Gedanken in der Pandemie 66: Was wäre jetzt gerade schön? Und warum geht das jetzt nicht?

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Höchst bedauerlich, dass deutsche Filme nicht mal zehn Prozent des intellektuellen Niveaus haben, das man in zeitgenössischer Architektur findet, findet unser Kolumnist. | Screenshot

Wir sollten lernen, mit Corona zu leben: Zukunft für alle, Discount Visions, The Power of Later: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 66.

„Alles Denken, welches nicht zur Utopie führt, ist nur ein Suchen nach anderen Organisationsformen innerhalb derselben symbolischen Ordnung, in der die Misere erst entstanden ist.“
Peter Grundmann, Architekt 

„Dass wir letzten Spätsommer nicht auf die Idee gekommen sind, eine ansteckende Krankheit zu erfinden, die das Wirtschaftsleben weltweit zumindest lahmlegen könnte, werfe ich uns irgendwie schon vor. Es wäre das viel, viel einfachere Szenario gewesen.“
Toni Fluid, Utopie-Designerin, Agentur „Infinite Data Studios“ 

 

Corona wird uns nicht verlassen. Sie wird Teil unseres Lebens werden, und wir werden uns an Corona gewöhnen. Wir werden bald nicht mehr alle überall und jederzeit diese Masken tragen, obwohl viel mehr von uns Masken tragen werden, als in der Zeit vor dem Februar dieses Jahres, öfters und an mehr Orten.

Es wäre schön, wenn wir einen Impfstoff hätten, aber es ist eher falsch, mit einem zu rechnen. Hoffen darf man natürlich (vgl. Pandora), aber die Enttäuschung ist programmiert. Wir sollten unsere Impfstofffixierung abstreifen, und vielmehr beginnen, mit Corona zu leben. Denn vielleicht wird uns Corona nie mehr verlassen. 

Vielleicht müssen wir uns Corona weniger als Grippe, und eher als ein europäisches Malaria vorstellen. Gin Tonic schadet nicht, hilft aber auch nicht wirklich. Malaria als Muster, das hieße, dass es nie komplett verschwindet, und regelmäßig in bestimmten Regionen in Form von größeren Ausbrüchen wiederkehrt. Es kann überall sein, es gibt aber besonders malaria-gefährdete Regionen. 

Ein Gewöhnungseffekt wird eintreten. Von den Afrikanern können wir vor allem lernen, Corona mit ihren Begleiterscheidungen zu akzeptieren. Wenn es zu einem Malaria-Ausbruch kommt, dann werden etwa zehn Prozent der Menschen in der betroffenen Region sterben. Die Afrikaner akzeptieren das, und nehmen es vergleichsweise angstfrei und klaglos hin. Im Fall von Corona liegt die Sterberate weit niedriger, wir können also damit rechnen, dass ein derartiger Gewöhnungseffekt auch bei uns relativ bald eintreten wird. Das ist eine positive, weil tröstliche Nachricht. 

Auch an Aids und unsere Blindheit für das Symptom kann man hier erinnern. 

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Wer das nicht glauben will, dem empfehle ich das heutige Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, im Deutschlandfunk. Darin sagt er unter anderem: „Wir machen überall heute Urlaub mit Corona. […] Die Leute wollen ihr normales Leben wiederhaben. Das wird es aber in diesem Jahr nicht geben. wir sind andauernd drin in dieser Welle – wir haben die Pandemie noch nicht bewältigt. […] wir leben noch lange Jahre mit Corona.“

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Montgomery greift darin auch den vielgelobten deutschen Föderalismus an: „Wir haben den Menschen durch den Föderalismus, durch die völlig unterschiedlichen Regelungen, die wir haben, das Vertrauen genommen, dass die Regelungen streng, einheitlich und gleich gelten sollten. Jedes Bundesland macht was anderes; das geht nicht durch. […] die Regeln […] müssen bundeseinheitlich gleich sein. 

Das Virus kennt keinen Unterschied zwischen Sachsen und Berlin. Das Virus kennt keinen Unterschied zwischen Nordrhein-Westfalen und Holland zum Beispiel, sondern das schlägt da zu, wo es eine Chance bekommt. Deswegen hätten wir einheitliche Maskenregeln haben müssen. Wir hätten aber auch einheitliche Regelungen über die regionale Eindämmung haben müssen. Zum Beispiel die Frage bei Tönnies: Nur die Fleischproduktion, den ganzen Landkreis Gütersloh, oder das ganze Land Nordrhein-Westfalen? Das alles hätte vorher klar geregelt sein müssen. So enden wir im Chaos und im Chaos geht kein Bürger freundlich mit.“

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Die gesellschaftliche Empörungsmaschine läuft derweil weiter auf Hochtouren und findet immer neue Objekte: Jetzt sind es die deutschen Touristen. Ballermann ist sowieso das Feindbild des deutschen Bildungsbürgers, dafür braucht es gar kein Corona. Aber jetzt hat man wieder einen Grund, diese Leute zu hassen. 

„Sehr besorgt“ – so äußern sich jetzt die Politiker wie Jens Spahn, von dem man auch länger nichts gehört hat.

Worüber? Dass alle Malle-Ballermänner zurück nach Deutschland kommen. Wetten, dass bald irgendwer 14 Tage Quarantäne für Mallorca-Urlauber forder? Besser vier Wochen. 

Oder gleich ein Sonderlager für Ballermänner mit Vollpension und Animateuren als Wärter. 

Gibt es derartige moralisierende Debatten in anderen Ländern auch? Ernstgemeinte Frage.

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Erinnert ihr euch noch? Vor einigen Wochen habe ich euch den neuen Roman von Leif Randt mit dem Titel „Allegro Pastell“ zur Lektüre vorgeschlagen. Mitten in der Pandemie hat das recht gut gepasst, denn vielleicht war unser ganzes Lebensgefühl da Allegro Pastell. Was Leif Randt aber auch ist, ist ein Autor, der sich alternative Welten ausmalen kann, verschiedene Formen des Daseins und Lebens, und der sehr einfallsreich, aber komplett undogmatisch über Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit nachdenkt. Das zeigt sich ganz gut in dem Essay, den er vergangene Woche im Deutschlandfunk veröffentlicht hat. Der Essay ist Teil des „Projekt Weltverbesserung“, das sich mit dem Traum von einer besseren und gerechteren Welt beschäftigt. 

Genaugenommen ist der Essay ein (fiktives?) Interview mit den definitiv fiktiven „Infinite Data Studios“ aus Zürich, einer Agentur, die sich auf die Umsetzung von Utopien spezialisiert hat. Aber auf die Differenz Fiktion/Fakten kommt es hier gar nicht an. 

Die Musik ist spärlich, aber sehr schön, das Setting ziemlich lustig. Da wird dann nur ein bisschen drauflos gesponnen, und schon bricht er auf der Möglichkeitsraum des Daseins, dessen Wände schon mit Corona ein bisschen bröckelig geworden waren: Staatsbankrott Chinas im Jahr 2022. Zugleich die bekannte, für mich etwas öde Behauptung, dass „nur eine radikale Krise die Verhältnisse wirklich verändern kann…“ 

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„Beispiel A: Ein Freizeitschuh kostet 180 Euro, Dollar oder Franken. Das Tragen dieses Schuhs im urbanen Raum spielt pro Stunde aber 0,1 bis 10 Euro, Dollar oder Franken zurück auf das Konto der*des Träger*in – vorausgesetzt, die herstellende Firma hat sie*ihn beim Kauf als ‚repräsentativ‘ registriert. Besonders repräsentative Kund*innen können sich durch den Erwerb und das offensive Tragen neuer Schuhe also idealerweise etwas dazuverdienen.

Beispiel B: Ein Telefonat mit einem befreundeten Menschen, dem es seiner Selbstdefinition nach gerade schlecht geht, wird als Care-Arbeit gewertet und führt zu einer Überweisung seitens der Krankenkasse. Empathisches Verhalten lohnt sich jetzt auch finanziell.“

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Ein Begriff, der neuerdings boomt, ist der des „Asozialen“. „Asozial“ sind für besonders liebenswerte Zeitgenossen zum Beispiel Menschen, die irgendwo mal keine Maske aufhaben. Und zwar nicht nur die üblichen Pöbler auf „sozialen“ Netzwerken, sondern unsere lieben Qualitätsmedien. Der neue Boom dieses moralisch aufgeladenen, wertenden Begriffs des Asozialen hat Varianten. Die BILD-Zeitung, die bekanntlich mit Nazi-Hetze nicht das Geringste zu tun hat, schreibt darum auch feinsinnig „nicht sozial“, in ihrer Web-Zeile wird sie deutlicher: „https://www.bild.de/ … corona-wutkommentar-wer-keine-maske-traegt-verhaelt-sich-asozial-71839678“.

„Der Spiegel“ nimmt kein Blatt vor den ordentlich maskierten Mund: „Die [ist] Sache ganz einfach: Wer beim Einkaufen oder in der Bahn keine Maske trägt, handelt asozial“. 

Dumm nur, dass dieser Begriff auch mal wieder ein NS-Wort ist, erfunden von den Nazis, und dadurch munter in den deutschen Sprachschatz eingeschleppt, und seitdem nicht totzukriegen. Später dann auch in der DDR gut gebräuchlich für undogmatische Systemgegner, im Westen für Gammler, Hippies und Punks. Hautsache anders, als das große „Wir“. 

Also liebe Leser, wenn ihr morgen im Supermarkt wieder irgendwelche wildfremden Leute sekiert, wählt Eure Worte!

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Vor 100 Jahren wurde Hans Blumenberg geboren. Im Deutschlandfunk gibt es dazu auch ein ziemlich gutes, informatives Gespräch mit dem Theologen, Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Uwe Wolff. 

Wolff, der gerade das Buch „Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg“ (Claudius Verlag, München 2020, 16 Euro) veröffentlicht hat, erinnert im Gespräch mit Andreas Main an einen Menschen, der das Ganze des Menschen im Blick hat: „Wir fragen immer: Was bringt mir das und was muss ich wissen? Was ist wichtig, unwichtig? Hans Blumenberg war jemand mit einem ganz langen Atem, der gesagt hat: ,Setz dich mal hin. Komm mal zur Ruhe. Lies mal. Lies nicht nur die Bestseller, die du heute überall angezeigt findest, sondern lies die großen Bücher, in denen der Mensch seinem eigenen Wesen, dem Geheimnis seiner Existenz nachgegangen ist.‘ Deshalb muss man und darf man Hans Blumenberg lesen.“

Und am Ende des Gespräch fragt Main: „Herr Wolff, jetzt stelle ich Ihnen eine blöde Frage, eine ,Hätte-hätte-Frage’. Was hätte uns Blumenberg in Pandemie-Zeiten zu sagen? Was wäre sein Impuls in der Corona-Krise?

Wolff: Hans Blumenberg hat ja ein letztes Wort hinterlassen, und zwar in Form einer Briefmarke des Kardinals von Galen. Und der Spruch des Kardinals von Galen – Blumenberg war 1930 dabei, als Kardinal von Galen in Münster Bischof wurde – der Spruch des Kardinals von Galen lautet ja auf Latein: Nec laudbus nec timore. Weder durch Lob noch durch Angst, durch Furcht lasse ich mich irritieren. Und das wäre die Botschaft von Hans Blumenberg für diese Corona-Zeit: Seid vorsichtig. Seid nicht leichtsinnig, aber seid nicht zu optimistisch, seid auch nicht zu ängstlich. Lasst euch nicht irritieren, sondern geht euren Weg. Versteckt euch nicht. Versteckt euch nicht hinter eurer Angst, sondern geht euren Weg.

Das ist, glaube ich, das Zentrale für Blumenberg überhaupt, dieses Den-eigenen-Weg-gehen, die eigene Berufung spüren, das machen, was in uns angelegt ist.“

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Gerne wird über Langzeitfolgen bei Corona gesprochen. Als Langzeitfolgen gelten alle Folgen, die länger als 30 Tage anhalten. Vielleicht ist das zwar eine nicht besonders lange Langzeit, aber immerhin. Die häufigsten Beschwerden sind Erschöpfung, Kopfschmerzen, Atembeschwerden. Tja, so etwas habe ich manchmal auch ganz ohne Corona. Oder hatte ich es vielleicht einfach schon vor fünf Jahren?

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„Dieses Paar aus Düsseldorf hat immer so angesetzt, dass sie gesagt haben, was alles nicht geht. Was sie nicht gut finden, was schon immer schlecht war, und was gerade besonders problematisch ist. Die waren superkritisch, und auf ihre Art konnten die das auch sehr gut, die hatten so eine enorme Routine im Kritisieren. Wir haben das nach dem dritten Treffen so interpretiert, dass deren Utopie eigentlich das Leben in einem sehr restriktiven Staat wäre, in dem sie als respektiertes Künstlerpaar aber eine kritische Zelle bilden dürften. Die wünschten sich eine Welt, in der zwar Frieden herrscht, sie aber trotzdem viel Grund zur Klage haben. Und diese Welt haben wir ihnen dann entworfen: Frieden, ein autoritäres Regime, darin aber viel subkulturelle Anerkennung für unser Düsseldorfer Duo der Kritik … Die haben darauf ziemlich sauer reagiert. Die glaubten, die Infinite-Data-Studios wollten sich über sie lustig machen, nur weil sie eben keine so ‚penetranten Optimisten‘ seien wie wir. Dabei fanden wir es voll legitim, wenn man sich ein Leben wünscht, in dem man richtig Grund hat, sich zu ärgern und alles tiefgreifend zu kritisieren. Wir haben dann auch nicht lange gestritten, sondern unser Angebot zurückgezogen.“

Sander Böhm, Infinite-Data-Studios

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Für NTV hat Frauke Niemeyer ein Interview mit dem Soziologen Armin Nassehi geführt. Nassehi lehrt in München und ist Schalke-Fan, es lohnt sich immer ihm zuzuhören, weil er Selbstverständlichkeiten hervorragend ausdrücken kann und in einer Weise formuliert, wie man es noch nicht gehört hat. Zugleich gehört er in seiner Zunft eher zu den Langweilern, weil er ein konsequenter Verteidiger des Bestehenden ist – das ist mit allem Respekt gesagt, denn das muss man auch erstmal hinkriegen. Zumal angesichts dessen, was tatsächlich besteht. 

Nassehi ist intelligent, aber nicht originell, bzw. besitzt er eine Originalität, die im Sagen des Erwartbaren liegt, und dann deswegen implizit als originell behauptet wird, weil Kritik am Bestehenden angeblich Mainstream ist. Ein bekannter Kniff aller Konservativen.

Der Text trägt die Überschrift „Radikal richtig gemacht“. Das entscheidende Wort hierbei ist natürlich „radikal“. Hauptsache radikal – die Deutschen wollen gerne radikal sein, auch im richtig-machen. Vielleicht würde es genügen, etwas richtig zu machen, ohne radikal zu sein. Vielleicht läge das richtig-machen gerade darin, nicht radikal zu sein? Jetzt sagen sicher wieder manche, kritisieren ist leicht, wie wollen wir es denn besser machen? 

Aber das kann über drei Monate nach Beginn der sogenannten Pandemie-Eindämmungs-Maßnahmen nicht wirklich die ewige Leier ihre Verteidiger sein. Denn es gibt genug Vorschläge, die Dinge anders und richtiger oder besser zu machen. 

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Nassehi, wie gesagt, drückt Banales auf elegante Weise aus: „Im modernen Alltag treffen wir auf viele Personen, können an vielen Stellen der Gesellschaft andocken. Dabei kommt innerhalb der Familie die Freude über die Anlässe, zu denen man sich intensiv erlebt, ja auch dadurch zustande, dass man zwischendurch viel Zeit woanders und mit anderen verbringt.“

Sein Clou ist, dann aber eine scheinbar entgegengesetzte These von die Bedeutung des Bedeutungslosen zu formulieren: „Von der Supermarktkassiererin möchte ich wissen, wie teuer mein Einkauf ist. Dem Taxifahrer sage ich, wo ich hin möchte, aber nicht, warum. Wir leben in einer Gesellschaft, die im Alltag gut damit fährt, dass wir uns gegenseitig für irrelevant halten. Aber nun haben wir gemerkt, wie relevant diese irrelevanten Kontakte für uns sind.“

So etwas schrieb zwar schon Georg Simmel vor über 100 Jahren, aber falsch wird es dadurch nicht. 

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Peter Grundmann ist ein Architekt, der mehr baut als Gebäude. Er baut auch Ideen, theoretische Geräte und gedankliche Werkzeuge, und sie alle eint das Ziel, die bestehende Welt aus den Angeln zu heben. 

Höchst bedauerlich, dass Filme, aus Deutschland und oft genug anderen europäischen Ländern, nicht mal zehn Prozent des intellektuellen Niveaus haben, dass man in zeitgenössischer Architektur wie dieser findet. Oder könnte man sich von Martin Moszkowicz, Stefan Arndt, einem Bora Dagtekin oder selbst Florian Henckell von Donnersmarck Sätze und Gedanken vorstellen wie die, die Grundmann in diesem Interview im doppelten Dutzend produziert. Dass allein die Vorstellung einen Lachen lässt, sagt alles über den Zustand unserer Branche. 

Und behaupte bitte keiner, dass das eine nichts mit dem Anderen zu tun hätte, dass Filmemacher nicht intelligent und intellektuell sein müssten. Ein Ernst Lubitsch, ein Billie Wilder, ein Fritz Lang waren ein anders geistiges Kaliber. So wie es jetzt Christopher Nolan oder Celine Sciamma oder Rebecca Zlotowski oder Denis Villeneuve sind. Nur nicht in Deutschland. 

Fritz Lang war sogar ausgebildeter Architekt. Wie Siegfried Kracauer. 

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