Gedanken in der Pandemie 58: Politik kannibalisiert die Wirtschaft und umgekehrt

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Europas Kulturzeitschrift „Lettre International“ widmet sich zum neuen Quartal der Pandemie und der Politik | Cover (Ausschnitt) © Lettre International, Didier William

Corona-Idyllen und Utopien allerorten: Back in the USSR – Apokalyptiker & Integrierte; Gedanken in der Pandemie 58.

„Ich habe einen Sinn für das Romanhafte. Aber daraus ergibt sich eine Mischung aus Strenge der Narration und einer gewissen Freiheit der Schreibweise in den einzelnen Szenen. Wenn ich anfange zu schreiben, weiss ich sehr wohl, wohin es geht, aber nicht unbedingt im Sinne des Plots, sondern im Sinne der Emotionen, zu denen der Film tendiert. Alles hängt an einem einzigen Gefühl.“
Mia Hansen-Løve, im Gespräch mit „Revolver“, Heft 24/2012

 

Langsam lichtet sich der Nebel, und über der Corona-Morgenröte wird der Horizont der neuen alten Welt sichtbar. 

Wir beginnen, über den Tag hinaus zu denken, zu analysieren, was bleibt, was geht und was kommt. Utopien allerorten, zumindest im neuen „Lettre International“.

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„Lettre International“ gibt es seit 1988 auf Deutsch, in Frankreich bereits seit 1984. So sehr diese vierteljährlich erscheinende, ziemlich unvergleichliche Zeitschrift eine Institution ist, so sehr leidet auch sie unter den neuesten Formveränderungen unserer Kommunikations-, Informations- und Denkgewohnheiten. Krisenbedingt drohen mit den Zeitungen und Zeitschriften auf der Kippe, substantielle Elementarstrukturen einer kritischen und schöpferischen Öffentlichkeit beschädigt zu werden oder gar in ihrer Existenz gefährdet zu werden. Worin die unvergleichliche Funktion der unabhängigen Printmedien besteht, davon kann man sich im neuesten „Lettre“-Heft (#129) überzeugen, das jetzt erhältlich ist. 

Das Heft versucht eine Spektralanalyse der Corona-Krise. Nochmal zur Erinnerung: SarS-CoV-2 ist das Virus, Covid-19 ist die Krankheit, Corona ist der gesellschaftliche Zustand. 

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Man kann nicht viel online lesen. Auch hier liegt die (bislang schlecht belegte) Behauptung zugrunde, die Gesellschaft werde nach dieser einschneidenden globalen Krise nicht mehr dieselbe sein. Der Philosoph Boris Groys glaubt an eine kommende „Deglobalisierung“.

Seine flotteste These ist aber, vom Virus als „Kulturideal“ zu reden. Das Corona-Virus konfrontierte unsere heutige medialisierte Kultur, die in der Massenverbreitung ihr einziges Ziel hat, mit ihrem eigentlichen Ideal: der Verbreitung ohne Anstrengung, des medialen Erfolgs ohne finanzielle Investitionen – einer Utopie, die im Prinzip eine sowjetische ist und aus der Avantgarde der 1920er Jahre stammt. Womit Groys sein Leib- und Magen-Thema erreicht hat: Alles sei Sowjetunion. 

Wenn Wirtschaft und Medien im Modus der Infektion funktionieren, verkörpert der Staat das Immunsystem. Der moderne Staat sorgt sich in erster Linie um die Stabilisierung der Zahl seiner Bevölkerung und ihrer Gesundheit, verstanden als statistische Größe. Das Coronavirus hat die innere Affinität der globalen Wirtschaft zu globalen Pandemien offengelegt – und die Staaten haben als Reaktion darauf ihre Immunsysteme mobilisiert. Denn die Bevölkerung vor der Infektion zu schützen, bedeutet, sie zu isolieren, Grenzen zu schließen, Kontrollen zu verstärken. Damit treffen die biopolitischen Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen die globalisierte Wirtschaft weitaus härter als das Coronavirus. Politik kannibalisiert die Wirtschaft und umgekehrt. Wer wird siegen?

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Erlebten wir in den letzten Wochen überhaupt einen Ausnahmezustand oder nur einen Moment der Ausnahme? 

Für den Psychoanalytiker Sergio Benvenuto ist die Ausnahme eine Therapie. Wer es, wie er, tagtäglich mit Leuten zu tun hat, die auf den Normalzustand mit schwerste Phobien und Zwangstörungen reagieren, mit Psychotiker, Koprolaliern, Tourettianern und Stotterern (ihr merkt: ich habe neue schöne Wörter gelernt), für den sind Isolation und sogenannter Ausnahmezustand eine wunderbare Erleichterung, und unter Umständen sogar eine heilsame Medizin. Die „Irren“ (man verzeihe mir diese altmodische Verallgemeinerung) scheinen zum Teil besser als normale Menschen dafür gerüstet zu sein, Quarantäne und Isolierung zu begegnen. 

Vielleicht klingt das alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein, aber ich möchte kein Spiel verderben. 

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Eine andere Art von Corona-Idylle skizziert der Pariser Jurist Antoine Garapon. Er sieht in der Außerkraftsetzung des Normalzustands etwas komplett anderes: Der „Gesundheitsnotstand  […] stellt eine Suspendierung der für jeden einzelnen Bereich von Politik, Ökonomie oder Geopolitik eigenen Legalität“ dar. „Die drei Befreiungen von den elementaren Regeln  […] dienen letztlich den Endzielen dieser drei Sphären. Der Staat suspendiert die Referenz auf das Recht des politischen Vertrags zwischen ihm und den Bürgern, um ihn in gewisser Weise besser einzuhalten, um das Leben der Bürger besser zu schützen; auf ökonomischer Ebene öffnet er die Tresore der Staatskasse, um das Werkzeug namens Wirtschaft zu retten; auf geopolitischer Ebene schließt er die Grenzen, um Europa auf soliderer Grundlage wieder neuen Schwung zu verleihen.“ 

Wenn das mal alles wirklich so läuft … Aber interessant ist diese bemerkenswerte Utopie einer Rückkehr zur Politik aus neoliberaler Entpolitisierung allemal. 

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Der australische Philosoph John Keane sieht in diesen staatlichen Anti-Corona-Strategien eher Muster zukünftigen Regierens. In einer Welt, in der die Gesellschaften das Überleben zum höchsten Gut erheben, könnte ein Ausnahme-Despotismus – versiert darin, die Kunst der freiwilligen Knechtschaft mit Hilfe von „Sozialkredit-Programmen“ – formell demokratische Systeme ersetzen.

Utopie als Dystopie.

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Heinz-Norbert Jocks und Niklas Maak debattieren in einem ideensprühenden Dialog über die urbane Grammatik der Zukunft: War das planerische Ideal des 20. Jahrhunderts die autogerechte Stadt, ist das im 21. Jahrhundert die „datengerechte Stadt“, eine Mischung aus Entertainment und Überwachung.. Mit dem home-office-Kult beginnt die Vertreibung der Arbeit aus der Stadt, nachdem in den ersten zwei Jahrzehnten des neuen Jahrtausends schon die innenstädtischen Kaufhäuser und Einkaufszentren geleert und durch ein paar Event-Malls und Online-Warenhäuser ersetzt wurden. Man bewegt sich nur noch in emissionsfreien Roboterfahrzeugen, aus urbanen Zentren werden begehbare Anlagedepots, das Wohnen wird zum Luxus in hochgesicherten „Quartieren“ in historischen Zombie-Kulissen. Die Konzipierung der Zentren als scheinidyllische Museumslandschaft für Touristen und Eliten treibt der Stadt ihr buntes Leben aus. Die Folge ist eine ästhetische und soziale Verwahrlosung, ein architektonischer Absturz in die industriedesignte Gleichförmigkeit. Die Gestaltung von Freiräumen durch heiteres „City Improvement“ in der „Smart City“ – der letzten Geschäftsidee unseres maroden Spätkapitalismus. 

Das Unbehagen an der Stadt wächst auch, weil die elektronische Vernetzung der Stadt genau das austreibt, was Jahrhunderte ihren Reiz ausmachte: Die Freiheit zur und durch Anonymität. 

Utopie wird Dystopie II.

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Eine rückwärtsgewandte Utopie entwirft der New Yorker Kunstkritiker Jerry Saltz: „Ich bin ein Überzeugungstäter aus einer vergangenen Welt. Aufgewachsen in  […] einer bescheideneren, weniger professionellen, noch nicht geldorientierten Kunstwelt, wo steile Karrieren, Verkaufsstrategien, Kunstmessen, Sammlergetümmel und internationale Auktionen eher selten waren. Damals ging es um die Leidenschaft von Ruhelosen, Visionären, Genies, Herumtreibern, Exilierten, halben Outlaws, aristokratischen Bohemiens. Es war eine andere Kunstwelt als die heutige mit ihrer berechnenden, hyperaktiven, geldgeilen Atmosphäre, fixiert auf obszöne Unsummen  […] Es war die Welt, bevor die Gier Form und Norm wurde.“ Nun könnte die Kunst sich neu erfinden: Voller Exzentrizität, Risikobereitschaft, Obsession und Sehnsucht. 

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Zu Beginn des „Lettre“-Hefts steht aber etwas ganz anderes: „War das der Sommer 44? wollte ich wissen. Ja, der heiße Sommer 44, antwortete meine Mutter, rollte zum Klavier und berührte die Tasten. Es war der Sommer, in dem dein Vater umkam, am Pruth, an der Grenze Rußlands zu Rumänien, damals. Du weißt ja, seine Einheit ist spurlos verschwunden, die ganze Kompanie, dein Vater auch. Mutter spielte einige Töne, das Klavier klang verstimmt. Sie fuhr fort, plötzlich leise: Ich war ja bei der Operette, an der Flora in Hamburg, als Sängerin, die Theater wurden geschlossen, unser Haus war inzwischen ausgebombt, ich wurde zwangsverpflichtet zu den Hermann-Göring-Werken, als Schreibkraft, das waren die ehemaligen Wittgensteinschen Rüstungsbetriebe, die arbeiteten mit KZ-Häftlingen aus Mauthausen. Sie schwieg, fuhr dann flüsternd fort, als dürfe sie auch jetzt nicht davon reden: Damals erfuhr ich zum ersten Mal von der Existenz solcher Lager  […] Wer war der Mann, der uns damals begleitete? Mutter spielte eine Melodie, ich glaube aus Land des Lächelns, klappte den Klavierdeckel zu. Singst du noch? Nein, meine Stimme klingt nicht mehr, ist wie zerbrochenes Glas …“

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Noch besser hätten Erinnerungen an jenen anderen Sommer gepasst, 1940, Frankreich, der Beginn von Besatzung, Kollaboration und Resistance. Gestern vor 80 Jahren fand Hitlers berühmter Besuch in Paris statt: Kurz nach Morgengrauen, um 5.30 Uhr landete die Maschine, drei Stunden später, war alles vorbei. Als ob man das Tageslicht scheute. Die Aufnahmen sind faszinierend und gespenstisch – und leider nur rudimentär im Netz. Trocadero, Weltausstellungsgelände, und ein Besuch im Invalidendom, bei Napoleons Grab. Es war Hitlers einziger Besuch in Frankreichs Hauptstadt. Göring kam öfters. 

Die Franzosen gedenken des Zusammenbruchs der III. Republik und des Beginns der übelsten Periode ihrer Geschichte. Kanal „5“ bot am Sonntag ein Beispiel für bestes öffentlich-rechtliches Fernsehen: Zur Prime Time ein Dokumentarfilm über De Gaulle, dann ein 90-Minüter „Collaborations“ (hier auf Youtube) – in Stil und Machart, in Informationsdichte und -niveau unendlich viel besser, als alles Vergleichbare im deutschen Fernsehen. Und mit einem tollen Text von literarischer Qualität – wer Französisch ein bisschen versteht, wird hier seine Freude haben. 

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Hitler ist einem Sieg im Zweiten Weltkrieg nie wieder so nahe gekommen wie Ende Mai 1940. Es lohnt daher auch der Blick auf Großbritannien um die gleiche Zeit: Als sich Ende Mai 1940, nach dem raschen Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Westfeldzug, der Zusammenbruch der Niederlande, Belgiens und Frankreichs abzeichnete, brachte der britische Außenminister und oberste Vertreter der eigentlich längst gescheiterten, schmählichen Appeasement-Konservativen, Lord Halifax, die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens mit Nazi-Deutschland ins Spiel. Er glaubte, durch die Vermittlung Mussolinis sei eine Einigung mit Hitler möglich, die diesem zwar die Herrschaft über Westeuropa, dem Empire aber seine Unabhängigkeit und Unversehrtheit lassen würde. Man debattierte das ernsthaft. 

Der neue Premierminister Churchill, bei seiner eigenen Partei verhasst und nur dank der Opposition und des Scheiterns der Tory-Mehrheit im Amt, hielt schon die Andeutung von Verhandlungsbereitschaft gegenüber Hitler für einen großen Fehler, da dies die Schwäche der eigenen Position offensichtlich machen müsse. Er forderte, möglichst große Truppenteile aus Frankreich zu evakuieren. Dass Churchill sich mit dieser kompromisslosen Haltung schließlich gegen Halifax durchsetzte, bewertet der Historiker John Lukacs („The Duel“; „Five Days in London“) als entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg. 

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Albert Camus’ Roman „Die Pest“ von 1947 ist eine Allegorie auf die Besatzung, und zugleich eine dichte Beschreibung unserer Corona-Gegenwart: Es verhungern die Menschen. Profiteure machen sich die Knappheit zunutze, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Camus klagt das Unrecht an, und ruft zur Revolte auf: Die Pest (wie Corona) als Chance auf eine gerechtere Welt. 

„Die Pest“ fand bei Erscheinen gleich reißenden Absatz. Dass der Roman als Allegorie auf den Widerstandskampf gelesen wurde, war für ein Land, das die Schande der Kollaboration vergessen wollte, zugleich Hauptattraktion und Anlass heftiger Kritik. Simone de Beauvoir empfand das Buch als Ausflucht, da es dem Leser erlaube, die Schmach von Vichy zu verdrängen. Camus musste sich den Vorwurf gefallen lassen, er enthebe, indem er den Roman nur als ein weiteres Kapitel im ewigen moralischen Kampf gegen das Böse inszeniere, seine Geschichte vollends der Historie. Sehe man den Faschismus als Plage der Natur, sei niemand verantwortlich. „Nur zeigt das Böse manchmal ein menschliches Antlitz“, schrieb Roland Barthes in seiner zweiten Besprechung des Romans 1955, „aber dieses sagt ,Die Pest’ nicht.“ Camus fühlte sich falsch gelesen. Der Roman, schlug er vor, könne auf drei verschiedene Weisen verstanden werden: Als Bericht einer Epidemie; als symbolische Darstellung der Nazi-Besetzung; oder als Erkundung der metaphysischen Frage nach dem Bösen, wie sie Melville in seinem „Moby Dick“ unternommen habe. 

Wir alle sind selbst für das Übel der Welt verantwortlich. Es geht immer ums Ganze.

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