Gedanken in der Pandemie 75: Corona als Religion

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Wie Religion der Herrschaft nutzt, hatte Roland Emmerich schon vor einem Vierteljahrhundert in „Stargate“ offenbart. | Foto © Studiocanal

In der Dauerwelle: Widersprüchliche Statistiken und gute Fragen bei Markus Lanz: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 75.

„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ,Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. […] Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ,noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“
Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“

 

Vor 80 Jahren, am 25.09.1940 brachte sich Walter Benjamin auf der Flucht vor der Nazi-Mordmaschine in den Pyrenäen um. Noch zwei Tage lang kann man im „Deutschlandfunk“ die Wiederholung jener „Langen Nacht“ hören und herunterladen, die Martin Opitz vor zehn Jahren über Benjamin produzierte. 

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Winter is coming. Eines muss man Markus Söder ja lassen: Die popkulturellen Referenzen sitzen bei ihm weit besser, als bei den allermeisten anderen Politikerkollegen. Und Söder ist einer der wenigen, der in der Popkultur sich zumindest so weit selber auskennt, dass er dafür sorgen kann, im richtigen Moment ein paar Zeichen zu setzen. So zum Beispiel diese Tasse bei seiner Parteitagsrede.

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Der aktuelle „Economist“ zeichnet ein schlimmes Bild der aktuellen Corona-Situation: „The world looks set to see its millionth officially recorded death from covid-19 before the beginning of October. That is more than the World Health Organisation (WHO) recorded as having died from malaria (620,000), suicide (794,000) or HIV/AIDS (954,000) over the whole of 2017, the most recent year for which figures are available.“ (Die Welt wird voraussichtlich vor Anfang Oktober ihren millionsten offiziell registrierten Tod durch Covid-19 erleben. Dies ist mehr, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das gesamte Jahr 2017 (dem jüngsten Jahr, für das Zahlen vorliegen) an Toten durch Malaria (620.000), Selbstmord (794.000) oder HIV/Aids (954.000) verzeichnet).

Die hier angegebenen Zahlen halten allerdings einer Überprüfung nicht stand und auch keiner Einordnung: Im (statistisch voll erfassten) Jahr 2016 gibt die WHO etwa 18,5 Millionen Tote an, die pro Jahr allein durch Atemwegserkrankungen starben: COPD, Pneumonien, Krebs der Atemorgane, TBC. Warum nennt der „Economist“ stattdessen Suizide als Vergleichsmaßstab? Hoffentlich nicht nur, weil diese Zahl niedriger ist, als die Corona-Zahl, die darum größer wirkt. Wenn schon, denn schon könnte man aber auch einfach mal Verkehrsunfälle zählen: 1,4 Millionen im Jahr. Oder Durchfall: Ebenfalls etwa 1,4 Millionen. Oder Diabetes: 1,6 Millionen. 

Bewußt ist hier erst jetzt eine der größten Todesursachen genannt: 10,3 Millionen starben im Jahr 2016 weltweit an Herzerkrankungen. Heute würden nicht wenige von ihnen als „Tote durch Corona“ zählen, wie Obduktionen belegen. 

Jedes Jahr sterben auf der Erde 50 bis 60 Millionen Menschen. Das natürliche Ende des Lebens, das Alter, scheint als Todesursache von der WHO allerdings nicht vorgesehen. Es muss etwas sein, das man potenziell behandeln, bekämpfen, verhindern könnte. Der „Economist“ wiederum bringt drei Zahlen unter einer Million, mit der Wirkung, Covid-19 groß aussehen zu lassen. Oder weshalb wird zwar Malaria erwähnt, aber nicht der Alkohol? Die WHO schätzt die Anzahl der Toten durch Trinken von Alkohol auf drei Millionen, wie immer die WHO das ausrechnen will. Nach der bei Corona praktizierten Zahlen-Logik sollten die Gesundheitsbehörden der Welt das Trinken von Alkohol sofort verbieten. 

So aber hat der „Economist“-Artikel vor allem die Funktion einer Glaubensbestärkung.

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Es sterben gerade zu wenige in Deutschland. Statistisch gesehen. Die Untersterblichkeit in der Bundesrepublik beläuft sich auf über 5.000. Die Zahl nannte der Virologe Hendrik Streeck jetzt im ZDF bei Markus Lanz, zusammen mit weiteren interessanten Zahlen, die der allgemeinen Corona-Wahrnehmung zuwiderlaufen: Jeden Tag sterben in Deutschland insgesamt etwa 2.500 Menschen. An (und mit) Corona sind  bislang hierzulande seit Februar etwa 9.500 Menschen gestorben. Bei der Hitzewelle 2017 und der Grippewelle 2018 habe es weit mehr Tote gegeben. 

Der Winter kommt, und Markus Lanz kommt langsam wieder in Form. Als ob der Anstieg der Pandemie-Panik ihn motivieren würde. 

In seiner Sendung vom 1. Oktober schien Lanz scharf und hartnäckig wie lange nicht. Gemeinsam mit Streeck nahm der ZDF-Moderator einige zu einfache Annahmen und einen Teil der offiziellen Rhetorik auseinander. „Ganze Branchen gehen den Bach runter“, so Lanz. „Wir klauen Menschen ihre Jugend“. Aber SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig gab sich keine Blößen. 

Als Lanz die Demonstranten gegen die Freiheitseinschränkungen durch Corona verteidigte, hier könne man nicht allzu schlicht von „Covidioten“ sprechen, stritt er sich mit Harald Welzer (Sozialpsychologe und Publizist, Red.), der etwas elitär darauf beharrte: „Die sagen nicht die Wahrheit.“ 

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Mehr als deutlich wurde Henrik Streeck: „Gutes Krisenmanagement ist nicht, erstmal alles zu verbieten. Es ist nicht das Notwendige durch Insolvenzverschleppung und Kurzarbeit aufzuschieben.“

Streeck wandte sich gegen den übergriffigen Staat und dessen paternalistisch-administratives Handeln. Das Maskentragen sei außerhalb geschlossener Räume „virologisch überhaupt nicht gerechtfertigt.“ Die berüchtigten Demonstrationen vom Juli/August hätten daher auch keinerlei epidemische Wirkung entfaltet – es hat sich niemand relevant angesteckt. 

Ein leichter Anstieg der Fallzahlen liege „in der Natur der Sache“, die Corona-Lage in der „Dauerwelle“ sei aber „relativ entspannt“. In sachlichem Tonfall stellte Streeck fest, wir projizierten „sehr viel auf die Frage der Sterblichkeit“, und fügte an: „Ich frage mich nur immer, was unser Ziel ist. Wo wollen wir eigentlich hin?“ Ein Impfstoff sei unwahrscheinlich, das „Virus ist da, und wird für immer bei uns sein.“ 

Diese Fragen wurden erwartungsgemäß nicht beantwortet. Aber Streeck, der offenbar kampflustig aufgelegt war, widmete sich der beliebten, zuletzt von der Kanzlerin wiederholten Behauptung, es drohe ein „exponenzielles Wachstum“. Das sei für sehr viele Bereiche ein Denkfehler, so Streeck, weil eine solche Wachstumskurve „irgendwann“ abflache. 

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Irgendwann überraschte SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig auch Skeptiker mit der Feststellung, seit März habe es in ihrem  Bundesland keinen einzigen Verstorbenen gegeben. Was rechtfertigt da die Einschränkungsmaßnahmen, was rechtfertigt deren soziale und ökonomische Kosten? 

„Ich würde alles wieder so machen“, ist Schwesigs Position. Ziel ihrer Corona-Politik sei umfassende Gesundheit: Dass die Menschen möglichst gesund seien, die Wirtschaft gesund und das soziale Zusammenleben gesund. 

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Der Herbst ist da, die zweite Welle noch nicht, und solange das so bleibt, kommen allmählich wieder einige Kulturveranstaltungen ins Rollen. Während die Buchmesse in Frankfurt die „physische“ Veranstaltung, also mit Menschen vor Ort, scheut, haben es im Filmbereich gerade einige Festivals vorgemacht: Zuerst Venedig, dann San Sebastián, jetzt gerade das Hamburger Filmfest, als erstes deutsches Festival. Die Gesundheitslage ist hier das geringste Problem. Aber die Auflagen der Behörden, die die Reduktion der Teilnehmerzahlen erzwingen. Das trifft gerade den Markt und das Branchenprogramm dieser Festivals. So ist das Urteil derjenigen, die vor Ort mitmachten, durchwachsen: Ohne das direkte Gespräch, ohne die Vielzahl der Kontaktmöglichkeiten auch abseits der offiziellen Veranstaltung, in Bars, Cafés, bei Filmvorstellungen wird es auf die Dauer nicht gehen. 

Ein Jahr lang kann die Filmbranche (wie überhaupt die ganze Kulturszene) diesen Zustand durchhalten. Sollte auch das kommende Jahr 2021 komplett unter Pandemie-Bedingungen stattfinden müssen (wofür leider manches spricht), wird es bereits viel schwieriger werden. Zur Zeit hoffen alle (kontrafaktisch, wie mir scheint) darauf, dass im kommenden Jahr spätestens ab dem Sommer die Dinge wieder halbwegs normal werden.

Noch immer gehen die Allermeisten davon aus, dass Corona einen klar begrenzten Ausnahmezustand markiert, und nicht einen Kultur- und Ökonomiebruch. Noch immer glauben wir allermeisten, dass wir irgendwann im nächsten Jahr wieder zu einem Zustand zurückkehren, der so sein wird, wie er bis zum Februar dieses Jahres gewesen ist. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich fürchte, dass wir, jedenfalls wir Erwachsenen, für den Rest unseres Lebens die Gegenwart in eine Zeit „vor Corona“ und „nach Corona“ einteilen werden.

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Ich sage das als jemand, der sich selbst eher als Skeptiker versteht. Damit meine ich, dass ich die Krankheit Corona zwar in keiner Weise leugne. Dass ich die Reaktion darauf aber für heillos übertrieben halte. Und die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Folgen dieser Reaktion für schlimmer, als die Krankheit, die hier bekämpft werden soll.

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Ich denke, dass diese Reaktion vor allem unsere Unfähigkeit verrät, mit Gefahr und Risiko, auch gerade mit Todesgefahr und Gesundheitsrisiko angemessen umzugehen. Dass sie unsere Fähigkeit zur Realitätsverleugnung verrät. Unsere Fähigkeit dazu, uns die Dinge schönzureden. 

Ich vermute, das Corona zugleich die allermeisten unserer Diskurse obsolet macht. Mindestens die Art, wie wir über Dinge reden, teilweise die Themen selbst. Ich vermute tatsächlich, dass Corona die Fragen des Umweltschutzes, der Klimapolitik, der Gleichstellung der Geschlechter, der Diversität – die ganzen Themen, mit denen wir uns durchaus mit guten Gründen, aber eben auch aus einer Luxusposition heraus, die Zeit vertrieben haben, dass Corona einen Großteil dieser Themen marginalisiert.

Wir möchten weiter davon träumen, dass wir unsere Gesellschaft so erhalten können, wie sie vor Corona war. Selbst mit ihren Schattenseiten. Wir möchten nicht anerkennen, dass wir mit dem Tod vieler Menschen schlicht und einfach umgehen müssen. Dass unter diesen Toten auch Menschen sind, die wir kennen, wir lieben, vielleicht wir selber. Sie mögen bei uns vergleichsweise wenig sterben, dafür anderswo umso mehr. Dies betrifft trotzdem auch uns. 

Wir möchten uns stattdessen vormachen, dass es möglich sein könnte, mit möglichst strengen Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen und medizinischen Maßnahmen und einem sehr harten, sehr unfreien Gesundheits-Regime die Krankheit zu vertilgen. Die Bedrohung zu vernichten. Wir möchten uns einreden, dass es möglich wäre, wenn man sich ein paar Monate zusammenreißt und dann paar Monate lang das gesellschaftliche Leben aussetzt, das Übel loszuwerden. Und dann könnte es ein für allemal weg sein.

Wir gefallen uns dann darin, alle möglichen Teile der Gesellschaft (unserer eigenen, erst recht der der anderen) zu kritisieren, ihnen teilweise mit harten Polizei- und Bürokratiemaßnahmen zu drohen, bis hin zur Verhaftung, bis hin zu horrenden Geldstrafen, die jedes Maß sprengen. Wie nennen sie „Corona-Leugner“, und begreifen doch nicht, dass wir selbst hier die Corona-Gläubigen sind. 

Wir glauben an Corona wie an einen Gott: an etwas, das von Außen kommt und das uns Gebote auferlegt, die wir treu zu befolgen haben, und dass wir dann dafür, dass wir sie treu befolgen, belohnt werden. Diejenigen, die die Gebote nicht befolgen, behandeln wir, wie eine religiöse Sekte die Häretiker behandelt. Wir grenzen sie aus; wir nennen sie Sünder („Corona-Sünder“).

Wir legen ihnen Strafen auf und wir kritisieren besonders wütend diejenigen, die einer anderen Sekte angehören. Das heißt die, denen Gott sich ebenfalls offenbart hat, die aber auf die gleichen Gebote des Gottes mit anderen Maßnahmen reagieren. Wir haben den unbedingten Wunsch, nachzuweisen, dass wir richtig liegen und warum die anderen falsch liegen. Wir freuen uns bis zu einem bestimmten Grad, dass unsere Freiheit eingeschränkt ist, dass wir endlich wissen, was zu tun ist, denn der Herr hat uns eine Botschaft gesandt.

Was mindestens dabei übersehen wird, ist, dass der Gott des Alten Testaments wie der des Neuen Testaments ein strenger, strafender und ein rächender Gott gewesen ist. Mitunter sogar ein rachsüchtiger. Wir übersehen, dass dieser Gott nicht lieb und nachsichtig zu den Menschen ist. Dass er von Abraham verlangt hat, seinen Sohn Isaak zu opfern, dass er seinen eigenen Sohn gab und es zugelassen hat, dass dieser Sohn zu Tode gefoltert wurde und einen grausamen Tod gestorben ist – erst dann durfte er wiederauferstehen, und erst dann durfte er zum Leitstern einer neuen Religion werden. 

Schon diese Liebe zum Leid, zur Folter und zum Tod sollte uns skeptisch machen gegenüber den religiösen Ansätzen unserer eigenen Umgangsweisen mit Corona.

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