipe, die einem wie das eigene Wohnzimmer aufnimmt. Christian Klandt („Little Thirteen“) setzte auf Crowdfounding und nennt es „ein Film mit Freunden“. Er inszenierte seinen Film mit einer wunderbaren Luise Heyer als Lene, das Herzstück der Kneipe, hier ein Jazz-Blues-Schuppen irgendwo in Deutschland, vielleicht in Köln, vielleicht in Berlin oder Frankfurt, das ist hier alles als eine Stadt montiert. „Leif in Concert“ ist eine Liebeserklärung an einen Ort und ein Stück Kultur, Kneipenkultur. Das alles ohne Förderung, Senderbeteiligung und Verleihgarantie. 17 intensive Drehtage. Es ist ein Ensemblefilm geworden. Ich will sie gar nicht alle aufzählen, die hier auftreten. Nur ein paar Namen: Katharina Matz spielt eine Großmutter, Florian Bartholomäi ist ihr Enkel, Godehard Giese ist ein Weinvertreter und Bela B erfindet ein unsichtbares Smartphone. Ja und da ist noch Tilo Prückner in einer seiner letzten Kinorollen. David Wnendt, Tom Lass, Maryam Zaree und so weiter. Das alles spielt an einem Ort an einem Tag, in einer Nacht und mündet in besagtes Konzert von Leif aus Dänemark, den Lene aufgetan hat, für dieses Konzert hat sie alles aufs Spiel gesetzt. Die Vorgeschichte, die folgt in einem anderem Film, der dann kein „Vol. 2″ mehr im Namen trägt. Auf dem Filmfest München wurde „Leif in Concert – Vol. 2″ vorgestellt. Achtung Berlin, das man eröffnet hätte, fand dann schon nicht mehr statt. Statt dem Filmstart im April, nutzte Produzent Martin Lischke, der in München den „Förderpreis Neues Deutsches Kino“ gewann, und veröffentlichte den Soundtrack zum Film vorab. Jetzt, wenn der Film endlich, endlich ins Kino darf, solidarisieren sich das Filmteam mit den Kneipen, die fast so lange geschlossen bleiben mussten, wie die Kinos. missingFilms, der Verleih, gibt von jeder verkauften Kinokarte einen Euro an „Kneipenretter“ und „Kiezretter“ ab, die ihrerseits Geld an die Sehnsuchtsorte in ihrem Verbund verteilen.

„Wir Eltern“: Vater, Mutter, 3 Söhne. Zwei davon sind Zwillinge und bereits 19. Das Abitur steht an und eine Lebensplanung. Aber die beiden Jungs, Anton und Romeo, haben nur einen Plan. Solange zu Hause wohnen wie möglich, und abhängen. Denn zu Hause haben sie alles. Warum das aufgeben? Allerdings sind die beiden Jungs noch längst nicht so weit, dass sie ihren Eltern ebenso Freiräume und Respekt zugestehen würden. Im Abnabelungsprozess ist das auch gar nicht wirklich vorgesehen. Nur hier findet gar keine Abnabelung statt. Es ist kompliziert. Das Paar Eric Bergkraut und Ruth Schweikert hat einen Familienfilm mit der Familie gedreht und nennt das „Auto- und Dokufiktion“. Nur Ruth Schweikert blieb hinter der Kamera, Vater und Söhne spielen vor der Kamera. Die Figuren sind trotzdem erfunden. Wie weit die Handlung also eigenen Erfahrungswerten entspricht, spielt gar keine Rolle. Es geht um das Problem der Nesthocker und der Verzweifelung der Eltern, die schließlich andere Konsequenzen auftun. „Wir Eltern“ ist eine Komödie, bei der einem mehrmals das Lachen vergeht und die nachdenklich macht. Vorausschauend hat man Experten vom Fach dazu gebeten, die einfach aus der Kulisse heraus die Situationen und Problematiken ansprechen und einordnen.

Patricio Guzmán floh 1973 aus seiner chilenischen Heimat und lebt heute in Frankreich. Die Diktatur von Augusto Pinochet ist seit jeher Gegenstand seines Filmschaffens. Mit „Die Kordillere der Träume“ beendet er seine zweite Trilogie, die sich dem Land und der Zeitgeschichte geografisch widmet. Nach „Nostalgie des Lichts“ über die Atacamawüste (2010) und „Der Permuttknopf“ über Patagonien (2015) widmet Guzmán den dritten Teil der Gebirgskette der Anden, die man überwinden muss, um in das Land zu gelangen. Viele Bürger von Santiago kennen die Kordilleren nur aus einer U-Bahnstation, beginnt Guzmán seine Erzählung und deutet damit schon auf die Verdrängung von Erinnerung hin. Guzmán gelingt es, zusammen mit dem Kameramann Samuel Lahu, die Bergmassive und dem Stein bis in die Adern und Furchen nahe zu kommen und ihnen eine Entsprechung zu geben, die das Große ins Detail übersetzt und umgekehrt. Guzmán setzt immer wieder bei seiner eigenen Vita an, um dann auch durch die Erzählung anderer Künstler, auf die Erfahrungen und den kreativen Prozess in der Behandlung der Vergangenheit einzugehen, um auch das Bewußtsein für die Vergangenheit im Fokus zu behalten. Denn die Unterdrückung der Diktatur ist längst nicht mehr so präsent, wie sie es sein sollte. Der Filmemacher Pablo Salas filmt seit Jahrzehnten mit seiner Kamera, die über diese Zeit immer mehr und anders aufnehmen konnte, und hat ein Archiv aufgebaut, das zum Gedächtnis des Landes taugt und mit seiner Arbeit schlägt Guzmán selbstverständlich den Bogen zur Gegenwart, denn die Unterdrückung erfolgt heutzutage durch den Neoliberalismus und so wird die größer werdende Armut der Gegenwart nicht ausgeblendet. „Die Kordillere der Träume“ wurde auf zahlreichen Festivals vorgestellt. In Cannes gewann Guzmán den L’Œil d’or, den Preis für den besten Dokumentarfilm.

„Wim Wenders, Desperado“: Werner Herzog stellt in der ersten Szene klar, es sei kein Geheimnis, dass Wenders zu den ganz großen Regisseuren unserer Zeit gehöre. Filmstudenten sage er stets, sie sollten Wims Filme schauen. Wenders macht seit einem halben Jahrhundert Filme. Ein schlechter Film sei nicht dabei, sagt auch Herzog. Wenders berichtet allerdings von dem Scheitern an „Hammett“, der aber zu dem Gelingen an „Paris, Texas“ beitrug. Francis Ford Coppola erzählt die Verzettelung damals aus seiner Sicht. In dem Zweistünder von Eric Friedler („It Must Schwing! The Blue Note Story“) steckt eine Menge drin. Andreas Frege, den viele nur als Campino kennen, der bei Wenders in „Palermo Shooting“ mitspielte, wirkte als Co-Regisseur mit. Wenders, der allerdings klar stellt, er würde sich selbst nicht auf Leinwand anschauen und auch diesen Film nicht ansehen, stellt Filmszenen nach. Wandert durch die Wüste oder durch die Stabi in Berlin. Nicht nur Schauspieler und Schauspielerinnen (Willem Dafoe, Andie Macdowell) kommen zu Wort, sondern ganz viel Gewerke: Kamerafrau Agnès Godard, der Tontechniker Jean-Paul Mugel oder die Kostümbilderin Judy Shrewsbury. Ein Highlight ist die Begegnung mit Werner Herzog, die schönsten Sätze werde ich hier sicherlich nicht verraten. Wer den Film im Kino verpasst, die Co-Produktion mit dem Norddeutschen Rundfunk wird zu Wim Wenders’ 75. im August auch (allerdings mitten in der Nacht) ausgestrahlt.

Zum Abrunden noch ein Hinweis auf das Arsenal Kino in Berlin. Zusammen mit dem Haus der Kulturen der Welt öffnet man heute „Arsenal 5″, die „letzte Etappe einer Serie von Kinoraumexperimenten während der Pandemie“. Für sechs Wochen will man in einzelnen Themenblöcken auf die Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt. Das Ganze ist also eine Kooperation mit dem Festival „20 Sunsets“. Man wird Filme unter anderem von James Benning, Filipa César, Denis Coté, Thomas Heise, Armin Linke, Maha Maamoun, Hila Peleg, Philip Scheffner, Kidlat Tahimik, Akram Zaatari und anderen zeigen. Ein Konzept für Regentage gibt es allerdings nicht.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Noch nicht registriert? Als eingeloggter User wird Ihr Name automatisch übernommen.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte lösen Sie diese Aufgabe, bevor Sie den Kommentar abschicken.
Dies dient dem Schutz vor Spam.

Was ist 4 multipliziert mit 5?