Kino in Zeiten von Corona 16

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Harriet Tubman hatte Hunderte von Sklaven zur Freiheit verholfen. Eigentlich sollte sie deshalb dieses Jahr auf einen Dollarschein kommen. Doch unter dem gegenwärtigen US-Präsidenten gehe das nicht, meint sein Finanzminister. So kommt „Harriet“ erstmal ins Kino. | Foto © Universal

Alles Kino und noch mehr in dieser Woche vom 9. Juli 2020.

Alles normal, oder? Das Kinopublikum kehrt zurück. S&L Research, das zu dem Unternehmen S&L Medienproduktion gehört und über Moviepanel Kinomarktforschung betreibt, legt die Ergebnisse eines dritten Umfragepakets vor. Dabei wurden die Antworten zwischen dem 25. Juni und dem 30. Juni unter 939 deutschen Kinogängern ab 16 Jahren ausgewertet. Demnach wollen 58 Prozent der Befragten erst einmal abwarten, „wie sich die Situation in den Kinos entwickelt“. 49 Prozent haben dabei überhaupt auf dem Schirm, dass die Kinos wieder öffnen dürfen. 53 Prozent wissen, „ob speziell ihr Lieblingskino bereits wieder geöffnet hat“. Jetzt wo die Kinos wieder geöffnet haben, sagen 87 Prozent der aktuellen KinobesucherInnen an, „während des Kinobesuchs ein gutes Gefühl gehabt zu haben.“ 81 Prozent haben sich im Vorfeld über „das Thema Hygiene im Kino informiert“. „7 Prozent empfinden die aktuellen Restriktionen als negativen Einfluss auf das Kinoerlebnis“. Programmkino.de gibt die Pressemitteilung im Granzen weiter. Die Ergebnisse der ersten und der zweiten Umfrage verlinken wir direkt.

Manche Kinos lassen sich aber auch was einfallen. Zum Beispiel das neu eröffnete „Klick“ in Berlin-Charlottenburg. Das Wochenende der offenen Tür war wohl ein voller Erfolg. Eine Kollegin, die es geschafft hatte, reinzukommen, erzählte, dass die Plätze, die aus Gründen freigehalten werden sollten, mit den Kuscheltier-Kreationen einer lokalen Künstlerin besetzt worden waren. Auf einem Instagram-Post des Kinos kann man das auch sehen.

Das Berliner „Kinokompendium“ setzt seine Reihe zur aktuellen Lage mit einer Reportage aus dem Kino „International“ fort. Sie haben einen Fototermin bekommen und dürfen so Bilder von hinter den Kulissen des Hauses zeigen, dazu gehört nicht nur der Projektorraum, sondern eine Übersetzungskabine und ein kleiner Sonderraum, der bei normalen Kinovorführungen nicht zugänglich ist, und sich „Honeckers Lounge“ nennt.  

Nicht Kino, aber Theater: in Großbritannien hat eine Gruppe von Designern, die normalerweise am Theater arbeiten, die Initiative ergriffen um die unbespielten Häuser etwas aufzupeppen und so begannen sie die Fassaden mit rosa Absperrband unter dem Motto „Missing Live Theatre“ zu dekorieren. Hübsch, der „Guardian“ berichtete [auf Englisch].

Vorige Woche war die erste so richtige Filmstartwoche. Folglich gibt es auch Zahlen der der AG Kino-Gilde angeschlossenen Kinos, und „Programmkino“ publiziert die „Filmhits vom Wochenende“: Wenig überraschend ist „Undine“ von Christian Petzold auf Platz 1 der Neuerscheinungen, sowohl in der Rangliste nach Gesamtbesucherzahlen als auch beim Kopienschnitt.

Mal sehen, wie sich das Fantasy Filmfest machen wird. Zwei Tage lang, am 11. und 12. Juli, zeigt das Festival in ihrem Sommerfestival „Fantasy Filmfest Nights“ in sieben Städten zehn Genre-Filme. Darunter befinden sich Filme wie „The Vigil“ (Keith Thomas) aus dem Programm von Wild Bunch Germany, „Yummy“ (Lars Damoiseaux) von Busch Media oder „32 Malasana Street“ (Albert Pintó) von Studiocanal.

Kommen wir zum Filmangebot der Woche. Elf Filme stehen im Programm, nicht alle Titel wurden mit einer Pressevorführung oder einer alternativen Sichtungsmöglichkeit bedacht.

Aus den USA, sozusagen Hollywood, kommt „Harriet – Der Weg in die Freiheit“ der Regisseurin Kasi Lemmons von Universal, im Original schlicht „Harriet“. Hier schlug wieder einmal die Unsitte zu, Frauen in Filmbiografien nur mit einem Vornamen zu bedenken. Ursprünglich sollte die Biografie über Harriet Tubman am 9. April in die deutschen Kinos kommen. In den Staaten kam der Film, nach dem Einsatz auf dem Festival in Toronto bereits im November 2019 in die Kinos. Harriet Tubman, gespielt von der großartigen Cynthia Erivo (die prompt für einen „Oscar“ nominiert wurde und übrigens auch den ebenfalls nominierten Song „Stand Up“ mitgeschrieben und gesungen hat), wurde als Fluchthelferin der Organisation Underground Railroad bekannt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert verhalf sie zahlreichen Sklaven zur Flucht, nachdem ihr zuerst selbst die Flucht gelungen war. Eigentlich sollte sie dieses Jahr mit ihrem Porträt auf einem 20-US-Dollar-Schein geehrt werden, das hatte noch die Obama-Regierung angesetzt. Aktuell ist das nicht umzusetzen, das Finanzministerium mit Steven Mnuchin im Amt (der übrigens vor seiner Ernennung durch Donald Trump als Produzent von „Sully“ oder „Wonder Woman“ fungierte) verschob die Ehrung jetzt im Mai auf eine Post-Trump-Zeit.

Genre-Kino kommt diese Woche von Capelight Pictures in Form eines Märchens. „Gretel und Hänsel“ wird auf der IMDb zwischen Horror und Fantasy eingeordnet. Das trifft es nur im Ansatz. Oz Perkins (Sohn von Anthony Perkins) inszenierte zuletzt für Netflix „I Am the Pretty Thing that Lives in the House“. Er macht aus der Brüder-Grimm-Vorlage einen Coming-of-Age-Film und stellt dabei die Rolle der Gretel (Sophia Lillis) in den Mittelpunkt, wobei die Rolle der Hexe fast gleichgewichtig angelegt ist. Hänsel ist der jüngere Bruder, um den sich Gretel kümmert. Das Erzähltempo ist getragen, und die Atmosphäre ist Perkins, seinem Drehbuchautor Rob Hayes und seinem Kameramann Galo Olivares (Schwenker unter anderem bei „Roma“ von Cuaron) wichtiger. Horrorfans werden den Gruselfaktor vermissen, während der Ansatz, Gretel mit übernatürlichen Fähigkeiten auszustatten, einen ganz anderen Blickwinkel gestattet.

„Semper Fi“ ist ein Titel aus dem Verleihprogramm von Kinostar. Cal (Jai Courtney) und seine Kumpels sind beste Freunde, rau im Umgang mit sich und anderen. Richtige Kerle also und noch dazu Reservisten. Im zivilen Leben ist Cal Polizist und er glaubt an Recht und Gerechtigkeit. Kompliziert wird es, als sein jüngerer Halbbruder Oyster (Nat Wolff), ein echter Tunichtgut, bei einer Schlägerei jemanden so verletzt, dass dieser stirbt. Statt die Konsequenzen zu tragen, zumal er sich angeblich nur verteidigt hatte, will er nach Kanada rübermachen. Das kann Cal nicht zulassen. Doch ist seine Entscheidung, den Bruder für seine Tat büßen zu lassen die richtige? Regisseur Henry Alex Rubin (Murderball) schrieb das Drehbuch zusammen mit Sean Mullin, Absolvent in West Point. „Semper Fi“ will Familiendrama und Thriller sein, nimmt aber zu viele Abkürzungen, um den Figuren Tiefe zu geben.

Zwei Filme kommen diese Woche aus Frankreich. „Eine größere Welt“ erzählt die wahre Geschichte von Corine Sombrun. In Fabienne Berthauds („Sky“) Verfilmung der Autobiografie lernen wir sie als junge Witwe kennen, die, um aus der Trauer und der damit verbundenen Depression zu finden, ganz weit weg reist. Bis in die Mongolei. Hier soll die Tontechnikerin Material für eine Dokumentation aufnehmen und fällt bei einem schamanistischen Ritual selbst in Trance. Gedreht wurde auch in der Mongolei und Cécile de France trägt die so starke und gleichzeitig unbestimmte Figur hervorragend. Der Konflikt aber, wie die westliche Gesellschaft (repräsentiert von ihrer skeptischen Familie) das ihr Unbekannte für sich vereinnahmt und schließlich seziert, lässt wenig Raum für wahre Spiritualität.

Der zweite französische Film ist ein Publikumsfilm, sicherlich. „Das Beste kommt noch …“ könnte vom unerschütterlichen Optimismus zeugen. Es ist die Lebenseinstellung von César, das Leben auszuschöpfen und alles mitzunehmen. Mit ihm ist es nie langweilig, das sagt Arthur, sein bester Freund, wobei Arthur, oberflächlich betrachtet eher der langweilige Typ ist. Arthur und César kennen sich seit ihrer Schulzeit auf einem Internat, sie kennen sich in- und auswendig. Es ist diese Freundschaft, die bei Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière („Der Vorname“) im Mittelpunkt steht. Die beiden Männer sind so gegensätzlich, dass im Angesicht des Sterbens die Beziehung noch einmal intensiviert und auch auf die Probe gestellt wird. Der Aufhänger ist, dass beide jeweils überzeugt sind, der andere hätte nur noch wenige Monate zu leben. Da will man natürlich Rücksicht nehmen, da will man dem anderen nur Gutes tun. Der Film ist ganz auf seine beiden Hauptdarsteller zugeschnitten. Fabrice Luchini spielt Arthur, den etwas verkniffenen Wissenschaftler und Patrick Bruel ist César, der Womanizer, der darauf drängt, dass Arthur sein Leben umkrempelt und endlich wirklich lebt. Keiner von beiden weiß, was er wirklich zu verlieren hat, das gibt den Dialogen, die wie Ping-Pong-Bälle zwischen den beiden Mimen hin- und herfliegen, Gewicht. Die Chemie zwischen Luchini und Bruel, die bereits 1985 für einen Film gemeinsam vor der Kamera standen, funktioniert bestens. Es geht nicht nur um eine Bucket-List, sondern um den Wert der Freundschaft, und was diese Freundschaft einem mitgibt, über den Abschied hinaus.

Zwei Dokumentationen konnte ich vorab sichten. Fotografen, das sagt der Fotograf Helmut Newton, seien langweilig und Filme über Fotografen seien meist auch langweilig. Mal überlegen. Letztes Jahr, also 2019 kam ein Porträt über Sven Marquardt („Schönheit & Vergänglichkeit“) ins Kino. Auch „Rettet das Feuer“ über Jürgen Baldiga, der erst vor kurzem On-Demand zugänglich wurde, ist alles andere als langweilig. Ein bekannterer Name ist sicherlich Peter Lindenberg („Peter Lindbergh – Women’s Stories“) und nun Helmut Newton. Die Biografien von Fotografen und Fotografinnen (zum Beispiel Katharina Sieverding und Shirin Neshat wurden in „Body of Truth“ dieses Jahr vorgestellt, zugegeben, kein Lebensporträt) sind zum einen spannend, wenn sie durch die Bilder des*r Künstler*in die Sicht auf ein Thema vermitteln oder aber die Vita ist obendrein von Interesse. Helmut Newton wurde 1920 in Berlin geboren. Dieses Jahr wäre er also 100 Jahre alt geworden. Er starb 2004 bei einem Autounfall und liegt nun in Friedenau auf dem Friedhof Stubenrauchstraße, knapp neben Marlene Dietrich (die stets Rosen aufs Grab gelegt bekommt, Newton allerdings nicht) und der Pionier der Fotografierkunst und Fotograf Ottomar Anschütz liegt wenige Reihen weiter vorne (über den Herrn könnte auch mal jemand einen Film drehen, bitte schön). Newton lernte in Berlin noch bei der Fotografin Yva, verließ Berlin 1938 so ziemlich auf den letzten Drücker, landete in Australien und so weiter. Er kehrte nach Berlin zurück. Spazierte mit Gero von Boehm durch die Stadt. Der Dokumentarfilmer von Boehm hat die Aufnahmen hier wiederverwendet, so kann Newton direkt zu uns sprechen und erzählen, wie er einst im Volkspark gefallen und sich verletzt hatte. Eine Anekdote natürlich. Von Boehm hat für seine Dokumentation nicht nur Helmuts Frau June Newton gewinnen können, er hat ausschließlich Frauen versammelt, die über ihre Begegnung, über Fotosessions und die Wirkung der Bilder für ihr Körpergefühl, ihr Selbstverständnis und ihre Karriere berichten. Dazu gehört Isabella Rossellini, Charlotte Rampling, Grace Jones, Claudia Schiffer, Hanna Schygulla, unter anderem. Von Boehm verschweigt nicht, dass andere, er zitiert eine Talkshowaufnahme mit Susan Sontag, seine Bilder für Frauen erniedrigend und sexistisch hielten.

Einen ganz anderen Ansatz findet „Ronnie Wood: Somebody Up There Likes Me“. Nicht erst seit gestern dreht Mike Figgis, der mit „Stormy Monday“ einst berühmt wurde und mit „Leaving Las Vegas“ dem noch einen drauf setzte, auch Dokumentationen. Inzwischen dreht der Mann, stets neugierig, Begegnungen und Bewegungen und Ideen, die ihn interessieren und das muss dann gar nicht an die ganz große Öffentlichkeit. Aber wenn man Ron Wood vor die Kamera holt, dann ist das was anderes. So konnte Figgis den Film letzten Oktober auf dem London Film Festival vorstellen und kurz darauf in Polen auf dem Camerimage Festival, wo er praktisch zu den Stammgästen gehört. Die Tarot-großen Karten, die Figgis Ronnie Wood vorlegt, hatte Figgis auch mal in einem Camerimage-Seminar vorgestellt beziehungsweise vorgeführt. Frei nach Georges Poltis „36 Dramatic Situations“ behandelte Figgis „Thirty-Six Dramatic Situations for Film“ und zeichnete dazu halt ein Set Karten. Die kommen natürlich auch hier zum Einsatz und so zieht Ronnie Wood zum Beispiel die Karte „Fatal Imprudence – The Gambler“. Ja, bestätigt Wood, wenn sich ein Weg auf tut, nimmt er diesen. Er gehe immer jedes Risiko ein. Seine Vita ist hier Zeuge und Wood erzählt nicht nur vom Elternhaus, von der Familie, in der alle Trinker waren, sondern auch von seiner Sucht. Aber irgendwer meint es wohl gut mit ihm, und so hat er Sucht und Krankheit überstanden und ist jetzt nüchtern und produktiv wie eh und je. Figgis führt ihn auch nicht als Musiker der Stones ein, für diese Position musste Wood eh einen längeren Anlauf nehmen, sondern als Bildenden Künstler. Überhaupt, Figgis, in etwa gleich alt und mit ähnlichem Background, unterhält sich mit Wood auf Augenhöhe, das strahlt auf das Porträt aus.

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